Jessica Jurassica gibt sich verletzlich

Bis heute wissen wir nicht, wie wir mit häuslicher Gewalt umgehen sollen. Das zeigt Jessica Jurassicas furioser Roman «Gaslicht» eindrücklich auf. Und trotzdem gibt er Hoffnung.

Jessica Jurassica und Frau Schneeberger im soso.space fotografiert am 25.06.2021 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez)
Jessica Jurassica ist eine Kunstfigur, die immer mit Sturmhaube auftritt. Hier bei einer Lesung 2021. (Bild: Manuel Lopez (Archiv))

Das Erschreckende ist eigentlich: Niemand will richtig hinsehen. Nicht die WG-Kolleg*innen, die doch sonst stundenlang «über die Welt reden, als gehörte sie einem selbst und niemandem sonst», nicht die Berner Kulturinstitution, die sich, so ist es anzunehmen, in den letzten Jahren ein Awareness-Konzept gegeben hat. 

Wird Gewalt in einem privaten Umfeld ausgeübt, sind plötzlich alle seltsam still. Und die betroffene Person wird mit den zugefügten Wunden allein gelassen. Die physischen heilen schneller als die psychischen.

Das ist es, worum sich der Roman «Gaslicht» von Jessica Jurassica dreht. Die Ich-Erzählerin hat von einer engen Beziehungsperson Gewalt erlitten. In einem zuerst sehr strukturierten und dann immer atemloser und wütender werdenden Text versucht sie, diese Erfahrung zu verarbeiten. 

Dazu reist sie erst nach New York, später nach Wien und Lissabon und schliesslich in die Innerschweiz nach Flüeli-Ranft. Sie dreht aber auch Bern den Rücken, der Stadt, in der sie zehn Jahre lang gelebt hat. Und der Stadt, wo sie die Gewalt – und das Schweigen darüber – erlebt hat. In Basel fängt sie neu an.

Eingeklammert wird diese Reise zu sich selbst von der humorvollen Idee, dass die Protagonistin in einem Kägi-fret-Gewinnspiel eine Weltreise gewonnen hat. Denn bei aller Furor, bei aller Wut, beim manchmal ausufernden Anklagen der patriarchalen Gesellschaft: Dieser Text ist auch immer wieder lustig.

Brief an Pietro Supino

«Gaslicht» ist Jessica Jurassicas zweiter Roman. Für den ersten «Das Ideal des Kaputten» (2021) erhielt sie einen Literaturpreis des Kantons Bern, was sie im neuen Roman auch ausgiebig ironisch untermalt. 

Bekannt wurde die 32-jährige Kunstfigur, die stets mit Sturmmaske auftritt, aber mit zwei Provokationen: Zuerst schrieb sie 2018 im Kulturblog «Kulturstattbern», der zur Tamedia-Zeitung «Der Bund» gehörte, einen Brief an Verleger Pietro Supino, indem sie damit kokettierte, einen seiner Söhne zu heiraten und die Mediengruppe zu übernehmen. Daraufhin verlor sie den schlecht bezahlten Job, kurze Zeit später löste sich der Blog von Tamedia. Zwei Jahre später veröffentlichte Jessica Jurassica eine «Fan-Fiction» über den nur miminalst fiktionalisierten Bundesrat André Béret («Die verbotenste Frucht im Bundeshaus»).

Jessica Jurassica fürchtet keine Oberen, ist unangepasst, selbstbewusst und wirkte auf die Öffentlichkeit bisher so, als würde sie über allem stehen. Im Roman «Gaslicht» gibt sie sich ungewohnt verletzlich. Sie zeigt auf, wie hilflos und allein Opfer von häuslicher Gewalt sich fühlen. Weil das Umfeld das Erlebte des Opfers lieber bezweifelt und beschweigt, als sich damit auseinanderzusetzen.

Der Romantitel «Gaslicht» spielt damit. Gaslicht kommt vom englischsprachigen Ausdruck Gaslighting. Gaslighting beschreibt den Umstand, dass Menschen gezielt manipuliert werden, sodass sie am Ende gar nicht mehr wissen, ob sie etwas wirklich so erlebt haben oder ob sie es sich nur einbilden.

In «Gaslicht» schreibt sich die Protagonistin von diesem Trauma frei. Auf eine sehr einnehmende, literarisch anspruchsvolle Art. Die Reisen an die verschiedenen Orte ermöglichen ihr das schrittweise Eintauchen in die Vergangenheit, in Verhaltensmuster, die schon in der Kindheit eingeübt worden sind, in die Geschichte ihrer Ahn*innen. Gleichzeitig vergräbt sie sich aber auch in die feministische Literatur, besonders der autobiografische Roman «Häutungen» (1975) von Verena Stefan begleitet sie dabei.

Die Zwänge sind links und progressiv

Die Sprache von Jessica Jurassica bleibt dabei sehr heutig, gespickt mit englischsprachigen Begriffen. Der Text ist radikal, im Sinne von anklagend. Protagonistin und Autorin verschmelzen dabei zu einer Person, die Grenzen verlaufen fliessend. Und eigentlich ist es auch ganz egal, wo das Autobiografische endet und die Fiktion anfängt: «Gaslicht» ist die Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Frau, die sich aus dem Korsett der gesellschaftlichen Zwänge befreit. Nur dass diese nicht bürgerlich sind, sondern links und progressiv mit einem Hang zum Exzess. Jurassica folgt mit diesem autobiografischen Ansatz einer Literaturgattung, der sich auch Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux verschrieben hat.

Und jetzt? Autorin Jessica Jurassica hat Bern hinter sich gelassen. «Niemand hatte in irgendeiner substanziellen Form die Gewalt adressiert, die ich erfahren hatte. Alle Involvierten taten mehr oder weniger weiterhin das, was sie davor getan hatten.»

Auch in «Gaslicht» passiert, was in Fällen von ausgeübter Gewalt im privaten Rahmen oft der Fall ist: Der Täter und die Mitwissenden leben ihr Leben weiter. Will das Opfer aus dieser Spirale herauskommen, muss es sich selbst befreien und neu anfangen.

Aber ein bisschen Hoffnung gibt es doch: Als die Protagonistin den Täter in einem Gespräch am Küchentisch mit der Gewalt konfrontiert, hört eine Mitbewohnerin, die am Kochen ist, zu. «So konnte mir Y. immer, wenn ich in den kommenden Jahren zweifelte, sagen, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte, dass die Gewalt real gewesen war.»

Jessica Jurassica: «Gaslicht», Lectorbooks, 207 Seiten.

Lesung: Freitag, 3.10., 20 Uhr, Aula im Progr.

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