Politik unterm Tannenbaum

Wie können wir im Familienkreis über politische Themen reden, ohne aneinander zu geraten? Vor den Festtagen fragt sich unser Kolumnist, wie wir auf Menschen mit anderen Ansichten zugehen sollten.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Jede Familie, die ich kenne, hat einen Onkel Heinz. Manchmal heisst er nicht Heinz, und manchmal ist es kein Onkel, sondern eine Tante oder ein Cousin. In manchen Familien gibt es zwei oder drei davon. In anderen Familien fehlt er eine Zeitlang und tritt erst nach Jahren der Abwesenheit unerwartet in Erscheinung. 

Onkel Heinz war immer der Grund, warum man sich nicht vorbehaltlos auf Weihnachten freuen konnte. Es sind ja ohnehin nicht ungefährliche Tage. Wenn etwas als das Fest der Liebe vermarktet wird, sollte man auf der Hut sein. 

Es treffen verschiedene Generationen aufeinander. Es sehen sich Leute, die sich aus guten Gründen sonst nicht sehen. Und alle haben glücklich zu sein im goldenen Glanz der LED-Lichterkette. 

Der Störenfried auf dem Familienfest

Diese Illusion des trauten Miteinanders zu sprengen, war stets die Spezialität von Onkel Heinz. Er war es, der nach dem dritten Eierlikör die eigene Nichte zum Weinen brachte, weil er es nicht lassen konnte, davon zu reden, dass es ihre Pflicht sei, eine Familie zu gründen und für Nachwuchs zu sorgen. Er war es, der den einzigen Vegetarier am Tisch von den Gefahren fleischloser Ernährung zu überzeugen versuchte. Er war es, der an den Weihnachtsfesten 2001 und 2015 von «den Moslems» zu schwadronieren begann, bis sich alle peinlich berührt auf andere Zimmer zu verteilen begannen. 

Onkel Heinz meinte es meist nicht böse, aber seine sozialen Hemmungen waren nicht besonders stark ausgeprägt. Und seine sozial-politischen Ansichten nicht gerade subtil. Auch wenn man ihn stets gefürchtet hat, sollte einem zu denken geben, dass Onkel Heinz im Verschwinden begriffen ist. 

Das liegt nicht etwa daran, dass es immer weniger Personen gibt, die seine Rolle in einer sorgsam austarierten Zusammenkunft spielen könnten. Ganz im Gegenteil. Wir sind alle irgendwie ein Onkel Heinz füreinander geworden, habe ich das Gefühl. Und dadurch gibt es Onkel Heinz als besonderes Familienfest-Phänomen kaum mehr.

Immer mehr politischer Zündstoff?

Es braucht derzeit keinen Eierlikör, um in einem Tischgespräch Verwandte auf die Palme zu bringen oder von ihnen auf die Palme gebracht zu werden. Hier eine kleine Auswahl an Themen, um die man an Heiligabend einen Bogen machen sollte, wenn man betretenes Schweigen, zornige Blicke oder Handgreiflichkeiten unter dem Tannenbaum vermeiden will: Die Ukraine wird auf die Krim verzichten müssen. Wir müssen alle Flüchtlinge aus Kriegsregionen aufnehmen. Papierstrohhalme sind widerlich und bringen nicht viel gegen den Klimawandel. Vegane Lebensmittel sollten nicht wie Lebensmittel aus Fleisch heissen. Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Israel verletzt Menschenrechte im Gazastreifen. Wir brauchen neue Atomkraftwerke. Trans-Jugendliche sollten einen besseren Zugang zu geschlechtsanpassenden Massnahmen haben. Es muss eine Frauenquote für Grossunternehmen geben. Gendern macht die deutsche Sprache kaputt. SUVs müssen verboten werden. Racial Profiling ist unumgänglich. Haustiere zu halten, ist Tierquälerei. «Mohren»-Darstellungen haben an Häuserfassaden nichts zu suchen. Gegen Gotthelf und Keller ist die Literatur von heute Kinderkram. Nie wieder Maskenpflicht! Dicke Leute gibt es nicht. Der September war nicht schön, das war die Klimaerwärmung!

Nur um nicht missverstanden zu werden: Das alles sind wichtige Themen, und es ist absolut notwendig, dass man in diesen Dingen eine Position bezieht. Ich selbst könnte sehr schnell sagen, welchen der oben angeführten Behauptungen ich zustimme und welche ich entschieden ablehne. Für all diese Ansichten könnte ich sogar ziemlich gute und in vielen Fällen sehr komplexe Gründe benennen. 

Und für alle von ihnen denke ich, dass es gut wäre, wenn ich möglichst viele andere Menschen von ihnen überzeugen könnte. Dennoch würde ich mich hüten, irgendeines dieser Themen bei einem weihnachtlichen Tischgespräch anzuschneiden. 

Nun gab es schon immer politische Reizthemen, und es ist eine Binsenweisheit, dass man gerade im Kreis der Familie nicht über Geld oder Politik redet. 

Allerdings hat sich die Anzahl an brenzligen Themen in den letzten Jahren massiv vervielfältigt. Es sind nicht mehr nur drei oder vier Streitfragen, denen man aus dem Weg gehen sollte, der Streit lauert überall. Das mag sogar eine gute Entwicklung sein: Die Klimaproblematik betrifft nun mal alle möglichen Bereiche unseres Lebens. Und strukturelle Formen der Diskriminierung beschränken sich, eben weil sie strukturell sind, nicht auf Dinge, für die man ins Gefängnis kommen kann. Es kann sein, dass die Politisierung unseres Alltags unumgänglich ist. 

Das macht Familienzusammenkünfte nicht einfacher. Früher hat man mit entfernten Verwandten Small Talk gemacht und über das Wetter oder die Kinder gesprochen. Selbst das sind inzwischen heikle Themen.

Wir sind alle anders geworden

Es hat sich aber nicht nur die Themenlandschaft verändert, sondern wir alle sind als Teilnehmende an politischen Diskussionen anders geworden. Dünnhäutiger und wütender. Unsere politischen Äusserungen sind pointierter geworden. 

Man könnte aber auch sagen, dass sie verkürzt daherkommen und sich nicht um die Personen scheren, an die sie gerichtet sind. Als blosse Gesten der Selbstvergewisserung ahmen sie die aus wenigen Zeilen bestehenden Kommunikationsgeschosse nach, die wir in den sozialen Medien abzufeuern gelernt haben. Und sie haben einen selbstverstärkenden Effekt. Verbale Aggression erzeugt verbale Aggression. 

Nur wenn ich mir jemanden vorstelle, der darüber jammert, dass Papierstrohhalme eine Zumutung sind und sich über den Umweltschutz lustig macht, kriege ich Lust, zur Gegenoffensive überzugehen. In so einem Zustand würde ich niemals zugeben, dass ich mich selbst regelmässig nach einem guten alten Plastikstrohhalm sehne.

Eine alternative Gesprächshaltung

Die gute Nachricht ist, dass wir nicht dazu verdammt sind, nur diese Perspektive einzunehmen. Ja, wir leben in Zeiten, in denen wir manchmal lauter werden müssen, um dringenden Anliegen Gehör zu verschaffen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass uns auch andere kommunikative Ressourcen zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, politische Konflikte auszutragen. Oder auch nur darum, mit Personen, die andere politische Ansichten haben, auf konstruktive Weise zu sprechen. 

Vielleicht ist ein Familienfest der geeignete Ort, um eine solche alternative Haltung einzunehmen.

Dazu würde gehören, dass wir wenigstens zeitweise dem Impuls widerstehen, die Ebenen der Politik und der Moral zu eng aneinander zu knüpfen. Unsere moralischen Überzeugungen bestimmen zu einem wesentlichen Teil, als was für eine Person wir uns verstehen. Deswegen werden abweichende moralische Überzeugungen, vor allem, wenn sie auf eine brachiale Weise vorgetragen werden, oft als Angriffe auf die Person, die man ist, empfunden. 

Man kann aber versuchen, eine abweichende politische Überzeugung zunächst nur als eine politische Überzeugung zu verstehen: Das bedeutet, dass man für einen Augenblick vergisst, dass die eigene Überzeugung die «moralisch richtige» ist und sich stattdessen mit der Frage beschäftigt, wie ein Konsens erreicht werden könnte.

Weg von plakativ zugespitzten Positionen

Konkret könnte das etwa bedeuten, dass man ein Gespräch von plakativ zugespitzen Positionen weglenkt, damit Raum geschaffen wird, um den tieferen Gründen nachzuspüren, die eine andere Person für ihre Sicht der Dinge haben mag. Dann redet man nicht mehr über Papierstrohhalme, sondern vielleicht über das Unwohlsein, das jemand angesichts der vielen Reglementierungen empfinden kann, die der Kampf gegen den Klimawandel nun mal mit sich bringt. 

Und umgekehrt muss es nicht darum gehen, das eigene Empören über plastikverschmutzte Meere zum Ausdruck zu bringen, sondern vielleicht eher um die eigene Angst vor einer Zukunft, die durch die Klimakatastrophe geprägt ist. Nur wenn man es auf diese Weise schafft, einander «im Modus des Besorgt-Seins» zuzuhören, kann man sich der eigentlichen interessanten politischen Frage zuwenden, was man angesichts der verschiedenen Sorgen denn eigentlich unternehmen sollte.

An dieser Stelle drängt sich sofort der folgende Einwand auf: Sollen wir denn etwa auch mit Personen, die schlicht den Klimawandel leugnen, auf diese kuschelige Weise umgehen? Wo soll das denn hinführen? Etwa dahin, dass wir versuchen, den Gründen von Rassist*innen und Sexist*innen nachzuspüren? 

Das sind berechtigte Nachfragen. Aber ich plädiere an dieser Stelle nicht fürs freundliche Zuhören als allgemeine Strategie zur Lösung politischer Probleme, sondern mache lediglich darauf aufmerksam, dass wir im Bereich des Politischen eine Alternative zur kämpferischen Auseinandersetzung haben. 

Eine Alternative, die in manchen Kontexten die bessere Alternative ist, so dass es nicht schaden kann, wenn wir uns etwa an Weihnachten darin üben, diese alternative Haltung einzunehmen.

Man verrät keine eigenen Überzeugungen, wenn man an einem Weihnachtsfest versucht herauszufinden, warum eine andere Person eine völlig andere Meinung über Einwanderung, den Krieg in Gaza oder den Klimawandel hat. 

Wenn man zusammen Lebkuchen isst und über Politik redet, hören einem nicht die Follower zu. Man ist freier, auf eine andere Person zuzugehen. Das bedeutet nicht, dass man automatisch anfängt, Dinge richtig zu finden, die man bislang stets abgelehnt hat. Aber es bedeutet, dass man es zulässt, dass eine Verbindung entstehen kann. 

So vieles an der digitalisierten Welt, in der wir leben, hat einen trennenden Charakter. Wenn an der Redewendung vom Fest der Liebe etwas dran ist, dann vielleicht, dass es eine Gelegenheit darstellt, solche Verbindungen herzustellen. Vielleicht schafft man auf diese Weise sogar eine Stimmung, in der Onkel Heinz wieder so richtig auffällt als peinlicher Störenfried.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

tracking pixel