Gefundenes Fressen für den Populismus

Berner Regierungsräte rechnen Mehrkornbrötli und Bananen als Spesen ab. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, ob die Regeln zu locker sind. Und was die Angelegenheit für die Demokratie bedeutet.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Das Ganze hat etwas Erbärmliches. Wie die Recherchen des «Kassensturz» zeigen, haben einige Berner Regierungsräte Minibeträge für Verpflegung oder Parktickets als Spesen abgerechnet. Neben einer Spesenpauschale von 8000 Franken jährlich  können Individualspesen geltend gemacht werden. Für auswärtige Unterkunftskosten oder Reisen ins Ausland. Aber für ein Laugenbrezeli mit Butter? Muss das sein? 

In der letzten Woche wurde bekannt, dass zudem Kopfhörerkäufe und Mittagessen mit Parteikollegen in Einzelfällen über den sogenannten Repräsentationskredit der jeweiligen Direktion abgerechnet worden sind. Alles nur ein Versehen? Oder doch Symptom einer problematischen Entwicklung? Wie so oft gibt es auch in diesem Fall ein Einerseits und ein Andererseits.

Offiziell kein Fehlverhalten

Einerseits wäre es mit Sicherheit übertrieben, wollte man die ganze Angelegenheit zu einer Affäre stilisieren, von der das Wohl und Wehe der Berner Kantonspolitik abhängt. Die Beträge sind insgesamt so klein, dass ausgeschlossen ist, dass die Politiker sich durch die unorthodoxe Abrechnungspraxis auf Bürger*innenkosten bereichern wollten. Auch scheint die überschaubare Anzahl der kleinlichen Abrechnungen nicht dafür zu sprechen, dass wir es mit einem besonders weit verbreiteten Phänomen zu tun haben. 

Ich weiss nicht, wie viele Laugenbrezeli oder Mehrkornbrötli Regierungsrät*innen jährlich konsumieren. Die als Spesen abgerechneten Gebäcke dürften aber nur einen verschwindend geringen Bruchteil davon ausmachen. Und vor allem: Bislang verbietet kein Passus im Spesenreglement der Regierung, Brötli oder Bananen als Individualspesen abzurechnen. Wir haben es demnach offiziell nicht mit einer Form von Fehlverhalten zu tun

Gerade hier sehen viele die Wurzel des Übels. Es müsse dafür gesorgt werden, dass solche Abrechnungen gar nicht erst möglich sind, ist vermehrt zu hören, etwa durch die Einführung einer finanziellen Mindestgrenze bei den Individualspesen. 

Prompt hat denn auch der Regierungsrat die Staatskanzlei damit beauftragt, eine entsprechende Änderung des Reglements auszuarbeiten. Sind solche Änderungen aber tatsächlich sinnvoll?

Es geht im Kern um Vertrauen

Worum es hier im Kern geht, ist Vertrauen. Wer vertraut, schaut nicht genau hin. Das ist nicht immer die angemessene Haltung. Geht es um Wichtiges, brauchen wir kein Vertrauen, sondern Kontrolle, Transparenz und klare Regelungen. Gleichzeitig funktioniert keine Demokratie ohne Kontexte, in denen wir als Bürger*innen denken: «Das werden sie schon selbst entscheiden können.» 

Politiker*innen brauchen Ermessensspielräume: Bereiche, in denen ihre Handlungsspielräume nicht vollständig von Regelungen oder Gesetzen eingeschränkt sind. Diese Freiheiten sind unabdingbar, weil das Geschäft der Politik viel komplexer ist, als es manchmal von aussen wirken kann. Ein Regelsystem, das dieser Komplexität gerecht werden wollte, müsste so umfassend und komplex sein, dass es nicht mehr anwendbar wäre. 

Moralische Ansprüche an Politiker*innen

Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, warum es gut ist, dass wir Politiker*innen manchmal einfach nur vertrauen. In diesem Vertrauen kommt nämlich ein moralischer Anspruch zum Ausdruck. Wer vertraut, erwartet etwas von einer Person. Regelungen machen solche normativen Erwartungen obsolet. 

In dieser Hinsicht scheint die angekündigte Reglementsänderung tatsächlich problematisch. In ihr würde zum Ausdruck kommen, dass wir von den Berner Regierungsrät*innen nicht einmal mehr erwarten, dass sie den Anstand aufbringen, eine Banane nicht als Individualspesen abzurechnen. 

Anders gesagt: Ermessensspielräume sind wichtig, weil sie uns ermöglichen, Politiker*innen aus der Perspektive der Moral zu betrachten und zu bewerten. Die Abwesenheit von Regeln in bestimmten Bereichen zwingt Politiker*innen, darüber nachzudenken, wie sie sich in konkreten Situationen verhalten sollten. Nur so können sie Tugenden wie Anstand, Integrität oder Respekt einüben und an den Tag legen. In dieser Hinsicht könnte die angekündigte Reglementsänderung also verfrüht sein.

Expressive Gier

Alles also nicht so schlimm? Ganz so einfach ist es nicht, denn hier kommen wir zum Andererseits: Es lässt sich nämlich fragen, was eine kleinliche Spesenabrechnung zum Ausdruck bringt. Zugegeben, niemand wird sich eine goldene Nase daran verdienen, ein Brötli abzurechnen. Aber wie muss eine Person ticken, die für Rappenbeträge die Maschinerie der Spesenabrechnung in Gang setzt? 

Materielle Gier mag bei Privatpersonen einfach nur ein hässlicher Charakterzug sein. Bei Politiker*innen, von denen wir erwarten, dass sie primär die Perspektive des Gemeinwohls einnehmen, ist sie gefährlich. Das macht die expressive Gier, die der «Kassensturz» aufgedeckt hat, so problematisch.

Die kleinlichen Abrechnungen können natürlich auch aus Versehen erfolgt sein. Man mag mich für naiv halten, aber ich halte das in den meisten Fällen auch für wahrscheinlich. Doch selbst wenn man diese wohlwollende Interpretation zugrunde legt, bleibt es dabei, dass die ganze Angelegenheit einen Schaden angerichtet hat. Dieser Schaden hat wiederum mit Vertrauen als dem zentralen demokratischen Wert zu tun. Er lässt sich nicht in den als Spesen abgerechneten Beträgen für Frühstücksbrötli, Kopfhörer oder geliehene Hüte beziffern, sondern betrifft eher den politischen Umgang mit den Rechercheergebnissen des «Kassensturz».

Populistische Narrative

Wir leben in einer Zeit, in der Demokratien von verschiedenen Formen des antidemokratischen Populismus bedroht sind. Nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. Die zentrale Strategie von Populist*innen besteht darin, Misstrauen in die etablierten demokratischen Strukturen und die in ihnen operierenden Politiker*innen zu säen. «Ihr habt denen da oben blind vertraut, aber wir zeigen euch, was sie da trieben», lautet die Grundform der populistischen Ansprache. 

Es folgen dann Hinweise darauf, dass jemand einem Bekannten einen Job besorgt hat, sich von einem Unternehmen bezahlen lässt oder die Grenzen für Ausländer öffnen möchte, die «uns unsere Arbeitsplätze wegnehmen» werden. 

Populist*innen wollen alles daran setzen, dass wir glauben, dass unser Vertrauen missbraucht wird. Wir sollen auf diese Weise dazu verleitet werden, dem politischen Establishment zu misstrauen und stattdessen unser Vertrauen populistischen Politiker*innen schenken. Diese würden dann schon mit allem aufräumen und die Verhältnisse im Sinne einer glorifizierten Vergangenheit wiederherstellen, so das populistische Versprechen. 

Die demokratische Debatte leidet

Diese populistischen Narrative sind stets verlogene Narrative. Sie basieren selten auf Fakten und haben das Ziel, den politischen Diskurs zu emotionalisieren. Das ist der Grund, weshalb oft ungültige Schlüsse von Einzelfällen auf das gesamte demokratische System gezogen und nicht selten zu Verschwörungstheorien aufgebauscht werden, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Darunter leiden wir dann alle als politische Gemeinschaft: Die politische Debatte, die Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie ist, wird zunehmend schwierig.

Eine als Spesen abgerechnete Banane ist deshalb ein gefundenes Fressen für antidemokratische Populist*innen. Das hätte allen Beteiligten sofort klar sein müssen. So löblich die «Kassensturz»-Recherche auch ist, ist doch schon der ursprüngliche Bericht nicht ganz frei von populistischen Untertönen: Da wird dann etwas demonstrativ die Nase gerümpft über Kristallfussgläser und Weinkonsum, gerade so, als hätten wir es mit falsch abgerechneten Orgien zu tun. 

Nun ist der «Kassensturz» mit Sicherheit weder populistisch noch antidemokratisch. Es wird aber genügend Bürger*innen geben, die sich durch den Anblick der für die Spesenabrechnung eingereichten Kassenzettel mit Kleinstbeträgen in ihrer Vermutung bestätigt sehen, dass «die da oben» machen, was sie wollen und nur ihren eigenen Vorteil im Blick haben.

Mehr Mut gegen den Populismus?

Mit der Populismus-Problematik im Blick hätte man von Regierungsseite etwas anders auf die Recherchen reagieren können. Gegen Populist*innen hilft es nicht viel, Einzelfälle durchzugehen und zu erklären, warum es sich dabei rechtlich nicht um bedenkliche Fälle handelt. Auch wenn man dabei in der Sache Recht hat. Das verstärkt nur den Eindruck, dass «da oben» etwas nicht ganz stimmt. 

Besser wäre eine mutigere Strategie gewesen, bei der die Regierung einerseits zugegeben hätte, dass die Kleinstabrechnungen ethisch fragwürdig sind, gleichzeitig aber daran festgehalten hätte, dass die Abwesenheit entsprechender Regulierungen keine «Lücke» im Spesenreglement darstellt, sondern Ausdruck des Anspruchs ist, den man an Regierungsrät*innen stellt: Des Anspruchs, auf angemessene Weise mit einer bestimmten Freiheit umzugehen, dem manche Regierungsrät*innen eben besser gerecht werden als andere. 

Gerade weil es sich bei der Angelegenheit im Kern um ein ethisches Problem handelt, wäre es auch hilfreich gewesen, individuelle Stellungnahmen der betroffenen Personen zu hören, die über die Aussage hinausgehen, das Ganze sei einfach nur viel Lärm um nichts. 

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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