«Hier ist die politische Dimension zweitrangig»
Das Image des FC Breitenrain ist fortschrittlich und cool, obschon er lange nicht einmal ein Frauenteam hatte. Jetzt starten die Breitsch-Frauen eine Aufholjagd – auf und neben dem Fussballfeld.
Samstagabend im Nordquartier, Meisterschaftsauftakt. Hand in Hand mit Mädchen aus dem Nachwuchs des FC Breitenrain betreten die Spielerinnen des FCB und des FC Wyler den Sportplatz Spitalacker. Die Breitsch-Anhänger*innen erheben sich von ihren Plätzen auf der alten Holztribüne und klatschen. Der Applaus gilt nicht nur den Spielerinnen und dem Staff, sondern auch der Vereinsführung. Allen ist bewusst: Es handelt sich um einen besonderen Moment in der Geschichte des beliebten Quartierclubs.
«Das erste Heimspiel war unglaublich», wird Sonja Lundsgaard-Hansen eineinhalb Wochen später sagen. Sie trainiert das Breitenrain-Team gemeinsam mit Andy Egli und ist zugleich Spielerin, obwohl sie vor einigen Jahren ihre Karriere beendet hat. «Ich habe schon manche Spiele erlebt im Fussball, auch in Cupfinals vor Publikum gespielt. Aber sie lösten nicht die gleichen Emotionen aus wie die Wertschätzung, die uns vor, während und nach der Partie vom Publikum entgegengebracht wurde.» Besonders und «unglaublich» war der Moment, weil an jenem Samstagabend das erste Frauenteam in der Geschichte des FC Breitenrain in die Meisterschaft startete.
«Es fehlte an Personal- und Platzressourcen»
Der Club aus dem rot-grünen Quartier zeichnet seit Jahren ein fortschrittliches Bild von sich. Und das, obwohl er im Frauenfussball Jahrzehnte hinterherhinkt. Der FC Ostermundigen zum Beispiel hat seit den 80er-Jahren eine Frauenabteilung. Schon ein Jahrzehnt früher nahm der FC Bern Frauen auf – die Abteilung, in der Lundsgaard-Hansen einst in der Nationalliga A spielte, gehört heute zum BSC YB. Der FC Breitenrain muss sich die Frage gefallen lassen, warum erst 2022 ein Frauenteam gegründet wurde.
Anruf bei Nicolas Kehrli, Mitinitiator der Mädchen- und Frauenabteilung und Co-Junior*innenleiter des FC Breitenrain. «Es fehlte an Personal- und Platzressourcen», erklärt der ehemalige YB- und Breitenrain-Spieler am Telefon. Sein Vorgänger habe alle Aufgaben im Junior*innenbereich alleine bewältigen müssen und sei für über 400 Kinder und Jugendliche und rund 40 Trainer*innen zuständig gewesen.
Er sah keinen Platz für Mädchenteams. Nicht des Geschlechts, sondern des Aufwands und des Mangels an Rasenplätzen wegen. Dass Mädchen darunter stärker leiden als Buben, ist im männerdominierten Fussball jedoch kein Einzelfall. Projekte für Mädchen werden eher auf die lange Bank geschoben.
«Das Interesse wäre da gewesen», sagt der 39-jährige Kehrli. «Aber man sah sich nur mit einem Haufen Probleme konfrontiert.» Mit dieser Einstellung gehe man keine neuen Projekte an.
Der Verein wird überrannt
Das änderte sich mit der Umstrukturierung im Verein vor Weihnachten 2020. Für die Aufgaben der Junior*innenabteilung seien seither nicht mehr nur eine, sondern rund 15 Personen zuständig, erklärt Kehrli. «Das schuf Platz für neue Ideen.» Wie zum Beispiel ein Integrationsprojekt für Geflüchtete oder ein Training nur für Mädchen.
Der Andrang war so gross, dass die Clubverantwortlichen nicht anders konnten, als ein halbes Jahr später, eine Mädchenabteilung mit zwei Teams auf die Beine zu stellen. Einige Kinder mussten abgewiesen werden, da der Verein regelrecht überrannt wurde.
Sonja Lundsgaard-Hansen übernahm eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Mädchensparte. Sie stieg im Frühling 2021 ein und trainierte nebenbei ab dem Sommer eine der beiden Juniorinnen-Equipen. «Ich will hier helfen, ähnliche Strukturen aufzubauen, wie diejenigen, von denen ich als Mädchen beim FC Bern Frauen profitiert habe», erklärt sie.
Aufgrund der enormen Nachfrage von Mädchen realisierte der Vorstand schnell, dass der Club ein Aushängeschild für den Frauenfussball brauchte. Die Mädchen sollten nicht den Club wechseln müssen, wenn sie älter werden. Oder wie es Kehrli ausdrückt: «Wir wollten die Sparte institutionalisieren.»
«Wir sind hier zum Fussballspielen»
Lundsgaard-Hansen begann, ein 25-köpfiges Frauenteam zusammenzustellen. Sie kontaktierte zahlreiche ehemalige Mitspielerinnen ihrer letzten Karrierestation, dem Zweitligaverein FC Thun, bei dem die Bedingungen für die Spielerinnen offenbar nicht mehr stimmten.
Im Nordquartier weht ein anderer Wind: Sie sei beim FC Breitenrain ausschliesslich auf Wohlwollen gestossen, sagt Lundsgaard-Hansen rückblickend. «Wenn ich gespürt hätte, dass der Verein die Frauen und Mädchen nicht will, hätte ich es nicht gemacht. Alle stehen hinter der Abteilung, alle helfen und ziehen mit. Wir gehören dazu, unabhängig vom Geschlecht.»
Die Frauen des FC Breitenrain müssen nicht diskutieren, Unternehmen für Sponsoring-Gelder anfragen oder sich um die Finanzen kümmern. Das Trainer*innenduo erhält eine übliche finanzielle Entschädigung. Und dem Team steht zum Trainieren – wie den meisten anderen Mannschaften des Vereins – ein halber Platz zur Verfügung sowie der Teambus für Auswärtsfahrten.
Ihr Hobby darf, aber muss nicht ein politisches Engagement für Gleichstellung sein. Das Trainer*innenduo selbst spricht von Trainern, Spielern und der Mannschaft. «Hier ist die politische Dimension zweitrangig», sagt Trainer Egli. «Wir sind hier zum Fussballspielen», fügt seine Amtskollegin Lundsgaard-Hansen an.
Torverhältnis: 37 zu 2
Und dabei war der FC Breitenrain bisher erfolgreich. Kein Wunder, das Team besteht aus einer ehemaligen Internationalen als Spielerinnentrainerin, Teamkolleginnen mit Nati-B- oder gar Nati-A-Erfahrung und hoffnungsvollen Talenten aus dem eigenen Nachwuchs.
Das Potenzial des Teams übertrifft deutlich das Niveau der vierten Liga, in der es zwangsläufig starten muss. Drei Siege und ein Unentschieden bei einem Torverhältnis von 37:2 stehen nach den ersten vier Meisterschaftsspielen auf dem Konto. Im Cup haben die Breitsch-Spielerinnen zudem die nächste Runde erreicht.
Die erste Liga, die dritthöchste Spielklasse, ist das langfristige Ziel. Vorerst geht es um den direkten Aufstieg in die dritte Liga. Diese Aufgabe dürfte aus spielerischer Sicht keine grosse Hürde darstellen.
Wenn 50 Prozent reichen
Die Dominanz sorgt auch für grosse Augen in den Nachwuchsreihen. Und der Plan, neue Möglichkeiten und Anreize für die jungen Mädchen im Nachwuchs zu schaffen, geht sofort auf: Vor dem Spiel gegen Wyler weint ein Mädchen, weil es nicht mit Lundsgaard-Hansen einlaufen darf.
Ein Ballmädchen erzählt während der Partie, dass es darüber nachdenke, zu Wyler zu wechseln. Die Trainingszeiten würden nicht in sein Programm passen. «Jetzt muss ich mir das nochmals überlegen», sagt es mit einem Lächeln und blickt auf die Anzeigetafel. 11:0 lautet das Endresultat. Nach dem Sieg nehmen sich die Spielerinnen Zeit, um Autogrammwünsche zu erfüllen. Sie sind die Stars der vierten Liga.
Der mentale Umgang mit der Situation und der Überlegenheit wird für das Trainer*innenduo zur grössten Challenge. «Viele wissen, dass meistens 50 Prozent reichen, um sich durchzusetzen. Uns muss es gelingen, sie trotzdem zu Bestleistungen zu pushen – auch in der vierten Liga», erklärt Andy Egli.
«Das war eine coole Idee»
Dass mit ihm eines der bekanntesten Gesichter des Schweizer Fussballs an der Seitenlinie der Breitenrain-Frauen steht, ist der nächste Coup, den der Verein Sonja Lundsgaard-Hansen zu verdanken hat.
Sie suchte einen Trainerkollegen, um sich das Amt zu teilen, da sie ein Training pro Woche und die Partien als Spielerin absolvieren wollte. «Und da ich ehrgeizig bin, reichte mir ein Unerfahrener an meiner Seite nicht», sagt sie.
Sie und Andy Egli haben eine Gemeinsamkeit, die sie mit dem FC Breitenrain verbindet: Ihre Kinder spielen beziehungsweise spielten im Quartierclub. Sie habe gezögert, den bekannten Andy Egli anzurufen, bis ihr Mann sie überzeugt habe.
«Das war eine coole Idee», sagt Egli, der seit 27 Jahren in Bern lebt. Seine Erfolge lassen sich genau beziffern: fünffacher Schweizer Meister, vierfacher Cupsieger, ein Jahr bei Borussia Dortmund in Deutschland und 80-facher Internationaler. Egli war nach seinem Karriereende 1994 bis 2010 als Trainer tätig und später Sportchef der Frauenabteilung des FC Luzern.
Perfektionist an der Seitenlinie
Er ist aber nicht nur älteren Generationen ein Begriff. Jahrelang erklärte er dem Fussballpublikum im Schweizer Fernsehen als Experte die entscheidenden Spielzüge, die neuesten Transfers, die Gedanken hinter Aufstellungen und brachte den Zuschauer*innen aufkommende Stars näher.
Dass er ein Perfektionist ist, daran lässt er auch als Trainer eines Frauenteams, das in der tiefsten Schweizer Liga spielt, keinen Zweifel aufkommen. Egli schaut sich Spiele des Nachwuchses an, kennt die Resultate der Gegnerinnen und fordert die Spielerinnen heraus. Statt leichtfertig mit einer gefährlichen Flanke umzugehen, verlangt er von einer Angreiferin im Auftaktspiel gegen Wyler, dass sie zum Fallrückzieher ansetzt – beim Stand von 9:0.
«Für mich», erklärt Egli, «ist es ein hochinteressanter Entwicklungsprozess.» Und führt aus: «Frauen zu trainieren ist anspruchsvoll, die Frauen funktionieren anders als Männer. Ein Beispiel: Wenn eine Frau aus dem Team austritt, ist es nicht selten der Fall, dass sich mehrere Spielerinnen solidarisieren. Plötzlich fehlt die halbe Mannschaft. Die Männer ticken anders. Sie sind auf sich bezogen. Sie versuchen, Karriere zu machen. Selbstverständlich gibt es freundschaftliche Beziehungen, aber der Mann will prioritär seine persönlichen Bedürfnisse befriedigen.»
Nächste Baustelle: Vorstand
Der Funke soll nicht nur auf Mädchen, sondern auch auf Frauen überspringen, die sich im Verein engagieren wollen. Die nächste Baustelle ist der Vorstand. Zehn Männer führen den Club – auch hier kann der sonst so fortschrittliche Quartierverein nicht mit dem Zeitgeist Schritt halten. Die Mädchen- und Frauenabteilung wird ebenfalls durch einen Mann vertreten, Michael Suter.
Lundsgaard-Hansen, die sich die Leitung der Abteilung mit Suter teilt, lehnte dieses Amt ab. Sie ist eine zurückhaltende Person, die lieber im Hintergrund arbeitet. «Ich finde es ohnehin cooler, wenn ein Mann das Amt übernimmt. Das heisst, er steht voll und ganz hinter dem Mädchen- und Frauenfussball», sagt sie.
Die Spielerinnen hätten nicht mitbestimmen können, wer die Spartenleitung Frauen- und Mädchenfussball übernimmt. Mit der Wahl Suters in den Vorstand seien sie aber zufrieden, wobei die Besetzung des Amtes bisher kein grosses Thema gewesen sei, erklärt Lundsgaard-Hansen.
Zwar nicht unbedingt als Vertretung der Mädchen- und Frauensparte, «aber es braucht Frauen im Vorstand», sagt Co-Junior*innenleiter Kehrli. Nur stellt sich die Frage, wie sich mehr Frauen für die Freiwilligenarbeit im männerdominierten Fussballclub interessieren.
«Wir alle haben Stereotypen im Kopf, sind aber im Herzen Förderer.» Für Kehrli ist klar: «Das ist das nächste Projekt, das ich angehen werde. In fünf Jahren muss der Prozentsatz der Frauen in den Vereinsstrukturen massiv angestiegen sein.» Bis dann dürfte das Frauenteam auf einem Niveau spielen, auf dem es sich mit der einen Platzhälfte, auf der es momentan trainiert, nicht mehr zufrieden gibt.