Die Vision für die Berner Kultur: Mehr Durchmischung
In Bern gibt es seit Anfang Jahr eine neue städtische Förderpraxis. Was bedeutet sie für Kulturschaffende? Am «Hauptstadt»-Podium im Tojo kam aber auch die fehlende Vielfalt in der Berner Kultur zu Sprache.
«Die «Hauptstadt» macht fast alles!» Mit diesen Worten eröffnet «Hauptstadt»-Journalistin und Moderatorin Marina Bolzli das Podium im Tojo Theater zur Standortbestimmung der Berner Kultur. Nachdem die «Hauptstadt» bereits die gesamte Woche im Tojo gearbeitet hat, wird an diesem Freitagabend auf der Bühne über das Arbeiten von Kulturschaffenden gesprochen. Und über die neue städtische Förderpraxis. Auf den roten, blauen und braunen Polstersesseln des Tojo-Theaters hat sich ein Publikum eingefunden, dem ein Abend voller Konsens und Utopien bevorsteht - ein Programm, das gut in die Reitschule passt.
Giulia Meier, die stellvertretende Leiterin Kultur Stadt Bern, hat mitgeholfen, die neue Kulturförderpraxis zu erarbeiten. Seit Anfang Jahr wird in einer 44-köpfigen Kommission über alle Gesuche entschieden und das Geld für die verschiedenen Projekte aus demselben Topf bezahlt. Sie erzählt: «Mit Tanz, Theater, Musik und Literatur haben wir vier unterschiedliche Kulturen zusammengelegt». Das neue System zu etablieren brauche viele Ressourcen, allen voran Beziehungsarbeit und Vertrauen. Man müsse sich erst finden in dieser grossen Kommission.
Das bestätigt Kommissionsmitglied Daniela Ruocco. Sie macht selbst Kunst und ist im Vorsitz des Verbands «t. Theaterschaffen Bern». Es tue weh, aus der Opposition rauszukommen, meint sie mit einem Schmunzeln und erntet dafür Lacher aus dem Publikum.
Ruocco hatte früher Mühe, nachzuvollziehen, was man für eine Förderung tun muss. Nun entscheidet sie zusammen mit 43 weiteren Berner*innen darüber, welche Gesuche «bühnenwert» sind, wie es die Podiums-Teilnehmenden nennen. «In der neuen Kommission haben wir alle verschiedene Hintergründe. Da gibt es ganz unterschiedliche Wahrheiten und Blicke auf die Gesellschaft und Meinungen darüber, welches Gesuch gefördert werden wollte», so Ruocco. Die Entscheidungsfindung sei deshalb komplex.
Durchmischung = Diversität?
Dass in der neuen Kommission die Sparten gemischt werden, begrüssen alle Diskutierenden. Das Bewusstsein dafür, dass Diversität und Durchmischung richtig und wichtig seien, ist sowohl bei den Kunstschaffenden wie auch bei der Verwaltung vorhanden. «Was gefördert wird, ist ein Spiegel derer, die fördern. Das ist bei uns angekommen.» berichtet Meier.
Später wird dazu auch eine Publikumsfrage gestellt werden: Wie denn die Zusammenstellung der Kommissionsmitglieder hinsichtlich Diversität aussehe – nicht bloss bezogen auf den künstlerischen Schwerpunkt. Das sei ein bisschen in den Hintergrund gerutscht, so Meier. Man habe allerdings zusammen mit «Pro Helvetia» daran gearbeitet, diverser zu werden. Ein positiver Schritt: Seit sechs Jahren würden freie Kommissionssitze öffentlich ausgeschrieben mit dem Hinweis, dass Diversität erwünscht sei.
Anna Spörri, Tanzschaffende im Bereich Hiphop, findet das auch wichtig. Sie zieht den Faden weiter: Diversität sei zwar im Trend. Aber die Strukturen blieben oft gleich. Sie meint damit: Die Leitung, das Kunst- und Kulturverständnis oder etwa die Entscheidung darüber, was «bühnenwert» sei. Dort gebe es eigentlich kaum Änderungen.
«Black lives made my career» gibt sie zu Bedenken. Aber mittlerweile schreibe sie nicht mehr in alle Gesuche, dass sie sich auch als Aktivistin gegen anti-schwarzen Rassismus einsetze. Weil sie beim Café Revolution (ein safer space für Menschen, die von anti-schwarzem Rassismus betroffen sind) mitmacht, hat sie von einer Stiftung auch schon mal eine Finanzierungs-Absage bekommen. «Zu politisch» hiess es. Spörri fände es deshalb besser, wäre Diversität gar kein Thema und könnten die Leute einfach Kunst machen. Das sei allerdings Zukunftsmusik. Heute sieht sie deshalb ihre Rolle darin, sich für Diversität einzusetzen.
Das perfekte Kulturlokal
Sich für mehr Diversität und Durchmischung einsetzen, das will auch Dominik Gysin, Schauspieler und Mitinitiator des neuen Veranstaltungslokals Sous Soul. Seit er professionell schauspielere, fluche er über Häuser. Sein Plan sei es deshalb, zu zeigen, wie er sich einen Kulturort vorstellt, so Gysin. Die Idee: Eine Durchmischung von Konzert, Theater, Party, Literatur und Gastro. Das Sous Soul soll ein Treffpunkt werden für verschiedene Kulturschaffende. Zudem wollen Gysin und sein Team faire Löhne zahlen, aber dennoch am Markt finanziert sein. «Wir werden sicher die perfekte Lösung finden», meint der Theaterschaffende lachend.
«Braucht Bern einen Treffpunkt für Kulturschaffende aller Richtungen?», fragt Marina Bolzli in die Runde. Einstimmiges Nicken.
Weg von den Rastern
Wenn sie Projekte erarbeiten und diese auf Bühnen zeigen wollen, fühlten sie sich oft in einer bettelnden Rolle, berichten Ruocco und Spörri. Dass das Sous Soul sich als Haus an den Kulturschaffenden orientieren will, findet deshalb grosse Zustimmung unter den Podiums-Teilnehmenden. Sie begrüssen auch, dass die neue städtische Förderpraxis sich stärker an den Projekteingaben orientieren will als an den eigenen Rastern.
Auch faire Löhne und Sozialabgaben sind Teil des neuen städtischen Förderungskonzepts. Das bezeichnet Meier als Professionalisierung. Projekte, die – wie in der Branche üblich – bloss dank Selbstausbeutung zustande kommen, werden so weniger wahrscheinlich gefördert. Was das für Auswirkungen darauf habe, welche Gesuche gefördert werden? Es sei zu früh, um eine Bilanz zu ziehen, beantwortet Meier die Frage von Marina Bolzli.
Klar ist auf jeden Fall, dass aktuell mehr Gesuche eingehen als in Vorjahren, berichtet Meier. Sie findet das eine gute Entwicklung. «Viele Leute wollen kreativ sein, das ist toll. Das sorgt auch für kulturelle Vielfalt.» Und man könne ja nach wie vor unentgeltliche Projekte durchführen. Ja, findet auch Gysin – Kunstschaffende produzierten immer wieder Projekte trotz fehlendem Geld. Aber das sei ja eigentlich ein Witz, dass man in der Stadt Bern zu wenig Geld für Kultur habe. Aber immerhin sei es schön zu sehen, dass der Wille bei der Stadt vorhanden wäre.
Nächster «Hauptsachen»-Talk: Dienstag, 10. September, 19.30 Uhr, Aula Progr. Thema: Wer wird Stapi? Wie ticken die Kandidierenden und warum sollen die Berner Stimmberechtigten gerade sie wählen? Mit Alec von Graffenried (GFL), Marieke Kruit (SP), Melanie Mettler (GLP) und Janosch Weyermann (SVP).