Warum Fehler kein Anlass für Misstrauen sind

Angesichts der Panne beim Bundesamt für Statistik, die zur Kommunikation falscher Wahlergebnisse führte, fragt sich unser Philosophie-Kolumnist, wie wir mit Fehlern in einer Demokratie umgehen sollten.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Die Wahlen sind vorbei. Die vielen bunten Plakate mit den digital bearbeiteten, immer gleich lächelnden Gesichtern sind verschwunden, gerade noch rechtzeitig, um die herbstliche Farbenpracht nicht zu stören. Ab und zu rede ich mit Bekannten über die Wahlergebnisse, aber wie immer werden diese Gespräche mit der Zeit seltener. Der politische Alltag hält Einzug. 

Eine Sache beschäftigt mich nach zwei Wochen allerdings immer noch – der Fehler des Bundesamts für Statistik (BFS) bei der Berechnung der aggregierten nationalen Parteistärken, der dazu geführt hat, dass der Bund am Wahlsonntag zunächst falsche Ergebnisse kommuniziert hat, die drei Tage später korrigiert werden mussten.

Die Mitteilung des Fehlers hat zu einem Aufschrei der Empörung geführt. Es tauchte schnell die Frage nach «den Schuldigen» auf. Kommentator*innen forderten Konsequenzen. Es wurde gar davon gesprochen, dass die Panne eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Ich habe diese entrüsteten Stimmen immer noch im Ohr, und mit zwei Wochen Abstand muss ich sagen, dass sie mir bedenklicher vorkommen als der eigentliche Fehler beim BFS.

Ein gravierender Fehler

Eines vorweg: Wahlen sind ein zentraler Aspekt unserer Demokratie. Wir sollten alles, was damit zusammenhängt, mit grosser Ernsthaftigkeit behandeln. Die Panne des BFS ist nicht ohne politische Konsequenzen geblieben. Man mag sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Abweichungen vom eigentlichen Resultat dramatischer gewesen wären. In dieser Hinsicht gibt es daran also nichts schönzureden. Wir brauchen Wahlergebnisse, die zeitnah, aber auch zuverlässig kommuniziert werden. Die Auswertungspanne kann man nicht als Lappalie abtun. Es war ein gravierender Fehler.

Und dennoch scheint mir der Tenor der kritischen Reaktionen auf den Vorfall ziemlich übertrieben. Das hat hauptsächlich damit zu tun, dass ihnen ein fehlgeleitetes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Vertrauen und Demokratie zu Grunde liegt. 

Eine der zentralen Einsichten der philosophischen Vertrauensforschung ist, dass Vertrauen vom blossen Sich-Verlassen unterschieden werden muss. Wir verlassen uns in vielfacher Hinsicht auf Dinge, ohne dass dies gleichbedeutend damit wäre, dass wir ihnen vertrauen: Wenn ich über einen Holzsteg laufe, dann verlasse ich mich darauf, dass die Balken mein Gewicht aushalten werden. Auch wenn wir vielleicht manchmal so reden, wäre es falsch im eigentlichen Sinne zu behaupten, dass man in solchen Fällen dem Holzsteg vertraut.

Wie wir uns auf Dinge verlassen

Wenn wir uns auf etwas verlassen, sind wir in einer guten Position, uns Gedanken darüber zu machen, ob wir uns auch wirklich auf das betreffende Ding verlassen sollten. Ich kann den Holzsteg genauer unter die Lupe nehmen und vorsichtig einige Stellen betasten, bevor ich mich daran mache, ihn zu überqueren. Wir sind zudem in der Lage, die Dinge, auf die wir uns verlassen wollen, so zu verändern, zu modifizieren oder zu manipulieren, dass wir uns auch tatsächlich auf sie verlassen können. Sollte ich feststellen, dass einige Balken des Holzstegs etwas morsch aussehen, kann ich sie durch neue ersetzen oder gleich einen neuen Steg bauen.

Mit Vertrauen verhält es sich anders. Wir vertrauen nicht, weil wir eine Person einer besonderen Überprüfung unterzogen haben. Wir tun es vielmehr, weil wir in einer bestimmten Beziehung zu ihr stehen – weil sie uns etwas versprochen hat, weil wir eine Geschichte miteinander teilen oder weil wir befreundet sind. Vertrauen geht deshalb mit einem bestimmten moralischen Anspruch einher, den blosses Verlassen nicht hat.

Emotional aufgeladene Vertrauensbrüche

Das sieht man insbesondere an den tiefen emotionalen Reaktionen, die wir an den Tag legen können, wenn unser Vertrauen gebrochen wird. Hält eine Freundin ein Versprechen nicht, können wir ihr Vorwürfe machen, entrüstet sein, vielleicht sogar die Freundschaft kündigen. 

Das alles wäre seltsam angesichts eines Holzstegs, der zu morsch war, um unser Gewicht zu halten. Auch können wir nicht auf dieselbe Weise dafür sorgen, dass wir vertrauen können, wie wir Verlässlichkeit herstellen können: Ich weiss einigermassen gut, was ich machen müsste, um einen Holzsteg zu reparieren, aber ich fühle mich immer wieder etwas überfordert, wenn man mich fragt, wie man Vertrauen herstellt oder verlorenes Vertrauen wiedergewinnt.

Entscheidend ist nun, dass wir uns manchmal auch auf Menschen oder Institutionen verlassen können, ohne dass wir ihnen vertrauen. Daran ist nichts schlimm, es ist einfach unvermeidlich. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es um die Einschätzung der Kompetenzen und Fähigkeiten von Personen geht. Es hat nichts mit Vertrauen zu tun, wenn ich mich darauf verlasse, dass eine Busfahrerin keinen Unfall bauen oder ein Pizzabäcker eine leckere Pizza backen wird. 

Ähnlich wie im Fall des Holzstegs können wir hier im Vorfeld einer Entscheidung kritische Erkundigungen anstellen und Mechanismen schaffen, die für Verlässlichkeit sorgen. Regelmässige Kontrollen von Busfahrer*innen oder Pizza-Reviews im Internet sind etwa Massnahmen, mit denen wir die in Frage stehenden Kompetenzen steigern können.

Sollte uns eine Pizza in einem Restaurant nicht schmecken, dann handelt es sich dabei also nicht um einen Vertrauensbruch, sondern um eine Situation, in der wir uns auf etwas irrtümlicherweise verlassen haben. Wir können dem Pizzabäcker immer noch Vorwürfe machen oder unser Geld zurückverlangen, aber diese Reaktionen sollten weder moralisch noch emotional so aufgeladen sein wie die Reaktionen, die wir bei Vertrauensbrüchen an den Tag legen. 

Das wäre nur in einem Fall anders: Wenn der Pizzabäcker ganz genau gewusst hätte, dass seine Pizza nichts taugt und uns vom Gegenteil zu überzeugen versucht hätte, um einen eigenen Vorteil aus der Situation zu schlagen. Dann wäre das Ganze nämlich Betrug, und der stellt immer einen Vertrauensbruch dar.

Die Datenpanne war kein Vertrauensbruch

Die Datenpanne beim BFS lässt sich analog verstehen. Wir haben uns bezüglich der Wahlstimmenauswertung auf das BFS verlassen und sind enttäuscht worden. Auch hier können wir Vorwürfe machen und Verbesserung anmahnen. Aber wir haben keinen Anlass so zu reagieren, als sei unser Vertrauen enttäuscht worden. Wenn Personen einen Fehler machen, ist das kein Grund zum Misstrauen. Es ist ja nicht so, als hätte uns das BFS absichtlich in die Irre führen wollen. Mir zumindest ist nicht klar, wer eigentlich von dem zwei Tage währenden Zustand der Fehlinformation hätte profitieren sollen.

Mehr noch, wir sollten in diesem Kontext kein Vertrauen anstreben, sondern uns um Verlässlichkeit bemühen. Es ist eine Binsenweisheit, dass Demokratie Vertrauen braucht. Aber das bedeutet nicht, dass wir alles in einer Demokratie zu einer Frage des Vertrauens machen sollten. Man könnte sogar sagen, dass die Auswertung von Wahlergebnissen viel zu wichtig für unsere Demokratie ist, um lediglich darauf zu vertrauen, dass die Wahlergebnisse stimmen. In solchen offiziellen Kontexten ist Vertrauen eine zu fragile Einstellung. 

Populistische Vertrauensnarrative

In dieser Hinsicht sind sowohl die reflexartigen Forderungen nach personellen Konsequenzen als auch Unkenrufe, die den Untergang der Demokratie beschwören, nur bedingt hilfreich. Sie könnten sogar als ein Teil des Problems betrachtet werden, weil sie den falschen Eindruck erwecken, bei der Datenpanne gehe es um eine Frage des Vertrauens. 

Die wahre Gefahr für die Demokratie weltweit scheint mir eher daher zu rühren, dass man leichtfertig die Perspektive des Vertrauens und die damit direkt verwandte Einstellung des Misstrauens einnimmt. 

Genau das spielt nämlich den verschiedenen rechtspopulistischen Bewegungen in die Hände, die seit einigen Jahren weltweit immer mehr politischen Einfluss gewonnen haben. Es sind solche populistische Politiker*innen, die alles zu einer Frage des Vertrauens machen wollen. Sie verfolgen dabei das doppelte Ziel, den politischen Diskurs zu emotionalisieren und zu polarisieren. Das geht wunderbar, wenn man überall Vertrauensbrüche anmahnt, um Misstrauen in die etablierten demokratischen Parteien und die über Jahrzehnte aufgebauten Mechanismen der demokratischen Entscheidungsfindung zu erzeugen. 

Dagegen sollten wir uns wehren. Unsere Demokratie ist viel zu stark, um von einer Datenpanne ins Wanken gebracht zu werden. Bürger*innen, deren Vertrauen in die Demokratie durch einen Datenfehler erschüttert wird, sollten wir klarmachen, dass Vertrauen und Misstrauen hier fehl am Platz sind. Und dass wir stattdessen über das Sicherstellen von Verlässlichkeit reden sollten – aber eben auf sachliche Weise. Fehler passieren. Wir sollten sie vermeiden. Aber in einer Demokratie muss es darum gehen, auf vernünftige Weise mit ihnen umzugehen.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

tracking pixel

Diskussion

Unsere Etikette
Christian Heimann
16. November 2023 um 08:30

Danke Christian, das sind sehr treffende Worte! Mir hatten die gefehlt um die Diskussionen zu versachlichen; jetzt gibst du damit allen sogar noch ein gutes Sinnbild mit!