«Früher dachte ich, um Bäuerin zu werden, müsse ich einen Bauern heiraten»
Mélanie Lehmann ist in der Stadt aufgewachsen. Und lebt für die Landwirtschaft.
Mélanie Lehmann ist zurück in der Stadt. Obwohl: «Tatsächlich war ich noch nie im Leben woanders angemeldet als in Bern. Mindestens Wochenaufenthalterin war ich immer», sagt sie lachend. Ja, diese Stadt sei für sie Heimat. Ihre ganze Kindheit hat sie hier verbracht.
Bis auf die Ferien, die Wochenenden, eigentlich alle unverplante Zeit. Dann war sie bei den Grosseltern. Die hatten einen Bauernhof.
«Schon als Meitschi wollte ich Bäuerin werden», erzählt Mélanie Lehmann und nimmt sich einen Klappstuhl mit in den Schatten der Monbijoubrücke. Dass der Sommer lang und sonnig war, sieht man an ihren gebräunten Schultern. An Wangen und Nase geht die Bräune in ein sanftes Rot über. Es lässt die sonnengebleichten Haare umso heller scheinen. Mélanie Lehmann ist viel draussen.
Sie ist jetzt 25, und wenn sie die letzten Prüfungen im Herbst überstanden hat, dann hat sie sich ihren Meitschitraum erfüllt. Fachfrau in biodynamischer Landwirtschaft darf sie sich dann nennen. Demeter-Bäuerin.
Etwas mit den Händen
«Das ist voll mein Ding», sagt sie. Das «Ding» hat vier Jahre gedauert und sie eine Menge Geld, Blasen an den Händen und Sonntagsarbeit gekostet. Und häufig wechselnde Wohnorte zwischen Schwarzwald, Ostschweiz und Neuenburger Jura. Mélanie Lehmann sagt, sie sei in dieser Zeit richtig aufgeblüht.
Dieser Traum von «einem Hof mit vielen Tieren und Menschen und Kindern», der beim Werkeln auf dem Kleinbetrieb der Grosseltern entstanden ist, hat sie nie mehr losgelassen. Warum? «Ich weiss es nicht genau», sagt sie. «Vom Morgen bis am Abend im Mist zu stehen, fühlt sich einfach richtig an.»
Das hat sie auch dazu bewogen, eine Lehre zu machen und nicht ein landwirtschaftliches Studium, wie sie es zuerst in Erwägung gezogen hatte. Das und die hochgezogenen Augenbrauen des Chefs auf ihrem ersten Praktikums-Hof, als sie ihm von der Idee mit dem Studium erzählt hatte. Im Mist stehend kam sie zum Schluss: Landwirtschaft muss man mit den Händen machen, und das ist es, was sie will.
Wenig Party für wenig Geld
Jetzt ist sie zurück in Bern, frisch eingezogen in ein WG-Zimmer im Breitenrain. Wie es weitergeht, weiss sie noch nicht. Aber es geht sicher zurück in die Landwirtschaft. Mélanie Lehmann möchte etwas Eigenes aufbauen, vielleicht kaufen oder pachten, gemeinschaftlich organisiert mit guten Leuten, so divers wie möglich, tierfreundlich, sozial. Und: «Enkeltauglich.» Was immer sie macht, es soll auch für nachfolgende Generationen dienlich sein. Mélanie Lehmann hat hohe Ideale.
«Aber ich habe gemerkt, dass ich eigentlich auch noch cheibe jung bin für so viel Verantwortung», sagt sie. Ihre Jugend habe sie nie richtig ausgelebt, wenn sie sich das so überlege. Während der Erstausbildung als Fachfrau Behindertenbetreuung nicht, als sie in einer Institution weit ab vom Schuss gearbeitet hat, die, wenig erstaunlich, auch zwei Bauernhöfe bewirtschaftete. Und während der Ausbildung zur Landwirtin erst recht nicht.
«Wer sich für Landwirtschaft entscheidet, besonders solche mit Tierhaltung, entscheidet sich auch für viel Arbeit», sagt Mélanie Lehmann. Und zwar: Viel Arbeit für wenig Geld. Mit abgeschlossener Ausbildung verdient sie rund 19 Franken pro Stunde, wenn sie sich auf einem Hof anstellen lässt. Ein 100 Prozent-Pensum sind in der Landwirtschaft 55 Stunden pro Woche, häufig auch am Wochenende.
Für die meisten Stadtkinder in ihrem Alter tönt das wahrscheinlich eher abschreckend. Was ist mit Ausgang und Sozialleben?
Das viele Arbeiten sei nicht das Problem, findet Mélanie Lehmann. «Mit genug Herzblut gebe ich mich gerne voll in eine Sache rein.» Aber eine gewisse Angst vor Vereinsamung wird sie nicht los. Besonders, wenn der Hof der Zukunft weit weg von der Stadt liegen sollte. «Und doch zieht es mich in den Jura, wegen der Topografie», sagt sie. Sich den vielen Reizen einer Stadt entziehen zu können, sieht sie auch als Privileg. Alles habe eben zwei Seiten.
Die schlechte Bezahlung findet sie problematischer als die Arbeitslast. Sie schränke ein. Mit dem Lohn aus der Landwirtschaft alleine eine Familie zu ernähren, wäre zum Beispiel extrem schwierig.
Der Realitätscheck
«Je länger ich in diesem Bereich tätig bin, desto mehr merke ich auch, wo ich von meinen Idealen abrücken muss, weil manches einfach nicht rentiert», sagt sie. Ein richtiger «Bullerbü-Hof» war es, der ihr früher vorgeschwebt hatte, mit einer grossen Vielfalt an Tieren und Pflanzen, denn: «Für einen natürlichen Kreislauf ist das am besten.» Heute weiss sie, dass Preisdruck, Richtlinien und örtliche Gegebenheiten es manchmal praktisch unmöglich machen, von allem ein wenig zu haben und trotzdem noch daran zu verdienen.
Auch im Umgang mit Nutztieren habe sie gemerkt, dass gewisse Praktiken unter den heutigen Bedingungen wirtschaftlich schwierig umzusetzen sind. Die Hofschlachtung etwa oder der Grundsatz, nur erwachsene Kühe und keine Kälber zu schlachten. «Früher dachte ich sogar, ich würde nur von Hand melken», sagt sie. Und heute erschreckt sie manchmal, wenn sie merkt: «Ich habe manche Ideale über Bord geworfen, die mir früher unantastbar schienen.»
Was bräuchte denn die Landwirtschaft, um weniger in den Pragmatismus gezwungen zu werden?
«Mehr Leute», ist für Mélanie Lehmann klar. Würden mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten, dann wäre die Aufgabe, Nahrung zu produzieren, auf mehr Schultern verteilt. Und das wiederum gäbe den einzelnen Produzent*innen mehr Freiheiten, ethischer und umweltverträglicher zu produzieren, statt Prozesse immer stärker zu industrialisieren.
Mehr Leute brauche es aber auch, die sich zumindest dafür interessieren, woher ihr Essen kommt. Denn mit einem Bewusstsein für die Prozesse dahinter würde auch die Bereitschaft steigen, faire Preise für Nahrungsmittel zu bezahlen. «Die anonymen Kaufmechanismen im Grosshandel funktionieren auch aus einem Mangel an Informationen heraus», findet Mélanie Lehmann. Aber: «Da geht etwas.»
Das Interesse der Konsument*innen steige, Konzepte wie das der solidarischen Landwirtschaft etablierten sich. Und Mélanie Lehman sagt: «Das ist ja auch ein Thema unserer Generation. Ich kenne wenig Leute in meinem Alter, die sich gar nicht dafür interessieren.»
Aber klar, sie lebe auch in einer Blase, meint sie. Quereinsteigerin mit irgendwie urbanem Öko-Hintergrund. War sie damit eine Aussenseiterin in der landwirtschaftlichen Ausbildung?
«Nein. Bei Demeter überhaupt nicht», meint sie. Da seien die Bauernkinder eher in Unterzahl gegenüber den Quereinsteiger*innen. Aus ihrer Ausbildung kennt Mélanie Lehmann auch die Menschen, mit denen sie gerne gemeinschaftlich einen Hof pachten würde. Dass das nicht so einfach ist, wie diese «Blase», in der sie lebt, es sich wünschen würde, merkt sie jetzt, wenn es konkret werden soll. Auch deshalb ist sie nun zurück in Bern. «Mein Plan war es, nach der Ausbildung direkt loszulegen», sagt sie.
Aber als Gemeinschaft an einen passenden Hof zu kommen und diesen dann zu führen, ist auch für Idealist*innen kein Vorhaben, das sich aus dem Ärmel schütteln lässt. Es ist nach wie vor schwierig, ohne familiäre Beziehungen an einen Betrieb zu kommen, und sich als Gruppe zu organisieren, erfordert viel Hingabe. «Auf die ganze Schweiz gesehen ist der klassische Familienbetrieb noch immer das Standardmodell eines Bauernhofes.»
Mit diesem Bild ist auch Mélanie Lehmann selbst gross geworden: «Als Kind dachte ich, ich müsse einfach einen Bauern heiraten, um Bäuerin zu werden», sagt sie. Und spricht damit patriarchale Strukturen an, die auch heute nicht aus der Landwirtschaft verschwunden sind: «Es gibt viele Ehefrauen von Bauern, die fast gratis arbeiten und die nicht sozialversichert sind. Oft hat nur der Mann eine landwirtschaftliche Ausbildung gemacht. Würde er wegfallen, wäre die Frau nicht mehr direktzahlungsberechtigt und könnte einen Hof damit nicht profitabel weiterführen. Das führt zu grossen Abhängigkeiten.»
Jung sein
Es gibt vieles, das Mélanie Lehmann anders machen möchte. Die Visionen sind da und das Fachwissen auch. Was noch fehlt, ist ein Hof. Und die richtigen Menschen, die sich im richtigen Zeitpunkt zusammen verpflichten wollen. Und womöglich auch: der richtige Zeitpunkt. Denn gerade fühlt Mélanie Lehmann sich gut in der Stadt. Vielleicht ist die Jugend, die sie noch nicht ausgelebt hat, jetzt doch noch an der Reihe.
Der Plan für den Moment also: jung sein, Teilzeit kellnern, Pläne schmieden und sich dabei Zeit lassen, um den eigenen Idealismus so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Und das Stadtleben wiederentdecken, das sich nicht mehr so selbstverständlich anfühlt wie früher. «Aber wer weiss, vielleicht ist mir das nach drei Monaten verleidet, und ich bekomme das Gefühl, dass ich dringend wieder Mist und Kühe in meinem Alltag brauche.»