Ein Berner Sommermärchen
Friedlich, fröhlich, farbig: Das erste EM-Spiel in Bern verwandelt die Stadt in eine entspannte Volksfest-Bühne. So darf es weitergehen.
Die Sonne brennt auf den Bundesplatz, das Licht flimmert im Wasserspiel. Kurz meint man, in Rio de Janeiro zu stehen, nicht in Bern. Wo sonst Marktstände aufgebaut sind, treten Kinder auf bunt gestalteten Mini-Fussballfeldern gegeneinander an. Am Donnerstag, drei Stunden vor dem ersten Berner EM-Spiel zwischen Spanien und Portugal, scheint halb Europa vor dem Bundeshaus versammelt zu sein: Ein Stimmengewirr aus Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Englisch ist zu vernehmen, und die Trikots der Besucher*innen repräsentieren beinahe so viele unterschiedliche Länderflaggen, wie sie am Eingang zum EU-Parlament in Strassburg stehen.
Wie sich das gigantische Riesenrad in dieses Bild einfügen soll, erschliesst sich dem Besucher nicht ganz. Auf jeden Fall zahlen einige Besucher*innen Eintritt, um die Stadt von oben sehen zu können.
Platz in der Mitte
An einem schattenspendenden Baum mitten in der Fan-Zone Bundesplatz bespricht sich Katie Gornall mit zwei Kolleginnen. Die Sportjournalistin berichtet für die britische BBC über alle Spiele der Frauen Euro. Es ist schon ihr siebtes Frauenturnier in dieser Funktion, entsprechend viel Erfahrung bringt sie mit. «Die Schweiz rückt den Frauenfussball ins Zentrum und gibt ihm Profil», lobt sie. Gornall ist zwar der Meinung, der Frauenfussball sei in Grossbritannien auf «einem anderen Level» als in der Schweiz, doch der Zuspruch der Zuschauer*innen beeindrucke sie. Immerhin pulverisiert die EM in der Schweiz mit über 600’000 verkauften Tickets den bisherigen Zuschauerrekord. Und der wurde mit 574'875 Besucher*innen vor drei Jahren in England aufgestellt.
Wie der Schweizer Ticketrekord möglich wurde, zeigt die Handy-App von Thierry Wenger und Vivienne Duss: Sie waren bereits bei zwei Spielen im Stadion und planen fünf weitere Besuche. Die Partien verfolgen sie in Bern und Thun. Wenger kickt selbst beim FC Allmendingen/Thun und knüpfte so Kontakt zum Team der Isländerinnen, welche während der Euro die Plätze des Vereins nutzen. Duss nimmt die Stimmung an diesem Nachmittag als ruhig und trotzdem mit Spass erfüllt wahr. Das Turnier bedeute ihr sehr viel: «Es ist ein grosser Schritt für uns Frauen.»
Gabi Rast aus Zollikofen hat ebenfalls eifrig Eintrittstickets gekauft: Bei sieben Partien will sie dabei sein. Es ist die erste Frauen-Euro, die sie live erlebt. Auch wenn sie zum Spiel Spanien gegen Portugal unterwegs ist, trägt sie das Schweizer Dress. Sie ist mit dieser entspannten Kleiderordnung nicht allein. Vom Bundesplatz bis zum Wankdorfstadion sind ganz unterschiedliche Trikots zu sehen, auch wenn die Farbe Rot beim iberischen Duell dominiert. Bei vergleichbaren Männer-Fussballspielen ist das Lager-Denken häufig ausgeprägter und wird farblich zur Schau gestellt.
Gekommen, um (länger) zu bleiben?
Ein paar Meter weiter stimmt sich eine Gruppe junger Portugiesinnen auf den Match ein. Eine von ihnen hat Bern bereits einmal im Winter besucht und findet die Stadt jetzt «wie verwandelt» vor. Ihre Kollegin ergänzt: «Es ist toll zu sehen, dass der Frauenfussball so präsent ist in der Stadt». In Portugal sei in dieser Hinsicht noch Luft nach oben. Die Gruppe bleibt mehrere Tage in Bern und erkundet die Stadt. Die Euro als Tourismus-Booster?
Auf der Kornhausbrücke treffen wir auf Manuela Angst, Chefin von Bern Welcome. Sie ist unterwegs zum Info-Stand der Tourismusorganisation, an dem sie während des Grossanlasses arbeitet. Bern stehe in diesen Tagen international im Schaufenster, sagt sie. Sie ist überzeugt, dass Fans mehrere Tage in Bern verweilen – und so Einnahmen für Hotels und Restaurants generieren. Sie selbst wird zwei Partien live erleben: Schweiz gegen Island am Sonntag und Italien gegen Spanien in der Woche darauf.
Es könnte alles so einfach sein
Weiter geht es über die Brücke in Richtung Viktoriaplatz. Dort haben sich am frühen Abend spanische und portugiesische Fans für einen Fanmarsch versammelt. Sie singen, trommeln und feuern an – ohne aggressiv zu wirken. Die Stimmung erinnert eher an ein kleineres Openair-Festival. Wer dort als «Headliner» spielt, zeigen die Spanierinnen eindrücklich: Der Fussballverband reist mit einem ausgeklügelten Truck an die grossen Frauen-Turniere und organisiert von diesem aus seine Fanarbeit. Weltmeisterlich, auch hier.
Beide Fangruppen starten sehr diszipliniert und zeitlich voneinander getrennt den Marsch. Für Aroa Ferreira ist die Frage, welcher Gruppe sie sich anschliesst, nicht ganz so leicht zu beantworten: Ihr Papa ist Portugiese und ihre Mama Spanierin. Am Ende reiht sich die Frau aus Pamplona zwar bei den Spanier*innen ein, trägt aber einen Hut mit portugiesischem Wappen. Niemand stört sich daran.
Der Tross setzt sich in Bewegung: Ungefähr 150 Spanier*innen, vorwiegend Frauen, ziehen durch den Breitsch und singen «Viva España». Ein paar Passant*innen stehen Spalier und grüssen freundlich. Wenig Alkohol und kein Wildpinkeln in Vorgärten, friedlich, aber doch energiegeladen. Ein begleitender Kantonspolizist sagt auf Nachfrage: «Alles recht entspannt». Warum nicht immer so, ist man geneigt zu fragen. Bei Champions-League-Partien von YB sind vielen in der Stadt noch die gewaltvollen Fanmärsche, etwa von Roter Stern Belgrad, in Erinnerung. Die Spanier*innen nutzen die Wankdorfallee noch für eine letzte Choreographie und biegen dann Richtung Stadion ein. Auch dort dominiert die Leichtigkeit des Seins eines sommerlichen Juli-Abends.
Unter der legendären Wankdorf-Uhr wartet Familie Thürlemann aus Konolfingen im spärlichen Schatten. Die Eltern waren – noch ohne Kinder – an der Männer-EM 2008 in Bern. Siebzehn Jahre später wollen sie mit dem Nachwuchs ins Stadion. Die Tickets hätten sie «in letzter Minute» erstanden. Es sei ihr erster Frauenmatch überhaupt. Die Sonne steht schräg über dem Wankdorf, anderthalb Stunden vor Anpfiff.
Die Menschen zeigen ihre Trikots her: Barça, Griechenland, St. Pauli und ganz viele Schweizer Libli. Es wirkt wie eine Liebeserklärung an den Fussball.
Zur blauen Stunde zurück am Bundesplatz: Andächtig schauen die Menschen im Public Viewing dem spanischen Team dabei zu, wie es Angriff um Angriff aufbaut. Schon nach sieben Minuten führt «La Roja» mit 2:0. Auch hier scheint die Stimmung entspannt: Sicherheitsarbeiter*innen von Taktvoll bestätigen den Eindruck. Sie sind zu sechst vor Ort. Vorfälle habe es bislang keine gegeben, sagen sie im Gespräch. Da sei das Konzert vom Dienstag herausfordernder gewesen: Fünf- bis sechstausend Menschen seien zusammengekommen, um vor der Bühne zu Soukey und Chlyklass zu feiern – und dies mit einem höheren Alkoholpegel als an diesem donnerstäglichen Fussballabend.
Querschnitt der Bevölkerung
Die Diversität auf dem Bundesplatz: Von betagten bis ganz jungen Zuschauer*innen, mit und ohne sichtbare Migrationsgeschichte. Weil sich die ganze Szenerie vor dem Bundeshaus abspielt, drängt sich ein Gedanke auf: Könnte man nicht an dieser Stelle, just in dem Moment, eine Art Landsgemeinde zu wichtigen Sachfragen abhalten? Die Schweizer Bevölkerung schiene auf jeden Fall umfassend repräsentiert.
Spanien hat unterdessen auf 4:0 erhöht, doch der Jubel fällt eher verhalten aus. Diana Dominguez ist dennoch bewegt. Sie verfolgt in Begleitung ihres Vaters und ihrer Tochter zum ersten Mal im Leben eine Frauen-EM vor Ort. Fussball, sagt sie, gehöre schlicht zur spanischen Kultur und sie freue sich, dies mit anderen Landsleuten zu teilen. Ihre Augen leuchten, wenn sie von diesem Tag erzählt: «Se disfruta» – man geniesst ihn.
Hauptstadt-Brief Spezial – Fussball-EM #1
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Hauptsachen-Talk: Frauen-Fussball für die Massen?
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