Einmal Genossenschaft, schlüsselfertig
In der Siedlung Huebergass hat sich mit der Halter AG eine Gesamtdienstleisterin ins Genossenschaftsfeld begeben. Nach zwei Jahren und einigen Differenzen zeigt sich: Das Modell findet eine Fortsetzung.
Zur Wohnung von Nadine Schmid geht es die Aussentreppen hoch, vorbei an lauschigen Balkonecken, unordentlichen Schuhgestellen und üppig wuchernden Topfpflanzen. Im obersten Stock wohnt sie mit ihrer Familie. Von hier aus lässt sich die ganze Siedlung Huebergass überblicken. Die farbigen Fahnenketten, die behängten Wäscheleinen, begrünte Balkone, alles voller Leben. Ein Paradies für alle, die gerne gemeinschaftlich wohnen. Und erst noch zu einem unschlagbaren Preis: Im Schnitt kostet der Quadratmeter 179 Franken. Sechs quersubventionierte 5,5 Zimmer Wohnungen von 106 Quadratmetern kosten sogar nur 1100 Franken Miete.
Vor gut zwei Jahren war Einzugstermin. Die Bewohner*innen der 102 Wohneinheiten übernahmen die fixfertig gebaute Siedlung von der Gesamtdienstleisterin Halter AG. Seither gab es fast nur interne Mieterwechsel, ein Zeichen, dass das Leben in der Siedlung den Erwartungen der Menschen entspricht.
Das ist nicht selbstverständlich, denn die Huebergass ist anders als andere Genossenschaftssiedlungen. Sie wurde von einem kommerziellen Bauunternehmen konzipiert, das dazu eine Genossenschaft gründete und diese mit eigenen Leuten besetzte. Das ist unüblich, denn Wohnbaugenossenschaften gründen sich im Normalfall bereits vor Baubeginn und planen dann das Wohnprojekt gemeinsam.
Darum gab es in genossenschaftsnahen Kreisen auch einige Vorbehalte gegenüber dem Projekt; gegenüber der Idee, dass auch eine Gesamtdienstleisterin im genossenschaftlich organisierten Bauwesen mitmischen kann, dass ein am renditeorientierten Markt tätiges grosses Unternehmen nicht nur baut, sondern selber eine Genossenschaft gründet. Wobei etwa Lea Gerber vom Dachverband der Genossenschaften meint: «Innerhalb des Verbands wurde das kontrovers diskutiert. Grundsätzlich sehen wir es aber als Chance, wenn sich mehr Kräfte für den gemeinnützigen Wohnungsbau einsetzen.» Schliesslich beträgt der Anteil an genossenschaftlichem Bauen an der gesamten Bautätigkeit bisher lediglich 6 Prozent.
Mediation
Wie blicken die Akteur*innen auf die ersten zwei Jahre in der Siedlung zurück? Was lief gut und was weniger? Und was schliesst die Halter AG, die auch bei den beiden geplanten EWB-Hochhäusern als Totalunternehmerin engagiert ist, aus dem Pilotversuch? Um das herauszufinden, hat die «Hauptstadt» die drei Genossenschafts-Vorstandsmitglieder Nadine Schmid, Hussein Noureddine und Uli Ganitta getroffen, sowie mit dem verantwortlichen Projektleiter Raphael Burkhalter von der Halter AG gesprochen.
Klar ist, der Prozess lief nicht schmerzlos und ohne Zwischenfälle ab. Vor gut einem Jahr brauchte der damalige Vorstand gar eine Mediation. Von Seiten Bewohner*innen war es schwierig, Vertrauen gegenüber den langjährigen Halter-nahen Vorstandsmitgliedern aufzubauen. Vor allem, weil die Halter AG während dem Bauprozess Auftraggeberin (als Genossenschaft) und Auftragnehmerin (als Gesamtdienstleisterin) in einem war.
Es wurden Interessenkonflikte vermutet und die frisch Eingezogenen wollten die dominante Rolle der Halter-nahen Vorstandsmitglieder bereits vor dem nach zwei Jahren geplanten Austritt entschärfen. «Die neuen Vorstandsmitglieder haben von mir verlangt, dass ich für alles haftbar wäre, aber keinen Einfluss mehr auf Entscheide hätte», sagt Raphael Burkhalter. Schliesslich einigten sich die Akteur*innen darauf, dass die verbliebenen Halter-nahen Vorstandsleute auf Juni 2022 geordnet zurücktreten – aber dem neuen Vorstand immer noch mit Rat und Wissen zur Seite stehen würden.
Klar ist aber auch, dass sich die Situation mittlerweile auf beiden Seiten beruhigt hat. Dass die Halter AG früher als geplant einen Schritt zurückgetreten ist und den Bewohner*innen die Siedlung überlassen hat. In den Gesprächen zeigt sich: Es ist viel Verständnis für die Sicht der anderen da, man hat aus dem Prozess gelernt – das Modell hat sich so weit als tauglich erwiesen, auch wenn ein grosser Brocken noch ansteht: die Behebung der Mängel.
Mängelliste
Unten in der Gasse stehen zwei Dreikäsehochs breitbeinig da und finden: «Hier ist gesperrt.» Lachend nimmt Nadine Schmid einen Umweg. Im Mai letzten Jahres habe er 106 Kinder in der Siedlung gezählt, sagt Uli Ganitta und Hussein Noureddine ergänzt: «Monatlich kam im ersten Jahr ein neues hinzu.» Die Genossenschaft wächst – und auch die Verbundenheit mit ihr. Denn etwas haben die drei Vorstandsmitglieder gemerkt: «Es fehlte an der Diskussionskultur, die mussten wir erst aufbauen und sind immer noch dran», sagt Hussein Noureddine. Und Nadine Schmid meint: «Baulich war alles da, sozial jedoch nicht.»
Im laufenden Jahr bietet sich die Chance, noch enger zusammenzuwachsen. Denn das grosse Thema war die Erstellung der Mängelliste, die zur Einhaltung der ersten Gewährleistungsfrist zwei Jahre nach dem Bau ansteht. «Dadurch konnte auch die Identifikation mit der Huebergass gefördert werden», findet Uli Ganitta, «im Zuge der Mängelerhebung musste mitunter das Bewusstsein unter den frischgebackenen Genossenschaftsmitgliedern geschärft werden: Der Bau gehört uns, es liegt an uns, genau hinzuschauen.»
Doch dabei gebe es auch Herausforderungen: Denn niemand des aktuellen Vorstands, niemand der Bewohner*innen, war beim Bau dabei. «Wir haben sehr engagierte Menschen, die sich in die Baupläne vertieft haben. Zusätzlich haben wir auch einen externen Berater beigezogen», sagt Nadine Schmid. Es sei eine leichte Unsicherheit da – Wie wirkt sich die Nähe zu Halter auf den Bau, die Baumängel und den Umgang damit aus? «In einem halben Jahr wissen wir mehr», sagt Hussein Noureddine, der Pragmatiker. Und Nadine Schmid meint: «Es wäre eine vertrauensbildende Massnahme gewesen, wenn im Vorstand nicht nur Halter-nahe Leute, sondern auch neutrale Personen gewesen wären.»
Mehrwert für die Gesellschaft
Szenenwechsel. Raphael Burkhalter sitzt in einem grossen Sitzungsraum am Europaplatz. Hier hat die Halter AG ihre Niederlassung, im selben Gebäude, in dem sich auch das Haus der Religionen befindet. Halter hat das Haus gebaut. «Wir haben kein Interesse daran, dass es bei der Huebergass nicht gut kommt, dafür ist sie uns zu wichtig», sagt Burkhalter. Schliesslich komme Halter mehrheitlich über zufriedene Kund*innen zu neuen Aufträgen.
Burkhalter ist Anfang 30, sehr redegewandt und hat in den letzten Jahren eine steile Karriere hingelegt. Vom Halter-Trainee vor sechs Jahren stieg er zum Bereichsleiter Business Development Region Bern auf. Jetzt akquiriert er für Halter neue Projekte. Die Huebergass begleitete er bis zur Baueingabe als Projektleiter, danach sass er bis letzten Sommer im Vorstand. «Ich bin kein seelenloses Wesen, ich würde das nicht machen, wenn ich nicht dahinter stehen könnte.»
Warum will die Halter AG überhaupt im Genossenschaftsbereich tätig sein, Herr Burkhalter? «Es ist ein zusätzliches Geschäftsfeld», sagt er, «noch dazu ein Markt, der wächst.» Aber das sei nicht der einzige Grund. «Es geht auch um die Sinnfrage: Was bietet einen Mehrwert für die Gesellschaft?» Die Halter AG habe durch dieses Pilotprojekt gelernt, was Genossenschaften bewege. Das will die Firma auch auf künftige Projekte anwenden: So sind weitere genossenschaftlich organisierte Bauvorhaben in den Kantonen Zürich und Luzern sowie in Toffen geplant. «Das ergibt Sinn, wenn eine Gemeinde preiswerten und gemeinschaftlich genutzten Wohnraum schaffen will», sagt Burkhalter. Und dann steht auch ein Prestigebau an: die beiden EWB-Hochhäuser mit einem Bauvolumen von 250 Millionen Franken. Halter will auch dieses Projekt genossenschaftlich organisieren. Die Genossenschaft Viadukt, bestückt mit Halter-nahen Leuten, ist bereits gegründet.
Einige Sachen werde man bei den neuen Projekten anders angehen: «Es wird klarere Strukturen geben», sagt Burkhalter und zählt auf: «Wir müssen klarer kommunizieren, wir müssen die Leute mehr mitnehmen, wir müssen die Bereiche transparenter und schneller voneinander abgrenzen.» So stark persönlich engagieren wie in der Huebergass wollen und können sich die Halter-Leute nicht mehr. «Ich kam an meine Grenzen.»
Andere Kommunikation
Auch die neuen Vorstände in der Siedlung kamen an ihre Grenzen, denn die Halter-Leute waren seit mehreren Jahren am Projekt dran, es waren eingespielte Abläufe. «Es fühlte sich an, wie in einen fahrenden Zug einsteigen, wir hätten schnell Entscheidungen treffen sollen, waren aber noch nicht so weit und mussten Gegensteuer geben», erinnert sich Hussein Noureddine, der als einer der ersten Bewohner*innen in den Vorstand gewählt wurde. Das unterschiedliche Tempo habe es schwierig gemacht. Ausserdem habe der vorherige Vorstand professionell-kommerziell kommuniziert, die neu Gewählten wollten Informationen aber transparenter und eher familiär-freundschaftlich vermitteln.
Trotzdem, alle drei sind sich einig, dass sie wieder in eine Genossenschaft einziehen würden, die schon fixfertig gebaut ist. «All die langwierigen Prozesse vorher hat man nicht, das ist praktisch und ein enormer Zeitgewinn», sagt Uli Ganitta. «Ich würde mir lediglich wünschen, dass die Weiterreichung nicht so harzig laufen würde und schon vorgängig mehr ins Soziale investiert würde.»
Auf dem Balkon von Nadine Schmid stossen die drei spontan miteinander an. So, wie sich das ab und zu ergibt in einer fast normalen Genossenschaftssiedlung.