Und wie hoch ist dein Kontostand?

Endlich: Im Stück «Monopoly» im Tojo Theater sprechen Armutsbetroffene über Geld, auch mit dem Publikum. Ein grandioses Theatererlebnis, zu sehen noch bis am Samstag.

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(Bild: Jörg Kühni)

Laut Statistik sitzen an diesem Abend im gut gefüllten Berner Tojo Theater neun Millionär*innen unter uns. Das erzählt die Stimme aus dem Off. Die Blicke des Publikums schweifen hin und her, einige lachen: Hier sieht niemand aus, als hätte er oder sie Millionen.

Statistisch gesehen sind es aber auch neun Armutsbetroffene, fährt die Stimme fort. Wieder mustert man die Zuschauer*innenreihe: Wer ist es?

Es geht gar nicht anders, denn das Bühnenbild an diesem Abend ist ein riesiger Spiegel. Alle sitzen also auf der Bühne, sind beleuchtet im Zentrum. Mittendrin – sie haben sich noch nicht geoutet – haben sich die Schauspieler*innen platziert. Alle sind armutsbetroffen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Zum Beispiel Salim, Asylbewerber mit F-Status. Oder Nadja, die jung Mutter wurde und keine richtige Ausbildung machen konnte. Hortensia, deren erster Ehemann alkoholsüchtig war. Wilma, die einst mit einem guten Job mitten im Leben stand und dann sozial abgestiegen ist. Claudia, die eine Invalidenrente bezieht.

Sie sind Teil des Bürger*innentheaters Aarau, und bis auf eine Ausnahme sind sie keine ausgebildeten Schauspieler*innen, sondern Menschen, die ihre Geschichte stückweise und in Ausschnitten erzählen. Fast wie wenn ein Dokumentarfilm live auf der Bühne gespielt würde.

Nur ist «Monopoly», unter der künstlerischen Leitung von Rebekka Bangerter und Jonas Egloff, viel eindrücklicher: Die armutsbetroffenen Menschen sitzen neben uns, als Publikum kommt man mit ihnen und anderen Besucher*innen ins Gespräch, man begegnet sich und denkt gemeinsam über das eigene Verhältnis zu Geld nach. Es ist kein Mitmachtheater, aber eines, in das man sich involvieren kann.

Defensive Architektur

Zum Beispiel, wenn man mit der Sitznachbarin, die man zum ersten Mal sieht, über den eigenen Lohn und den Kontostand reden soll. Es ist gar nicht so einfach. Auch wenn beides eigentlich anständig hoch ist. Oder vielleicht gerade deshalb?

Durch den Abend führen Wilma, Salim und Philippe. Wilma erzählt, wie sie – einstige Personalchefin – obdachlos wurde.

Während sie auf einem Parkbänkli im Publikum sitzt, erklärt sie ihren Sitznachbar*innen, was «defensive Architektur» ist: Parkbänke aus Chromstahl, «da frierst du nachts an». Solche Bänke gebe es in Bern überall. Und sie verrät: «Der einzige Ort, wo man in Bern schlafen kann ist der Bremgartenfriedhof.»

Auch Salim, der 2400 Franken im Monat verdient, würde sich einen ungestörten Schlaf wünschen, oder wenigstens ein Zimmer, das nur seins wäre. Aber eigentlich noch viel lieber eine eigene Wohnung. Und Schauspieler Philippe Béchir, der einen Mann spielt, der einst als Sales-Manager tätig war und nach einem Hirnschlag von 100 Franken in der Woche lebt, beschreibt, wie schnell und unerwartet ein sozialer Abstieg kommen kann. «Es geht verdammt schnell.»

Es geht nicht um Mitleid

Armut führt dazu, dass man schlechter schläft, schlechter isst, weniger soziale Kontakte hat. Das haben wohl alle im Publikum schon mal gehört. Aber hier in den Publikumsreihen wird es konkret. Auch wenn es nie um Mitleid geht. Es geht ums Bewusstsein. «Häschs Gfüehl, du müesstisch mir Gäld gä?», fragt Wilma ihren Sitznachbarn einmal. Und als der verneint, meint sie «gut» und stösst mit ihm an – mit Kräutertee aus der Thermoskanne.

Es ist ein verbindender Abend, ein Abend, an dem auch das Publikum nicht auf seinen Sitzen hocken bleibt, sondern in Bewegung und ins Gespräch kommt. Bis der Abend in Standing Ovations endet.

Nachher erzählt der Sitznachbar: «Jetzt habe ich schon ein bisschen Angst vor dem sozialen Abstieg.» Was für eine Ehre, dass er das einer Unbekannten anvertraut. Mehr kann man von einem Theaterstück nicht erwarten.

«Monopoly», Fr, 19.9, und Sa, 20.9., je 20.30 Uhr Tojo Theater.

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