Hühner hier, Velopolo da
Im Marzili blüht eine ehemalige Brache auf. Die Zwischennutzung «Fabrikgarten» vereint Hühnerstall, Garten und Sportplatz. Zustande kam das Projekt durch die rege Mitarbeit der Quartieranwohner*innen.
Dass sich auf dem Gaswerkareal im Berner Marzili ein Teerplatz befindet, scheint nicht besonders aussergewöhnlich. Dass um den Platz eine Bande installiert ist und darauf Velofahrer*innen mit einem Schläger in der Hand einem Ball nachjagen, schon eher. Wenn daneben noch gackernde Hühner hinzukommen, klingt die Beschreibung beinahe unglaubwürdig. Doch genau das ist der Fall. Eingeklemmt zwischen Aare und Monbijoubrücke, Dampfzentrale und Gaskessel liegen ein Hühnerstall und ein neuer Sportplatz. Dies auf einer neuen Zwischennutzung, dem «Fabrikgarten». Seinen Namen hat das Areal erhalten, weil es früher der Garten des ehemaligen Besitzers der Ryff-Textilfabrik war.
Ein ehemaliger Obstgarten blüht wieder auf
Damals war das Gebiet bepflanzt mit vielen mächtigen Obstbäumen. Doch über die Zeit verkam der schöne Obstgarten immer mehr zu einer Brache, auf der Baumaterialien gelagert wurden.
Im Sommer 2020 entschied die Stadt Bern, dass die Möglichkeit bestehe, bis zum Baustart der Überbauung des Gaswerkareals eine Zwischennutzung zu gestalten. Menschen mit konkreten Ideen konnten sich bei der Stadt melden.
Diese Chance haben Adriano Generale und Robin Bartlett Rissi ergriffen und eine gemeinsame Projektidee eingereicht. Die beiden kannten sich schon vom Quartierleist Schönau-Sandrain, Generale ist dort im Vorstand.
«Im Kindergarten meines Sohnes waren gerade Hühner geschlüpft, und er wollte deswegen unbedingt auch Hühner haben», erklärt Bartlett Rissi. Sie steht auf dem Gelände des «Fabrikgarten», neben ihr, angelehnt an eine Tischtennisplatte, Adriano Generale. «Aus dieser Idee wurde dann ein konkreter Projektplan mit Gemeinschaftsgarten, Hühnerstall und Rollerbahn», führt er aus.
Sie seien fast die einzigen gewesen mit einem konkreten Projekt, nur Parkplätze seien als Idee noch im Raum gestanden. «Die Entscheidung der Stadt war klar», meint Generale.
Gute Zusammenarbeit mit der Stadt
Das Projekt kann auf die Mitarbeit der Stadt zählen, so sind zum Beispiel die Hochbeete im Gemeinschaftsbereich des Gartens zusammen mit «Stadtgrün Bern» entstanden. Das sei superpraktisch. «Wenn ein Hochbeet kaputt gehen sollte, dann repariert es die Stadt, und falls das Interesse daran im Quartier mal schwindet, dann können diese an einem anderen Ort weiter verwendet werden», führt Bartlett Rissi begeistert aus.
«Aktuell ist das Interesse gross, obwohl ich nur ein paar Doodle-Umfragen an die Leute im Quartier verschickt habe», sagt Bartlett Rissi. Sie hätten genug Menschen, um jeden Tag jemand anderem die Hauptverantwortung zu geben. Über 20 Familien machen regelmässig mit. «Auch wenn wir vor allem bei den Leuten im Quartier Werbung machen, ist der Garten offen für alle», betont sie.
Ein Zwischennutzungsprojekt ist nicht ganz günstig, und so reichte die städtische Unterstützung nicht aus, um alles zu realisieren, was Generale und Bartlett Rissi wollten. Vor allem die geplante Rollerbahn ging ins Geld. Der Platz musste planiert und asphaltiert werden. «Auch wenn ich aus der Baubranche komme, diese Arbeiten konnten wir nicht selber machen», erklärt Generale, der nun selber regelmässig Inline-Hockey auf dem Platz spielt. Also hätten sie eine lokale Baufirma um eine Offerte gebeten. Um die dafür benötigten Mittel zu sammeln, starteten sie ein Crowdfundig, bei dem rund 24’000 Franken zusammen gekommen sind. «Sehr viele Privatpersonen und KMU haben gespendet, manchmal habe ich das Geld bar in die Hand gedrückt bekommen», sagt er.
Alles von Tutti
Der Teerbelag ist das Einzige, das im «Fabrikgarten» neu ist. Ansonsten ist alles secondhand, wurde upge- oder recycelt. «Alles von Tutti», verkündet Bartlett Rissi lachend. Die Online-Plattform für Kleininserate habe ihnen eine Auszeichnung für die vielen Käufe gegeben. «Sogar die Bandenanlage für die Rollerbahn kommt von Tutti», sagt Generale. «Ja, und der Hühnerstall», ergänzt Bartlett Rissi.
Nach der durch etliche freiwillige Hände unterstützten Aufbauphase kehrt jetzt richtig Leben im «Fabrikgarten» ein. Der gemütliche Gartensitzplatz mit Feuerschale und Teich wird ab und zu für Veranstaltungen im Quartier gebraucht. Ein Tischtennis-Tisch lädt zum Spiel ein. Überall blühen die Pflanzen. Eine Spielgruppe hat mitgeholfen die Hochbeete zu bepflanzen. Und eine der drei Hennen, Lisalotte, brütet nun ihren ersten Nachwuchs aus.
Nicht nur der Garten ist immer belebter, auch die Rollerbahn erfreut sich reger Verwendung. Auf dem 20 mal 40 Meter grossen Teerplatz werden regelmässig drei Sportarten gespielt: Rollhockey, Inlinehockey und Velopolo.
An diesem Abend findet ein Training des Vereins «Bike Polo Bern» statt. Dieser spielt, wie der Name schon vermuten lässt, Velopolo. Das Spiel fand seinen Ursprung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Irland. Diese Version entstand – als Alternative zum klassischen Polo – für weniger gut situierte Menschen. Denn anders als das Ursprungspolo wird Velopolo mit Fahrrädern statt mit Pferden gespielt. Die Version im «Fabrikgarten» ist nochmals anders und nennt sich «Hardcourt Bike Polo». Der Untergrund, auf dem gespielt wird, ist also hart.
Zwei Gruppen, eine Idee
In Bern wird seit 2009 Velopolo gespielt. «Angefangen hat die Geschichte des Berner Velopolos an zwei verschiedenen Orten», erklärt Gabor Herczeg vom Verein «Bike Polo Bern». Zwei Gruppen hätten fast gleichzeitig angefangen mit dem Spiel. «Als wir voneinander erfahren haben, taten wir uns zusammen und gründeten den Verein», führt er aus. Die Vereinsgründung brachte Vorteile mit sich. Damit hatte «Bike Polo Bern» die Möglichkeit, auf einem von der Stadt Bern bereitgestellten Sportplatz zu trainieren. Die Wahl fiel auf den Sportplatz des Schulhaus Statthalter in Bümpliz. Seit Ende April trainiert «Bike Polo Bern» nun im «Fabrikgarten».
Inzwischen hat der Verein etwa 20 feste Mitglieder. Die Szene ist urban und klein. Velopolo wird in den verschiedensten Städten überall auf der Welt verteilt gespielt. Am grössten sei die Szene in Grossbritanien, Frankreich und den USA, «auch wenn ich es zuerst in Budapest gespielt habe» meint Herczeg.
Wie beim «Fabrikgarten» ist beim Velopolo vieles selbst organisiert und selbst gebaut. So hat die Sportart keinen festen Dachverband, der die Regeln von oben bestimmt. Doch auch mit diesem System habe sich der Sport in den letzten Jahren gewandelt, heute gebe es zum Beispiel viel weniger Körperkontakt als früher. «Die Regeln werden durch die spielende Community gemacht», erklärt Herczeg. Man kennt sich, von der Weltmeisterin bis zum Anfänger. So sind auch heute ein Weltmeister und ein Europameister auf Platz.
«Velopolo ist Velofahren in extrem» meint Herczeg. Gespielt wird in Dreierteams. Ziel ist es, den Ball, der vom Aussehen her an einen Unihockeyball ohne Löcher erinnert, in das gegnerische Tor zu schlagen. Gespielt wird in Runden, die so lange dauern, bis ein Team fünf Punkte erreicht hat oder eine Zeitlimite überschritten wird. Diese beträgt meist zehn Minuten. Die Fahrräder, welche beim Velopolo verwendet werden, haben einen Stahlrahmen, eine Bremse und einen Gang. Der Winkel der Gabel ist besonders steil, damit die Spieler*innen extrem wendig sein können. Der Sport wird auf allen Stufen in gemischten Teams gespielt.
Auf dem Teerplatz gibt es einen Wechsel: Sechs Spieler*innen verlassen den Platz mitsamt Velo und Schläger, die nächsten spielen sich warm. Ein paar rufen nach Gabor Herczeg. Doch etwas will er noch loswerden: «Jeden ersten Freitag im Monat machen wir abends ein Anfänger*innen-Training, wir erhalten gerne Nachwuchs.» Während die Sonne hinter der Monbijoubrücke durch die Wolken drückt, meint er: «Ich muss los, die nächste Runde fängt an.»