Erinnerungen der Stille

Mit «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» legt Tabea Steiner nach zwei Romanen einen Essayband vor, in dem sie die Stille sprechen lässt. Das ist persönlich – und birgt doch gesellschaftspolitische Sprengkraft.

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(Bild: Jörg Kühni)

Ausgehend von persönlichen Erinnerungen denkt Tabea Steiner im Essayband «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach. Die Autorin beobachtet in ihrer Erdgeschosswohnung online das Nest eines Falkenweibchens, während sie ihrerseits von einem Fernsehteam gefilmt wird. Oder da ist die Katze, die der Bar 63 einen kurzen Besuch abstattet, während die Autorin über die Produktion von Rum und Gin nachdenkt.

Diesem Beobachten wohnt eine friedliche Ruhe inne. Tabea Steiner, Literaturvermittlerin und Mitgründerin mehrerer Literaturfestivals wie etwa Literaare in Thun, zeigt damit nach zwei Romanen eine neue Facette ihres Schreibens.

Im Essay «Nachdenken über Bäume» unternimmt die Erzählerin mit einer Freundin einen Waldspaziergang, nachdem morgens die Rosskastanie vor dem Fenster fiel. Die Freundinnen sprechen über Erika Burkarts Lyrik, über die Verbindung von Schnee und schweigen, bis sie sich in einem Schneesturm wiederfinden. Im Frühsommer ist der Lieblingsbaum der Freundin verschwunden und an die Stelle der Rosskastanie wurden zwei neue Bäume gepflanzt, die bereits im Baumkataster der Stadt erfasst sind.

Ohrfeige vom Metzger

Die Essays handeln aber auch von einer unangenehmen Stille, die aufgrund des Schweigens laut wird. Da flackern Szenen aus der Kindheit auf dem Bauernhof auf; die Erzählerin erinnert sich, wie sie sich als Siebenjährige auf die Zehenspitzen stellte, um durchs Fenster einen Blick ins Schlachthaus zu werfen, wo gerade eine kranke Kuh notgeschlachtet wird. Dafür kassiert sie vom Metzger eine Ohrfeige. «Ich verstand nicht, warum ich nicht sehen sollte, was ich sowieso schon wusste. Ich war vom Leben auf dem Bauernhof, wo ich aufwuchs, an einiges gewohnt». Das Mädchen sieht etwa zu, wie der Tierarzt die Kühe künstlich besamt, sie ist bei der Geburt der Kälber dabei und weiss, dass ihre Hasen, die sie mit Gras und Kraftfutter füttert, später auf einem Teller landen.

Da sind aber noch andere Dinge, von denen das Mädchen nichts wissen soll und welche die Erzählerin erst Jahre später erfährt, als die Grossmutter, unter deren Obhut sie stand, verstorben ist und sie auch den Vater nicht mehr befragen kann.

Dieses Schweigen findet auch im Essay «Schnelle Autos» einen Widerhall. Ort des Geschehens ist erneut der Ort der Kindheit; eine Schnellstrasse schneidet das Dorf entzwei, heute prägen amerikanische Häuser ohne Keller mit einem überdachten Parkplatz und eine Dorfbeiz im Stil eines Wild West Saloon das Dorfbild, wie uns die Erzählerin verrät. «Ich hatte mir, nachdem ich das Dorf verlassen hatte, als Erstes die Haare kurz geschnitten, und es hat lange gedauert, bis ich wieder an diesen Ort zurückgekehrt bin. Ein Zuhause hatte ich anderswo gefunden, in Büchern, in Bildern, und ein wenig auch in der Musik.»

Der Essay handelt von der ersten CD, die sie sich kauft – eine CD von Tracy Chapman, die sie nur hören darf, weil darauf ausser Stimme und Gitarre keine weiteren Instrumente zu hören sind. Jahre später erklingt wieder Chapmans Sound, anlässlich der Country Music Awards, die Luke Combs mit seiner Coverversion von «Fast Cars» gewinnt.

Mittlerweile ist die Erzählerin des Englischen mächtig geworden und der Song offenbart nicht nur einen Road Trip mit schnellem Auto, sondern spricht auch von ihrer eigenen Geschichte, vom Ausbruch aus einer viel zu engen Welt.

Zuerst auf Englisch

Das christlich-fundamentalistische Umfeld, das in den Essays anklingt, hat die Autorin längst hinter sich gelassen. Die Ironie des Schicksals führte dazu, dass eine Publikation mit sieben ihrer Essays erst im englischen Verlag «Strangers Press» erschien, ins Englische übersetzt von Jozef van der Voort.

Das heimische Publikum verlangte nach einer Publikation in der Originalsprache und so kamen acht weitere Texte hinzu. «Die einzelnen Essays sind unabhängig voneinander entstanden und waren nicht auf eine Edition ausgelegt», sagt Tabea Steiner. So habe sich das Themenfeld rund um Mensch und Natur erst bei der Auswahl der Texte herauskristallisiert.

Auch wenn Steiner in den versammelten Essays immer die grösseren Zusammenhänge sucht und in eine geistige Landkarte von prägenden Essayist*innen einbettet, scheut sie sich nicht vor der Ich-Form. «Das Ich im Text bin schon ich, aber nur zum Teil», so Tabea Steiner. Dabei gehe es ihr einzig um die Glaubwürdigkeit des Textes und nicht um die persönliche Geschichte. «Meine Romane, die nicht in der Ich-Perspektive geschrieben sind, sind nicht weniger persönlich als die vorliegenden Essays. Die Romane sagen genauso etwas darüber aus, wie ich die Welt sehe», sagt die Autorin.

Tabea Steiners literarisches Ich nimmt die Leser*innen bei der Hand, ohne sich jemals aufzudrängen. Und so sind die intimsten Texte zugleich die Texte mit der grössten gesellschaftspolitischen Sprengkraft. In «Social Freezing» und «Was fehlt» denkt die Autorin über Krankheit, Tod und ihren unerfüllten Kinderwunsch nach. Es sind Versuche, diese kollektiven Verdrängungsmechanismen, die sich auch in unserer Sprache widerspielen, zu enthüllen und dem Unaussprechbaren einen Namen zu geben.

«Mit Wissen kontrollieren wir das Leben nicht, wir können Leben nicht kontrollieren. Aber wir können uns Begriffe aneignen, die den Ängsten einen Namen geben, die das Diffuse in eine Form fassen. Wir können Dinge aufschreiben, und wir können davon erzählen. Wir können anderen Menschen, guten Bekannten, Freunden von Freunden und Freundinnen sagen, was uns bedrückt, und das ist ein bisschen einfacher, wenn uns die passenden Wörter zur Verfügung stehen. Und ja, ich bin manchmal traurig darüber, kein Kind zu haben, und nein, ich bin deswegen nicht unglücklich in meinem Leben.»

Tabea Steiner: «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat», edition bücherlese, 2024.

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