Die Hüter*innen der Geheimsprache
Ein kleiner Verein bemüht sich um ein Stück Stadtgeschichte und den Erhalt des Matteänglisch. Doch das ist gar nicht so leicht.
«Ja, sicher bin ich getauft», sagt Christine Ris, während wir durch die Matte spazieren. Mit Taufe meint sie allerdings kein kirchliches Ritual, sondern eines der «Mätteler»: Früher haben Kinder sich gegenseitig in den Matte-Bach geworfen, erzählen Christine Ris (72) und Alfred Blaser (73), während sie «ihre» Matte zeigen. Es war mehr als eine Mutprobe. Wer dazugehören wollte, musste da durch.
Heute wird das kaum noch gemacht. Wie auch? Der Matte-Bach ist bloss noch ein kleines Rinnsal, das neben der Gerberngasse durch ein Beton-Bett fliesst. Die Matte sieht heute anders aus als früher, hat viel erlebt seit dem Mittelalter: Vom Handelsquartier zum Armenquartier zum Trendquartier. Wo früher das Handwerk zuhause war, stehen nun viele Autos auf den Strassen. «Jetzt hat es immer wieder neue Firmen hier», meint Blaser leicht resigniert. Und was ihn besonders beschäftigt: Das Matteänglisch mehr und mehr verloren, ist heute mehr Mythos als gelebte Sprache.
Christine Ris und Alfred Blaser wissen noch, wie es früher war. Und sie möchten diese Erinnerungen bewahren. Die frühere Kauffrau, die heute in Bern Stadtführungen gibt, und der gelernte Schlosser sind beide in der Matte zur Schule gegangen. Obwohl sie mittlerweile nicht mehr oft dort unterwegs sind, engagieren sie sich im Präsidium des Matteänglisch-Clubs. Der kleine Verein zählt knapp 230 Mitglieder und hat sich dem Erhalt der Geschichte der Matte und ihrer Sprachen verschrieben.
Das schwarze Quartier
Geschichte ist das Metier von Christine Ris. Die erfahrene Stadtführerin weiss viel über die Matte zu berichten. So zum Beispiel über den Einmarsch Napoleons in Bern und die resultierende Unterteilung der Stadt in verschiedenfarbige Quartiere. Die Matte erhielt die Farbe Schwarz. Die Strassen-Schilder sind hier heute noch in dieser Farbe angebracht.
Auch über Rudolph Lindt und seine Fabrik in der Matte kennt sich Ris im Detail aus. Dieser hat im 19. Jahrhundert mit seinem Rezept die Schokoladenherstellung revolutioniert. Und wann genau war das jetzt noch mal? «Die Jahrzahl ist doch nicht so wichtig», meint Blaser, während wir über die Schoko-Dynastie Lindt und ihren Untergang sprechen. «Doch, natürlich! Das hatte einen grossen Einfluss auf die Matte!» entgegnet Ris. Man merkt, dass ihr das Quartier und seine Geschichte am Herzen liegen. Denn: «Ohne Matte kein Bern».
So sehr sich die beiden für die Vergangenheit der Matte begeistern können, umso betrübter sind sie über gewisse zeitgenössische Erscheinungen. Dass in der Matte – wie überall in Bern – an vielen Orten Graffiti und Tags an Fassaden gesprayt werden, findet Blaser respektlos. So auch an der alten Telefonkabine nahe der Rialtobrücke, deren Schaufenster die beiden für ihren Club gestalten durften. Angebracht sind dort Bilder von der früheren Matte und berndeutsche Wörter, die ins Matteänglisch übersetzt wurden.
Plaudern im Wöschhüsi
Und das geht so: Beim Übersetzen in die Geheimsprache wird das Wort nach dem 1. Vokal abgetrennt und hinten am Restwort angehängt. Die «Lücke» vorne wird durch ein «i» ersetzt und am Schluss wird der letzte Vokal umgewandelt in ein «e».
Der Erhalt dieser Sprachpraxis ist Programm des Matteänglisch-Clubs. Einmal im Monat treffen sich die Mitglieder zum «Höck», um sich über das Matteänglisch auszutauschen. «Normalerweise treffen wir uns im Mühlirad, unserer Stammbeiz in der Matte», erzählt Blaser. Doch die hat grad Ferien.
Also findet das Treffen im «Wöschhüsi» statt. Wie der Name verrät, wurden dort früher über Feuer und mit Kupferkessel und Waschbrett Kleider gewaschen. Dazu wurde geplaudert. Auch heute noch trifft man sich dort, um sich auszutauschen. Beispielsweise für ein gemeinsames Zmittag.
Ab dem nächsten Jahr will der Club immer dort zusammenkommen. Im Restaurant sei es zu laut und dann werde schnell über anderes geredet, führt Blaser aus. Der Fokus soll auf der Sprache liegen. Das gelingt gut im kleinen, ruhigen Häuschen. «Iessech’gre» ertönt es, während ein Club-Mitglied nach dem anderen reinströmt. Später lauschen die Anwesenden gespannt dem Referat von Bäru, einem ehemaligen Co-Präsidenten des Clubs. Ris und Blaser werden hier Chrige und Fredu genannt. Auch die anderen Anwesenden tragen Spitznamen.
Der ehemalige Präsident, Peter Hafen alias Bäru, berichtet nun über Dialekt und Geheimsprache, die nicht zu verwechseln seien. Während der Dialekt – genau so wie Berndeutsch – eine eigene Form des Schweizerdeutschen ist, handelt es sich beim Matteänglisch um eine Wortumstellung auf Basis des Dialekts. Das System könnte grundsätzlich auf Wörter aller Sprachen angewendet werden. «Aber das machen wir nicht!», meint Christine. Es geht den Club-Mitgliedern um die historische Praxis.
«Zwo» nid «zwöi»
Am Höck sind sich alle einig: Leider wüssten die meisten Leute heute gar nicht mehr, was Matteänglisch überhaupt ist. Und viele verwechseln es mit dem Mattedialekt. «E Ligu Lehm, sagt den meisten noch etwas, aber das ist Dialekt und nicht Matteänglisch», meint ein Club-Mitglied. Was den Dialekt auszeichnet, sind die Einflüsse aus anderen Sprachen, die in der Handelszeit in das ehemalige Hafenquartier Einzug hielten. So kommt das Wort «Lehm» beispielsweise aus dem Hebräischen, von «Lechem», und heisst Brot.
Während man in der Matte noch bis 1965 Dialekt und Matteänglisch gesprochen habe, sei durch die Industrialisierung alles anders geworden. Das Quartier veränderte sich, viele Leute zogen weg und andere zu. Die Neuen wussten nicht, wie früher in der Matte gesprochen worden war. Und so ging die Geheimsprache langsam vergessen. Diesem Trend wollten schon damals Leute entgegenwirken: Sie gründeten 1959 den Matteänglisch-Club.
Es sind wenige, eher ältere Berner*innen, die am Höck des heutigen Matteänglisch-Clubs zusammenkommen. Was die Versammelten ausserdem eint: Eine gewisse Spitzfindigkeit. Es wird Wert gelegt auf «korrekte» Aussprache und das Verwenden von «richtigen» Wörtern. So korrigiert die gesamte Runde immer wieder falsche Ausdrücke, wenn zum Beispiel «zwöi» statt «zwo» gesagt wird, wie es im Berndeutschen bei weiblichen Subjekten eigentlich gemacht wird.
Dass heutzutage viele Leute gar kein richtiges Berndeutsch mehr sprechen, finden die Club-Mitglieder ebenso schade wie die Tatsache, dass der Mattedialekt und die Geheimsprache verschwinden. Diese Sprachen vor Veränderungen zu bewahren, ist ihnen deshalb ein grosses Anliegen. «Wir haben auch anders als unsere Eltern gesprochen und wurden korrigiert», so Blaser. Nun ist er selbst in der Position, in der seine Eltern damals waren. «Ich sagte der Französischlehrerin ja auch nicht, dass das Sprachwandel sei, wenn ich einen Fehler gemacht hatte», pflichtet ein anderes Club-Mitglied bei.
Ein Kampf gegen die Zeit
Das Club-Treffen soll der Schieflage Abhilfe schaffen. Wie in einem Sprachkurs werden Matteänglisch- oder Dialekt-Wörter abgefragt. Und es wird diskutiert: Übersetzt man die Wörter so, oder anders? Und wie war das früher? Viele haben Leitfäden und Übersetzungs-Anleitungen dabei. Auf der Homepage hat der Club sogar ein Programm für eine automatisierte Übersetzung aufgeschaltet.
«Aber wann braucht ihr eigentlich das Matteänglisch?» fragt jemand in die Runde. «Ja, eigentlich nie» kommt zurück. Es stellt sich raus: Vor allem beim Sprechen über andere Leute kommt die Geheimsprache zum Zug. Oder beim Club-Treffen. Aber selbst in der Runde sieht es mager aus. Bis auf einige Mätteler*innen, die Matteänglisch als Kinder und während der Schulzeit in der Matte-Schule gelernt haben, kann kaum jemand fliessend sprechen.
So wird klar: Trotz der grossen Begeisterung Einzelner ist das Matteänglisch die historische Eigentümlichkeit einer Matte, die es so nicht mehr gibt. Doch gerade deshalb ist bemerkenswert, dass durch die Mitglieder des Matteänglisch-Clubs Wissen gewahrt wird: Sie halten ein Stück Stadtgeschichte in Erinnerung.