Das Ringen um den Angriff auf Rot-Grün-Mitte
In einem Jahr wird die neue Stadtregierung gewählt. Die Zeit, Strategien zu zimmern, ist jetzt. Die GLP schliesst nicht mehr aus, Teil eines grossen bürgerlichen Angriffs auf Rot-Grün-Mitte zu sein.
Das Regierungsbündnis Rot-Grün-Mitte (RGM) ist in der Stadt Bern eine Macht. Vor einem Jahr feierte es das 30-jährige Jubiläum der rot-grünen Mehrheit. Seit sieben Jahren regieren die Sozialdemokraten (SP), das Grüne Bündnis (GB) und die Grüne Freie Liste (GFL) im Gemeinderat gar mit einer Mehrheit von 4 zu 1 Sitzen.
Sowohl die langdauernde Vorherrschaft als auch das krasse Mehrheitsverhältnis in der Stadtregierung haben mit dem aussergewöhnlichen Wahlsystem in Bern zu tun. Anders als in anderen Städten wählt die Stadt Bern auch die Regierung nach Proporz. Das bedeutet: Bei der Verteilung der Sitze sind breitabgestützte Listen mit Vertreter*innen mehrerer Parteien – wie das RGM ist – stark bevorteilt.
Umgekehrt formuliert: Die RGM-Überlegenheit liegt auch am in den letzten Jahrzehnten fehlenden Willen der bürgerlichen Parteien vom der Mitte bis ganz nach Rechts, sich zusammenzuraufen und gemeinsam für den Gemeinderat zu kandidieren.
Arbeit an grosser Koalition
Das könnte sich jetzt ändern, wie Recherchen der «Hauptstadt» zeigen. Exponent*innen von SVP, FDP, Mitte, GLP und EVP bestätigen, dass Gespräche über eine breite bürgerliche Liste laufen, die bei früheren Anläufen mal den Arbeitstitel «Bürgerlich-Grün-Mitte» trug. Das ist überraschend: Im Sommer hatte die GLP einem Bündnis, dem auch die SVP angehört, noch eine unmissverständliche Absage erteilt. Offensichtlich ist die Partei jetzt bereit, allenfalls auf diesen Entscheid zurückzukommen.
Damit könnte die Lage für RGM bei den Wahlen im Herbst 2024 ungemütlich werden. Wenn sich die Oppositionsparteien und die Mitte tatsächlich zu einer grossen Liste von GLP bis SVP zusammenschliessen, droht RGM ein Sitzverlust.
Die städtischen Wahlen finden zwar erst in einem Jahr statt. Weil das Wahlsystem aber breite Koalitionen und ausgeklügelte Strategien erfordert, ist die Vorlaufzeit lang. Die Verhandlungen zwischen den Parteien, die in diesen Wochen laufen, sind vorentscheidend für das, was im Herbst 2024 möglich ist.
Drei Vakanzen
Aus Sicht der bürgerlichen Parteien ist die Ausgangslage für die Wahlen 2024 interessant. Einerseits muss RGM die abtretenden Franziska Teuscher (GB) und Michael Aebersold (SP) ersetzen. Andererseits zeigt die Erfahrung der FDP, dass ohne breites Bündnis nichts geht. Vor sieben Jahren verlor die FDP ihren Sitz an RGM, weil sie alleine versuchte, ihn zu verteidigen. Und vor drei Jahren konnte sie den Sitz trotz gemeinsamer Liste mit der SVP nicht zurückholen.
Den einzigen Sitz einer bürgerlichen Partei holte bei den letzten beiden Wahlen Mitte-Politiker Reto Nause auf einer Liste mit GLP und EVP. Doch Nause tritt ab und damit werden die Karten unter den Oppositionsparteien neu gemischt. Nauses Mitte-Partei spielt dabei eine Schlüsselrolle, doch dazu später.
Fast alle Parteien ausserhalb von RGM sagen, ihr Ziel sei es, zwei bürgerliche Sitze zu erreichen. Die Parteien SVP, FDP und Mitte streben dazu eine grosse gemeinsame Liste an, der sich auch GLP und EVP anschliessen sollen. Damit wären alle Parteien rechts von RGM ebenfalls vereint. Und damit wäre folgender Wahlausgang wahrscheinlich: RGM erreicht 3 Sitze, das neue bürgerliche Bündnis 2 Sitze.
Die fünfköpfige Stadtberner Regierung wird in der Proporzwahl mittels Listen gewählt. Gewählt ist also nicht die Person mit den meisten Stimmen, sondern Mandate werden gemäss Stimmenanteilen an die Parteien verteilt. Ins Amt kommen die Bestgewählten auf ihren Listen. Da Listenverbindungen bei den Gemeinderatswahlen untersagt sind, müssen die Parteien Bündnisse schliessen und gemeinsame Listen mit Kandidierenden mehrerer Parteien bilden. Für einen gesicherten Regierungssitz muss eine Liste einen Sechstel der Stimmen, also 16,6 Prozent, erreichen. Nach dieser Formel werden nach den Wahlen die ersten vier Regierungssitze verteilt. Der fünfte Sitz wird dann oft mit einer Formel eruiert, welche die grossen Listen bevorzugt. Bei den Wahlen 2016 und 2020 ging dieses sogenannte Restmandat an das Bündnis RGM.
Das Problem: Die Grünliberalen zogen einer breitabgestützten bürgerlichen Liste bereits im letzten Juni öffentlich den Stecker. Eine gemeinsame Liste mit der SVP sei der GLP-Wählerschaft nicht vermittelbar, sagte Michael Ruefer damals zu Bund/BZ. Ein gemeinsamer Wahlkampf würde laut Ruefer als unglaubwürdig wahrgenommen.
Die GLP zählte bei ihrer öffentlichen Absage darauf, dass man in der gewohnten Koalition mit EVP und Mitte zu den Wahlen 2024 antreten könnte. Nach dem Rücktritt von Reto Nause wäre dann die Wahl einer GLP-Kandidatin sehr wahrscheinlich gewesen – im Gespräch sind derzeit unter anderen die Nationalrätinnen Kathrin Bertschy und Melanie Mettler. Die GLP sah die Mitte, der sie mehrmals zur Wahl von Nause verhalf, quasi in der Schuld.
Mit dieser Strategie drohen die Bürgerlichen den zweiten Sitz allerdings zu verpassen. Denn mit zwei bürgerlichen Listen (eine Koalition GLP-Mitte-EVP und eine SVP-FDP) würde die GLP zwar wahrscheinlich einen Sitz machen. Aber RGM würde wieder vier Sitze erreichen und sehr dominant bleiben.
Die Mitte macht Druck
Das ist der «Mitte» zu wenig. Sie will RGM einen Sitz abjagen, hält an ihrem Ziel von zwei bürgerlichen Sitzen fest und ist dazu auch bereit, die bisherige Mitte-Koalition zu verlassen. Mit dieser dezidierten Haltung drängt sie die GLP wieder an den Verhandlungstisch. «Wir streben noch immer eine grosse gemeinsame Oppositionsliste von GLP bis SVP an, denn damit sind zwei bürgerliche Sitze im Gemeinderat möglich», sagt Mitte-Präsidentin Laura Curau. Man sei das den bürgerlichen Wählenden der Stadt Bern schuldig.
Anders als die GLP hat die Mitte keine Bedenken, mit der SVP auf eine Liste zu gehen. «Das Wahlsystem zwingt uns zu Koalitionen», sagt Curau. Die SVP sei als 9-Prozent-Partei nicht zu ignorieren, und man arbeite mit ihr bei Finanzthemen auch gut zusammen.
Auch bei einer definitiven Absage der GLP an eine grosse Liste tendiert die Mitte zur Koalition mit FDP und SVP: «Wir hätten auf einer Liste mit der GLP Wahlchancen, aber auf einer Liste mit FDP und SVP wohl die besseren.» Die Mitte geben ihren Sitz nicht kampflos auf, und unter anderem die GLP habe der Mitte beigebracht, dass man rechnen müsse. Für eine Kandidatur bei der Mitte im Gespräch sind Stadträtin Milena Daphinoff, Gross- und Stadträtin Sibyl Eigenmann, Stadtrat Lionel Gaudy und der ehemaligen Generalsekretärin der CVP Schweiz, Beatrice Wertli.
Hoekstra übernimmt
In dieser Konstellation hätte die GLP in der Mitte nur noch die EVP als Partnerin. Ein Sitzgewinn wäre unwahrscheinlich.
Darum nehmen die Grünliberalen trotz öffentlicher Absage im Juni in den kommenden Wochen nochmal an den Gesprächen zu einem grossen Bündnis teil. Und das tun sie mit einem neuen Kopf: Stadtratspräsident Michael Hoekstra übernimmt Ende Monat von Michael Ruefer das Präsidium der Stadtpartei.
Zum Inhalt der Gespräche und der Position der GLP will Hoekstra aktuell nichts sagen. Er bestätigt lediglich: «Wir sind noch im Gespräch mit allen Parteien von EVP bis SVP.» Definitive Entscheide zu den Wahllisten seien noch nicht gefallen, sagen zudem Parteiinsider aus der GLP. Eine Teilnahme der GLP im grossen Bündnis sehen viele in der Partei noch immer skeptisch. Dazu bräuchte es Konzessionen von allen Parteien, sagt eine Quelle.
SVP kompromissbereit
Zu solchen Konzessionen ist zumindest die SVP bereit. So wird die Partei voraussichtlich weder mit Nationalrat Erich Hess noch mit Grossrat Thomas Fuchs antreten. Zwei profilierte Köpfe, die bei anderen Parteien allerdings polarisieren.
Als Kandidaten im Vordergrund stehen laut SVP-Präsident Thomas Fuchs derzeit die Stadträte Thomas Glauser und Janosch Weyermann sowie Stephan Ischi, der in den Rat nachrücken könnte. «Gewisse Parteien hätten am liebsten keinen SVP-Kandidaten auf der Liste gesehen», sagt Fuchs. Das komme nicht in Frage. Dennoch steht für den SVP-Präsident der Erfolg der Partei an zweiter Stelle: «Das Ziel sind zwei bürgerliche Sitze, obwohl ein eigener Sitz der SVP unwahrscheinlich ist.»
Laut Fuchs spielen in den Gesprächen um die grosse Liste auch die Finanzen eine Rolle. Die Wirtschaftsverbände würden wohl nur jenen Parteien Geld geben, die Kandidierende auf eine gemeinsame Liste schicken. «Derzeit bin ich optimistisch, dass die GLP mitmacht», sagt Fuchs.
Die bürgerlichen Parteien könnten der GLP zudem noch anbieten, als einzige Partei rechts von RGM fürs Stadtpräsidium zu kandidieren. So würde ihre Kandidatin auf der grossen Liste wohl sicher einen der beiden absehbaren Sitze erreichen.
FDP mit Esseiva oder Zimmerli
Auch die FDP drängt auf eine grosse Liste. Nimmt man ihr miserables Nationalratswahlresultat in Stadt Bern von nur 6 Prozent zum Massstab, reicht es ihr auf einer Liste nur mit der SVP nicht zu einem Sitz. FDP-Co-Präsident René Lenzin sagt: «Das Ziel sind zwei bürgerliche Sitze im Gemeinderat.» Und das erreiche man am besten mit einer Koalition von GLP bis SVP. Ohne die grosse Liste seien zwei bürgerliche Sitze schwierig zu erreichen. «Es werden in den kommenden Wochen nochmal Gespräche mit all diesen Parteien stattfinden, auch mit der GLP», sagt auch Lenzin.
Für die FDP könnte Grossrätin Claudine Esseiva kandidieren. «Wir wollen mit einer starken Kandidatur antreten», sagt Lenzin dazu. Valable Kandidaten seien sicher Grossrätin Esseiva und Grossrat Christoph Zimmerli. «Mit Claudine Esseiva haben wir schon Gespräche geführt», sagt Lenzin. Nationalrat Christian Wasserfallen hingegen steht nicht zur Verfügung.
Offen ist derzeit die Rolle der EVP, der kleinsten Partei, die an den Gesprächen teilnimmt. «Die Präferenz der EVP wäre eine Mitte-Liste mit der GLP und der Partei Die Mitte», sagt EVP-Präsidentin Bettina Jans-Troxler. «Falls diese nicht zustande kommt, müssen wir alle Optionen prüfen.» Eine dieser Optionen könnte auch die Rückkehr zum Bündnis Rot-Grün-Mitte sein. Und das wäre wohl noch ein Grund mehr, der Oppositionsparteien und insbesondere die GLP für eine grosse Liste motivieren dürfte.