Grossvaters Brille
Unser Philosophie-Kolumnist hilft, Hausrat zu sichten und denkt dabei über die Frage nach, was uns als Personen im Kern ausmacht.
Wie viele andere Menschen in einer bestimmten Lebensphase ziehen meine Schwiegereltern demnächst von einem mehrgeschossigen Haus in eine Wohnung. Es müssen Entscheidungen gefällt werden. Was kommt mit? Was könnten andere Leute gebrauchen? Was ist zu entsorgen?
Manchen Menschen fallen solche Dinge nicht schwer. Ich gehöre nicht dazu, genauso wenig wie mein Schwiegervater. Ich habe mit ihm einen Nachmittag im Keller verbracht und war erstaunt über all die Gegenstände, die da zum Vorschein kamen.
Wir sichteten eine ganze Reihe von technischen Geräten, die so gut erhalten waren, als hätte man sie gerade gekauft: Zeiss-Kameras vom Anfang des 20. Jahrhunderts, grau-türkis lackierte Tonbandgeräte, Spulen und Hörer aller Art. Es fand sich sogar ein Stereoskop, mit dem man auf nebeneinander gereihten Fotos einen 3D-Effekt erzielen kann.
Stammbäume und Ahnentafeln
Der Grossvater meines Schwiegervaters hat zudem Ahnenforschung betrieben und das in grossem Stil: Ich sah Stammbäume und Nachfahrentafeln. Säuberlich kalligraphiert auf ungewöhnlichen Grossformaten. Bilder von Herrschaften, die Anfang des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Das 1683 erbaute Stammhaus in Hombrechtikon. Die in die USA ausgewanderten Familienzweige. Ein 1440 geborener Urahne namens Cuni. Ausgestorbene Stammlinien. Eingeheiratete Bundesräte. Das alles säuberlich dokumentiert und bestens erhalten, teilweise in gebundenen Folianten mit ausklappbaren Stammbaum-Seiten.
Sammlungen dieser Art sind in der Gegend, aus der ich stamme, mit Sicherheit seltener. Zwei Weltkriege haben es den Menschen sehr schwer gemacht, Familienerinnerungen in grossem Ausmass anzuhäufen. Daran musste ich denken, als wir Dutzende von Fotoplatten aus Glas gegen das Licht hielten. Die Aufnahmen hatten eine ganz besondere Stimmung, aber sie hätten nur schwerlich eine Bombardierung überstehen können. Besonders berührend fand ich eine ebenfalls bestens erhaltene Brille, die dem Grossvater meines Schwiegervaters gehört hat.
In den folgenden Tagen musste ich viel über diese Brille und ihre Bedeutung nachdenken. Warum sind manchen von uns solche für sich genommen banalen Erbstücke wichtig? Ich glaube, dass es damit zu tun hat, dass sie uns zum Teil definieren. Sie machen uns zu den Personen, die wir sind. Wie kann das aber sein?
Ein «Seelentausch» aus dem 17. Jahrhundert
Ende des 17. Jahrhunderts hat der englische Philosoph John Locke eine Theorie darüber vorgelegt, was uns als Personen im Kern ausmacht. Seiner Auffassung nach sind es im Wesentlichen die Erinnerungen, die wir an Dinge haben, die wir selbst erlebt haben. Ohne Erinnerungen würden wir aufhören, als die Personen, die wir sind, zu existieren. In einem berühmten und bis zum heutigen Tage viel diskutierten Beispiel konfrontiert Locke uns mit der fiktiven Situation eines «Seelentauschs».
Ein Fürst und ein Schuster wachen eines Tages auf und stellen fest, das ihre Seelen in den Körper der jeweils anderen Person gewandert sind. Wen würden wir als den Fürsten, wen als den Schuster betrachten, fragt Locke in diesem Zusammenhang.
Die Antwort, die er suggerieren möchte, scheint sehr plausibel: Wenn ich dem Schuster für die Reparatur meiner Stiefel danken möchte, sollte ich mich an die Person richten, die jetzt wie der Fürst aussieht, denn nur diese Person wird sich daran erinnern, meine Stiefel repariert zu haben.
Selektives Erinnern
Zwar können wir uns nicht an alle Dinge erinnern, die wir jemals erlebt haben, das bedeutet aber keinesfalls, dass wir deshalb weniger wir selbst sind. Unsere Erinnerungen funktionieren sehr selektiv und sind oft auch nicht ganz zuverlässig. Um aber dieselbe Person zu bleiben, darf es in unseren Erinnerungen – von Phasen des Schlafs mal abgesehen – keine allzu grossen Lücken geben. Moderne Vertreter*innen einer Theorie wie Locke sie vertreten hat, sprechen hier von «Erinnerungskontinuität», die von ihnen als der wesentliche Aspekt der Identität von Personen betrachtet wird.
Selbstverständlich werden wir niemals mit der Situation eines «Seelentauschs» konfrontiert sein. Dabei handelt es sich einfach nur um ein etwas antiquiert klingendes Gedankenexperiment.
Dass Lockes Grundidee aber nicht sehr fernliegend ist, sieht man daran, dass Personen, die an retrograder Amnesie oder Demenz leiden, von ihren Freunden und Angehörigen sehr häufig nicht mehr als dieselben Personen erfahren werden. «Sie ist nicht mehr da», heisst es dann, obwohl niemand gestorben ist. Genau das scheint den Umgang mit Amnesie und Demenz so dramatisch und schmerzhaft zu machen.
Die Erinnerungsketten, aus denen sich die Identität von Personen zusammensetzt, können nun stärker oder schwächer sein. Erinnerungen verblassen mit der Zeit. Woran ich mich heute in aller Deutlichkeit erinnern kann, weil ich es gestern erlebt habe, wird vielleicht in zehn Jahren zu einem undeutlichen Schemen verkümmern. Gegenstände, Fotos, Tonaufnahmen, Tagebuchaufzeichnungen und andere Erinnerungsstützen können dabei helfen, solche Prozesse zu verlangsamen.
Es ist in diesem Sinne, dass die Brille, die mein Schwiegervater mir gezeigt hat, nicht nur ein sehr alter Gegenstand ist. Es ist die Brille, durch die er als Kind in die Augen seines Grossvaters geschaut hat. Sie hält Erinnerungen lebendig, und wenn Locke Recht hat, ist sie dadurch zumindest ein Teil der Person, die mein Schwiegervater ist.
Narrative Theorien der Identität
Kritiker*innen der Theorie von Locke haben darauf hingewiesen, dass er nichts dazu sagen kann, warum manche Erinnerungen für uns wichtiger sind als andere. Eine Lösung des Problems bieten narrative Theorien der Identität.
Gemäss diesen Theorien besteht unsere Identität aus den Geschichten, die wir uns von unserem Leben erzählen können. Eine Geschichte ist ihrem Wesen nach selektiv. Wer eine gute Geschichte erzählen will, wird Unwichtiges weglassen müssen. Deswegen sind manche unserer Erinnerungen stärker mit unserer Identität verknüpft als andere.
Es ist nicht schlimm, wenn ich mich nicht mehr an die Farbe des Autos erinnern kann, das an dem Fussgängerstreifen gehalten hat, den ich gestern Nachmittag überquert habe. Das Auto spielt in der Geschichte meines Lebens eben keine Rolle. Umgekehrt sind die Erinnerungen, die eine Person an die eigenen Grosseltern hat, in den meisten Fällen sehr wichtig für ihr Lebensnarrativ. Grosseltern gehören oft zu den zentralen Protagonist*innen unserer Lebensgeschichten.
Narrative Theorien können auf diese Weise erklären, warum die Brille, die mein Schwiegervater mir gezeigt hat, einen Teil seiner Identität ausmacht, warum das aber nicht unbedingt für andere Gegenstände seiner Vergangenheit gelten muss. Narrative Theorien können zudem noch ein anderes Problem der Theorie von Locke lösen helfen.
Locke wird oft vorgeworfen, dass er mit seiner Betonung von Erinnerungen einen viel zu starken Fokus auf die Vergangenheit von Personen gelegt hat. Wir sind aber nicht nur unsere Vergangenheit. Mindestens genauso wichtig für unsere Identität scheint all das zu sein, was wir in Zukunft tun werden.
Auch hier kann man argumentieren, dass unser Verhältnis der eigenen Zukunft gegenüber eine narrative Struktur hat. Wenn ich mich frage, was ich tun sollte, dann frage ich mich, wie die Geschichte, die ich mir von meinem Leben erzähle, auf plausible Weise weitergehen könnte. Und die Verbindungen, die ich zu einem zukünftigen Selbst herstelle, wenn ich als Antwort auf diese Frage bestimmte Absichten fasse, bestimmte Projekte aufnehme oder weitergefasste Lebenspläne schmiede, können genauso wie Erinnerungen als Bestandteile der Person, die ich bin, betrachtet werden.
Wesen mit Vergangenheit und Zukunft
Wir sind eben beides: Wesen, die eine Vergangenheit haben und Wesen, die eine eigene Zukunft gestalten können. Und beide Aspekte unseres Lebens scheinen zentral für die Personen zu sein, die wir sind.
Es gibt Personen, bei denen das Erzählen der Geschichten von der eigenen Vergangenheit mehr Raum einnimmt. Andere Menschen fühlen sich wohler, wenn es darum geht, die Geschichte des eigenen Lebens in die Zukunft zu entwerfen. Wichtig ist aber, dass es letzten Endes eine einzige Geschichte ist.
Deswegen sollte man sich davor hüten, ausschliesslich in der Vergangenheit oder nur in die Zukunft hinein zu leben. Und das ist der Grund, warum es sich lohnen kann, Grossvaters Brille oder andere Erinnerungsstücke nicht vorschnell loszuwerden.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.