Demokratie und Bullshit

Angesichts der anstehenden Parlamentswahlen denkt unser Philosophie-Kolumnist darüber nach, was Bullshit ist. Und warum er Demokratien gefährdet.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Vor drei Monaten ist der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt gestorben. Die Nachricht seines Todes hat mich sehr traurig gemacht, obwohl ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Frankfurt hat seit den 1970er Jahren eine Reihe bahnbrechender Aufsätze zur Philosophie von Descartes und zu Themen der Autonomie und Willensfreiheit veröffentlicht. Seine Texte lesen sich nicht wie die typischen Fachartikel. Sie haben oft eine ungewöhnliche Struktur. Frankfurt ist interessiert an Phänomenen wie Ambivalenz, Abhängigkeit oder Liebe. Es wird sparsam mit Namen, Literaturverweisen und Theorielabels umgegangen. Manchmal taucht ein Satz auf, der beinahe poetisch klingt.

Ohne den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität aufzugeben und stets um Klarheit bemüht, sind die Texte zudem immer auf eine subtile Weise persönlich. Die Beobachtungen, die Frankfurt darin macht, die Beispiele, die er diskutiert, zeugen davon, dass ihm die Themen seiner philosophischen Arbeit immer sehr nahe waren. Auf mich hat er dadurch immer wie das Gegenteil eines akademischen Karrieristen gewirkt.

Ein philosophisch interessanter Fäkalausdruck

Besondere Aufmerksamkeit hat Frankfurt durch einen Aufsatz erlangt, in dem er einen ganz besonderen Begriff untersucht und philosophisch salonfähig macht – den Begriff des Bullshits. Es gibt meines Wissens keine geeignete Übersetzung für das englischsprachige Fäkalwort. Der Begriff, den dieses Wort bezeichnet, hat aber weltweit in politischen Kontexten seit einiger Zeit neue Brisanz erlangt. Bullshit und Demokratie stehen in einer speziellen, man könnte auch sagen grundlegenden Spannung zueinander. Und weil am Sonntag in der Schweiz gewählt wird, lohnt es sich gerade in diesen Tagen, einen Blick auf dieses Spannungsverhältnis zu werfen.

Was ist Bullshit also? In einer ersten Annäherung kann man sagen, dass Bullshitter*innen Dinge sagen, die sie nicht ernst meinen. Sie stehen nicht hinter dem, was sie sagen, sondern sagen es einfach so vor sich hin. Das muss nicht immer problematisch sein. Es gibt auch harmloses Bullshitten.

Ich erinnere mich daran, wie ich im Alter von zwölf oder dreizehn mit Schulfreunden montags übers Wochenende geredet habe. Meist gab es nicht viel zu besprechen. Aber obwohl (oder gerade weil) unsere Wochenenden stinklangweilig waren, haben wir uns manchmal die aufregendsten Dinge ausgedacht, uns in unseren abstrusen Geschichten immer weiter zu überbieten versucht und dabei gelacht wie die Irren. Niemand von uns hat wirklich geglaubt, dass Deniz im Auto seines Onkels alleine nach Hamburg und zurück gefahren war.

Die ansonsten gültige Konvention, nach der wir zu Wahrhaftigkeit verpflichtet sind, war in diesem speziellen Schulpausenkontext ausser Kraft gesetzt. Genau deshalb war unser Bullshitten harmlos. Manche würde sagen, wir waren deshalb keine echten Bullshitter.

Problematisches Bullshitten

Bullshitten fängt dann an, ein Problem zu werden, wenn es in Zusammenhängen praktiziert wird, in denen die Wahrhaftigkeitskonvention weder explizit noch implizit aufgehoben ist. In Zusammenhängen also, in denen wir davon ausgehen, dass unsere Gesprächspartner*innen uns die Wahrheit sagen. Ein Bullshitter macht dann etwas, das ähnlich ist wie das, was eine Lügnerin tut. Und doch bestehen zwischen Lügen und Bullshitten entscheidende Unterschiede. Will man Bullshit verstehen, ist der Unterschied zur Lüge zentral.

Die Lügnerin macht gemäss der Standarddefinition der Lüge eine sprachliche Äusserung, die an eine bestimmte Person gerichtet ist mit der Absicht, diese Person etwas glauben zu lassen, was sie selbst für falsch hält. Sie möchte ihre Gesprächspartner*innen täuschen, indem sie sie dazu bringt, Dinge zu glauben, von denen sie denkt, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Beim Bullshitter stehen die Dinge anders. Er hat nicht die Absicht, seine Gesprächspartner*innen zu einem Irrglauben zu verleiten. Aber indem er etwas sagt, kümmert er sich nicht darum, ob das, was er sagt, auch tatsächlich der Wahrheit entspricht.

Der Unterschied zwischen Lüge und Bullshit

Das ist ein zunächst kaum merklicher, aber doch entscheidender Unterschied. In beiden Fällen kann es sein, dass die Adressat*innen einer Äusserung eine falsche Überzeugung erlangt. Aber während dies im Fall der Lügnerin einer erfolgreichen Täuschungsstrategie geschuldet ist, hat der Bullshitter dieses Ergebnis gewissermassen zufällig erreicht. Um jemanden erfolgreich anlügen zu können, muss man wissen, was wahr ist. Dem Bullshitter ist das egal. Ihm ist die Wahrheit egal. Er behauptet Dinge einfach, weil er damit andere Zwecke verfolgt. 

Wenn es in der Werbung heisst, dass eine Zahnpasta das strahlendste Lächeln aller Zeiten erzeugt, dann ist das Bullshit, weil es in dieser Äusserung nicht darum geht, wahre Sätze über Zahnpasta-Eigenschaften zu formulieren, sondern Zahnpasta zu verkaufen.

Werbung ist in ihrem Wesen Bullshit. Wer sich über Produkte informieren möchte und zu diesem Zweck Werbung schaut, hat nicht verstanden, wie unsere Marktwirtschaft funktioniert. Und wiederum: Das heisst noch nicht, dass Werbung zwangsläufig lügt. Es kann sein, dass in einer Werbebotschaft etwas Wahres behauptet wird, nur ist diese Behauptung nicht in einer Sorge um Wahrheit begründet.

Der Bullshit, der in der Welt der Wirtschaft so weit verbreitet ist, muss nicht immer so harmlos sein wie die Werbebotschaften, bei denen wir uns daran gewöhnt haben, dass sie eher Emotionen wecken und uns nicht im eigentlichen Sinne gut informieren sollen. Der gerade in New York juristisch verhandelte Fall von Sam Bankman-Fried, dem Chef der insolventen Kryptobörse FTX, ist nur das jüngste Beispiel für ruinöses Bullshitten im Bereich der Wirtschaft, das oft Hunderte von mittelbar Beteiligten in den finanziellen Abgrund reissen kann. Elisabeth Holmes oder Bernie Madoff sind weitere Namen, die einem sofort einfallen, wenn es um Bullshit-Prominenz in der Wirtschaftswelt geht.

Der Grossmeister des Bullshittens

Besonders dramatisch ist Bullshit aber im Bereich der Politik. Wenn es so etwas wie einen Meister des Bullshittens gibt, dann ist es Donald Trump. Seine vier Jahre währende Präsidentschaft hat akademischen Bullshit-Forschenden einen nahezu unerschöpflichen Fundus an Anschauungsmaterial geliefert. Als ein Bullshitter par excellence ist dem ehemaligen Präsidenten Wahrheit völlig egal. Trump einen Lügner zu nennen, würde ihm zu viel Kompetenz im Umgang mit Fakten unterstellen.

Wenn er etwa behauptet, dass er der US-Präsident ist, der am meisten für schwarze US-Bürger*innen getan hat, oder dass Putin sich nicht getraut hätte, die Ukraine anzugreifen, wenn er noch Präsident wäre, dann hat er nicht vor, irgendjemanden von diesen irrsinigen Ansichten zu überzeugen. Es geht hier lediglich darum, so viel Bizarres und Übertriebenes, so viel offensichtlich Falsches von sich zu geben, bis jeder Dialog über Sachfragen müssig wird.

Genau das ist der zentrale Effekt des politischen Bullshits: Er zersetzt die politische Debatte, ohne die Demokratien langfristig nicht überleben können. Frankfurt argumentiert am Ende seines Textes, dass der Bullshitter ein grösserer Feind der Wahrheit ist als die Lügnerin, die sich in ihrer Täuschung  immerhin noch an Tatsachen orientieren muss. Man kann diesen Gedanken auf den Bereich der Politik ausweiten: Politische Bullshitter*innen sind weitaus gefährlicher für eine Demokratie als Politiker*innen, die lügen.

Mit einem falschen Wahlversprechen kann eine Demokratie umgehen, nicht aber mit einer Situation, in der wir politisch gar nicht mehr streiten können, weil uns die Standards für wahr und falsch abhandengekommen sind.

Produzieren wir nicht alle Bullshit?

Und noch ein letzter Gedanke scheint mir wichtig. Es sind nicht nur Politiker*innen, die die Demokratie gefährden können, indem sie Bullshit von sich geben. Wir alle sind in dieser Hinsicht sehr anfällig.

Seien wir ehrlich: Passiert es nicht manchmal, dass wir eine politische Meinung zum Besten geben, ohne dass wir uns Gedanken darum gemacht hätten, was wirklich für sie spricht? Ohne dass wir überlegt hätten, was eine andersdenkende Person dazu bringen könnte, ebenfalls dieser Ansicht zu sein? Passiert es nicht manchmal, dass wir lautstark politische Überzeugungen vertreten, weil es in der sozialen Gruppe, mit der wir uns identifizieren, gerade opportun ist, dieser Überzeugung zu sein? Zwischen Prinzipientreue und Bullshit ist oft nur ein schmaler Grat.

Definitiv überschritten ist er, wenn es um die Ansicht geht, dass es keinen Sinn mache, sich politisch zu betätigen, weil «die da oben» ohnehin machen, was sie wollen. Die Verweigerung demokratischer Beteiligung ist die expliziteste Form des politischen Bullshits, den Bürger*innen zum Ausdruck bringen können.

Wollen wir sie vermeiden, müssen wir mit guten Argumenten um die richtigen Positionen streiten. Und ab und zu, wenn es darauf ankommt – wie am kommenden Sonntag – unsere Stimme zählen lassen.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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Diskussion

Unsere Etikette
Madeleine Mosimann
19. Oktober 2023 um 11:04

lieber Herr Budnik, ich lese Ihre Artikel immer gerne. Sie sind für mich Highlights in der Hauptstadt. Vielen Dank für all die konzisen und süffigen Erklärungen und Erhellungen unseres Alltags! Freundliche Grüsse, MMo

Sajeela Schmid
19. Oktober 2023 um 09:02

Danke, Herr Budnik für diesen interessanten Beitrag. Spätestens seit Trump & Co. Mache ich mir grossen-Sorgen um die Demokratien. Was kann man der Bullshitterei entgegensetzen? Wie kann man die Menschen wieder dazubringen, unsere Demokratie wertzuschätzen und zu pflegen? Ihr Artikel hat mir den Mechanismus der Bullshitterei erklärt und bringt mich ein Stück weiter in meinen Argumentationen.