Der Friseur auf der Hängebuche
Ohne Auto, aber mit Häcksler und viel Wissen über einen guten Boden im Gepäck: Der Bümplizer Baumpfleger Cyril Hausin fährt mit Cargo-Bike und Anhänger zur Arbeit.
Zum Geburtstag erhielt Cyril Hausin letztes Jahr ein spezielles Geschenk. Im Gemeinschaftsgarten seiner Wohnung im Süden von Bümpliz baute ihm ein Kumpel eine kleine, freistehende Steinmauer. Sie dient einem grösseren Wunsch, den er hegt: Eidechsen im Garten zu haben. Und tatsächlich, kaum ein Jahr später huschen die Kaltblüter über die von der Sonne gewärmte Steinfläche und verstecken sich zwischen den Ritzen. Ein Lebensraum für eine Tierart, die Hausins Vermieter schon verschwunden geglaubt hat.
Cyril Hausin ist Baumpfleger, Landschaftsgärtner und Advokat für Biodiversität im Garten. Es ist acht Uhr morgens, ein sonniger Februartag, das Bundeshaus erstrahlt im grosszügigen goldenen Licht der Morgensonne. Minus sechs Grad, der Fahrtwind auf dem Velo dringt selbst durch die gute Winterkleidung. Cyril Hausin trägt lederne Motorradhandschuhe, sie haben die gleiche rostbraune Farbe seines Barts, der auf seiner schwarzen Arbeitskleidung fast leuchtet. Der Bart ist aber gar nicht Cyril Hausins auffälligstes Merkmal. An seinem elektrisch betriebenen Lastenbike hängt ein Anhänger, gefüllt mit Laubbläser, Leitkegeln – und einem Häcksler. Hausin ist der erste und bisher einzige Baumpfleger der Schweiz, der seine Arbeit ganz mit dem Fahrrad verrichtet.
«Für mich ging es irgendwann nicht mehr auf», erklärt er seine Motivation. «Als Baumpfleger arbeite ich in einer grünen Branche, aber dann soll ich mit dem riesigen Transporter anfahren? Das ist nicht nachhaltig.» Also kaufte er sich einen Anhänger in Deutschland, einen Häcksler in Italien und schraubte den Häcksler auf den Anhänger. Seine Firma nannte er «Happy Tree Friends», angelehnt an die Flashcartoon-Serie aus den USA. Das ist jetzt zehn Jahre her.
Nach seiner Ausbildung zum Landschaftsgärtner hatte er eine zweite Lehre zum Forstwart absolviert und schliesslich die Weiterbildung zum Baumpfleger. Der Job brachte ihn rund um den Globus. Neuseeland, Schweden, Hawaii, Hamburg, Südtirol und Sansibar. «Es war mein grösster Traum, einmal einen Baobab, einen Affenbrotbaum, zu beschneiden», sagt er. Ein breites Grinsen füllt sein Gesicht. «Der Baobab ist der einzige Baum, der sein Eigenvolumen zur Wasserspeicherung um 30 Prozent vergrössern kann.»
Der Blick auf Bern West ist oft verstellt von dessen schlechtem Image. Doch, täuscht der Eindruck? Die «Hauptstadt» schaut hin – und verlegt von 20. bis 25. Februar 2023 ihre Redaktion ins Quartierzentrum Tscharnergut und publiziert eine Reihe von Artikeln aus dem und über den Berner Stadtteil Bümpliz-Oberbottigen.
Auch in den USA verbrachte Hausin viel Zeit. Hier lernte er, wie er arbeiten möchte – und wie sicher nicht. «In den Staaten ist alles wahnsinnig exorbitant», erinnert er sich. Die Geräte, die Autos, der CO2-Ausstoss. «Aber die Baumpfleger sind auch sehr effizient. Dieses Prinzip habe ich übernommen und heruntergebrochen auf etwas, das meinen Prinzipien entspricht.»
Cyril Hausin parkt sein Cargobike am Aareufer beim Dalmaziquai. Sein Blick schweift prüfend nach oben zu seiner heutigen Kundin: eine alte Hängebuche, deren Äste so tief reichen, dass sie vorbeifahrende Autos streifen. Er öffnet den Reissverschluss der Plane, die den vorderen Teil des Lastenfahrrades bedeckt, und zieht zwei Verkehrsschilder hervor. «Baumpflege» steht drauf. Hausin stellt sie im Abstand von etwa zehn Metern auf beiden Enden der Strasse hin, um vor herunterfallenden Ästen zu warnen. Dann zieht er ein Wurfleine hervor, zwei Gewichte beschweren sie an beiden Enden. Er wirft die Leine über einen Ast, zieht daran, schüttelt missbilligend den Kopf, zieht sie wieder runter. Ein erneuter Versuch. Und noch einer. Dreimal, bis die Wurfleine über einem stabilen Ast sitzt.
«Das ist eine Disziplin bei der Berufsmeisterschaft in Baumklettern», sagt Hausin, während er sich probeweise an das Seil hängt. Es ist lebenswichtig, den richtigen Ankerpunkt zu finden, denn an diesem Seil wird der Baumpfleger während der nächsten Stunde mit seinem ganzen Gewicht hängen. Cyril Hausin knüpft weitere Seile zusammen und befestigt diese an Baum und Körper. Er hängt sich nochmal prüfend an das Seil. Es scheint zu halten.
«Wie hoch hast du das Seil gespannt?», frage ich ihn, während Hausin Fusssteigklemmen an seinen Schuhen befestigt.
Hausin schürzt die Lippen, schätzt. «Achtzehn Meter vielleicht?»
Und dann, als würde es ihn nicht die geringste Kraft kosten, klettert er hoch und verschwindet in der Baumkrone der Buche. «Ast!», ruft er zwischendurch warnend nach unten. Dann heisst es, zur Seite springen. Die Strasse ist bald übersät mit den schlanken Ästen und Zweigen der Buche. Ich räume sie an den Rand, auf Hausins Anweisung hin rufe ich «Baum Stopp», wann immer ein Auto vorbeifährt oder ein Fussgänger des Weges kommt. Dann weiss der Baumpfleger, dass er warten muss. So geht das über eine Stunde. Cyril Hausin wandert durch das Dickicht der Äste, von ganz oben bis zu den tiefer hängenden im unteren Teil der Baumkrone. An seinem Gurt hängt eine kleine Musikbox, aus der leise Rockmusik dringt, während er mit der Präzision eines Friseurs die Auswüchse der Buche zurückstutzt.
Cyril Hausin verbringt so viel Zeit hoch oben in den Baumkronen, dass ihm die Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, auffallen. «Die Baumwipfel dorren zurück», stellt er fest. «Die Blätter färben sich schon im Juli oder August rot, gelb, braun. Das sind Anzeichen für den Trocken-Stress, dem die Bäume ausgesetzt sind.»
Für Hausin liegt die Antwort auf das Problem in der Erde. «Der Schlüssel für ein gesundes Ökosystem liegt im Boden», sagt er. «Der Humus enthält so viele wertvolle Nährstoffe, ausserdem hat der Boden eine Riesenkapazität, CO2 zu sperren.» Das bestätigt unter anderem ein Bericht des österreichischen Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft. Humus beherberge mehr organischen Kohlenstoff als die weltweite Vegetation und Erdatmosphäre zusammengenommen: «Kleine Änderungen in den Kohlenstoffflüssen», so der Bericht, «können daher die atmosphärische CO2-Konzentration und somit den Treibhauseffekt beeinflussen.»
Ein grosser Teil seiner Arbeit als Baumpfleger besteht für Cyril Hausin darum nicht nur oben in den Baumwipfeln, sondern in der Bodenpflege. «Ich entferne nichts aus dem Garten», erklärt er seine Methode. Äste, Zweige, alles zerhäckselt er noch vor Ort und verteilt es. Dadurch wird das Material aufgebrochen. «Mulchen», heisst dieser Prozess. Er erleichtert Pilzen, das Holz zu zersetzen und es wieder Humus werden zu lassen. Durch die Förderung von Humus wird auch das Wasserrückhaltungsvermögen im Boden erweitert.
Zu Hause in Bümpliz braut Cyril Hausin inzwischen sogar seinen eigenen Kompost-Tee zur natürlichen Bodendüngung. Guter, gesunder Kompost ist dafür die Ausgangslage. Dem Extrakt führt Hausin Wasser und Sauerstoff zu, als Katalysator dienen Kräuter, Steinmehl und weitere, geheime Zutaten. «Nach achtzehn Stunden», sagt Hausin begeistert, «vermehren sich die meisten Bakterien.» Cyril Hausin hat sich extra ein Mikroskop mit Kamera gekauft, um das Leben im Kompost beobachten zu können. «Mir hat sich eine neue Welt aufgetan», erzählt er. «Die Bakterien sterben, werden von den anderen Bakterien gefressen und wieder ausgeschieden – es ist ein fantastischer Kreislauf!»
Bäume, meint Cyril Hausin, seien im Grunde nicht viel anders als Menschen: Die Gesundheit liege in der Ernährung. «Ein guter Boden zeigt sich auch in der Krone.» Hausin geht sogar noch einen Schritt weiter. Er sagt: «Ein gesunder Boden heisst gesunde Pflanzen, heisst gesunde Tiere, heisst gesunde Menschen, heisst eine gesunde Welt.» Leider seien viele Baumpfleger und Gärtner nicht bereit, sich so intensiv mit der Umweltpflege auseinanderzusetzen. «Dieses Missverhältnis hat mich irgendwann genervt», meint er. «Wir nehmen nur weg, weg, weg – aber wir geben der Pflanze nichts zurück.» Cyril Hausin schüttelt den Kopf, sein Blick auf einmal müde. «Wir müssen der Natur mehr geben. Aber mein Hoffnungsfunke, dass wir etwas zum Guten wenden können, ist mit der Agrarinitiative von 2021 erloschen.» Hausin spricht damit die Pestizid-Initiative an, die ein vollständiges Verbot des Einsatzes von synthetischen Unkraut-Vernichtungsmitteln forderte und abgelehnt wurde.
Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, als Cyril Hausin vom Baum herunterklettert. Das sei höher gewesen, als er sonst klettere. War ihm nicht schwindlig? Er schüttelt den Kopf. «Nein, aber einmal hatte ich einen Auftrag auf einer Waldföhre bei starkem Wind. Da wurde ich fast ein bisschen seekrank.» Er lacht und beginnt, Schilder und Leitkegeln einzusammeln, ehe er mit dem elektrischen Laubbläser das Laub und feine Zweige von der Strasse bläst. Dann packt er alles sorgfältig in sein Cargobike zurück. Jedes Ding hat seinen exakten Platz.
Von den Kollegen in der Baumpfleger-Szene, erzählt Cyril Hausin, werde er belächelt. «Ich bin der Einzige, der sich gegen die übliche Art der Schnittgutentsorgung sträubt», sagt er. «Mein Häcksler ist winzig im Vergleich zu den grossen Maschinen, mit dem andere vorfahren. Ausserdem habe ich kein krasses Auto. Deswegen nehmen mich viele nicht ernst.» Aber, fügt er hinzu, er mache keine «Büez», hinter der er nicht stehen könne. Dafür hat Cyril Hausin auch schon gute Aufträge ausgeschlagen.
Dann fällt ihm doch noch etwas ein, was ihm im Anblick der Klimakatastrophe Mut schenkt. Es ist die Natur selbst, die sich alles zurückholt, was ihr genommen wird. «In Tschernobyl hat man Pilze entdeckt, die Radioaktivität abbauen können», erzählt er und die Freude in seinem Blick erwacht wieder. Es gebe Pilze, die Erdöl abbauen können, und solche, die ein Enzym produzieren, das PET abbauen kann. «Pilze», sagt er nachdenklich, «sind ein Hoffnungsschimmer.»
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Einige Passagen wurden auf Wunsch von Cyril Hausin im publizierten Text noch präzisiert.