Fremdplatziert – Hauptstadt-Brief #429

Donnerstag, 20. Februar 2025 – die Themen: Ausstellung «Vom Glück vergessen»; umstrittene Verhaftung; Generationen-Barometer; Wankdorftunnel; Nachkredite; Geschlechterrollen; BLS & RBS; Diversität; Tour de Moron; Tetrismeisterschaft.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Wen bitten wir morgen um Entschuldigung? Eine sehr interessante Frage, wie ich finde: Persönlich, weil ich mich jemandem gegenüber falsch verhalten habe? Oder auf einer gesellschaftlichen Ebene, weil wir als Gemeinschaft in der Schweiz heute Personengruppen nicht die Rechte gewähren, die ihnen zustehen würden?

Das Bernische Historische Museum stellt diese Frage im Rahmen seiner heute eröffneten Ausstellung «Vom Glück vergessen» zum Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Der Begriff steht für die bis in die 1970er-Jahre gängige Praxis der Schweizer Behörden, Familien systematisch zu trennen. Wer nicht den bürgerlichen Normen entsprach, wurde in Zwangsarbeitsanstalten wie jenen in Witzwil oder Hindelbank weggesperrt. Minderjährige landeten oft als Verdingkinder auf Bauernhöfen, wo sie als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden.

Dabei gerieten verwitwete, ledige oder geschiedene Frauen und ihre Kinder besonders oft ins Visier der Behörden. Ebenso Armutsbetroffene. In der Annahme, diese seien nur aufgrund ihrer Faulheit arm, sollten sie durch körperliche Ausbeutung zu fleissigen Menschen erzogen werden.

Das Historische Museum erzählt die tragischen Schicksale der Fremdplatzierten als Hörspiel anhand von fünf beispielhaften Geschichten. Eine davon ist die Geschichte von Heinz Kräuchi, der im Knabenheim auf der «Auf der Grube» in der Gemeinde Köniz fremdplatziert wurde. Er ist damit einer von über 50’000 Meschen, die im Kanton Bern Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurden. Schweizweit wird die Zahl der Betroffenen auf mehrere Hunderttausend geschätzt.

Während ähnliche Grausamkeiten in anderen Ländern bereits in den 1990er-Jahren aufgearbeitet wurden, tat sich die Schweiz damit lange schwer. Erst 2010 entschuldigte sich die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf bei den Betroffenen.

Und damit zurück zur Einstiegsfrage: Wo handeln wir heute falsch, verdrängen dies aber oder verstecken uns hinter moralisch fragwürdigen Gesetzen? Wen bitten wir morgen um Entschuldigung?

Foto vom Silberhorn, aufgenommen zwischen Wengen und kleine Scheidegg.
Bilderserie von Romy Streit (9/12): Das Silberhorn, aufgenommen zwischen Wengen und kleine Scheidegg. (Bild: Romy Streit)

Das möchte ich dir mit in den Tag geben:

  • Gerichtsurteil: Die umstrittene Verhaftung eines Mannes auf dem Berner Bahnhofplatz im Jahr 2021 ist um ein Kapitel reicher. Nachdem jüngst ein Expertenbericht die mediale Berichterstattung im Nachgang der Festnahme beleuchtet hat, hat gestern das Obergericht im Fall eines beteiligten Polizisten entschieden. Dieser war in erster Instanz verurteilt worden, weil er den Verhafteten unsanft in einen Kastenwagen gestossen haben soll. Weil der Polizist das Urteil nicht akzeptierte, hat nun das Obergericht den Fall neu beurteilt – und kommt dabei zu einem anderen Schluss. Jana Schmid war für die «Hauptstadt» im Gerichtssaal.
  • Generationen-Barometer: Junge Erwachsene in der Schweiz fühlen sich zunehmend machtlos. So lautet ein Fazit des jüngsten Generationen-Barometers, das im Auftrag der Burgergemeinde Bern durchgeführt wurde. So glauben 88 Prozent der unter 35-Jährigen, nur wenig Einfluss auf die Zukunft der Gesellschaft zu haben – deutlich mehr als noch vor zwei Jahren (73 Prozent). Eine weitere, für mich überraschende Erkenntnis der umfassenden Umfrage ist: Eine Mehrheit der Befragten unterstützt ein Handyverbot an Schulen und ein generelles Tik-Tok-Verbot. Selbst die jüngste befragte Altersgruppe der 18-bis 25-Jährigen wäre für solche Verbote.
  • Wankdorftunnel: Die SBB wollen ihr Schienennetz in Berns Nordosten ausbauen. Dazu soll ein 440 Meter langer Tunnel unter den bestehenden Gleisen und der Autobahnbrücke der A6 gebaut werden. Ab kommendem Montag liegen die entsprechenden Pläne öffentlich auf, wie die SBB gestern mitteilten. Der Ausbau soll unter anderem einen Viertelstundentakt zwischen Bern und Münsingen sowie einen Halbstundentakt der IC-Züge nach Interlaken und Brig ermöglichen. Heute ist die Strecke laut SBB voll ausgelastet. Die Bauarbeiten beginnen frühestens Mitte 2026 und dauern anschliessend mindestens 13 Jahre.
  • Nachkredite: Die Berner Stadtregierung hat beim Parlament zwei Nachkredite beantragt, wie sie heute Morgen mitteilt. So benötigt die Stadt zusätzliche 3,4 Millionen Franken, um die Kosten der städtischen Kitas auszugleichen. Deren Betrieb ist seit 2020 defizitär. Die städtischen Kitas kämpfen dabei mit ähnlichen Problemen wie auch private Kitas. Hinzu kommt, dass die Ausgaben für die Tagesbetreuung im vergangenen Jahr deutlich höher waren als budgetiert. In diesem Fall hat der Gemeinderat einen Nachkredit in der Höhe von 2,87 Millionen Franken beantragt.
  • Geschlechterrollen: Unser Kolumnist hat beobachtet, dass sich Jungs im Alltag oft weniger rücksichtsvoll verhalten als Mädchen. Ist das Zufall oder Erziehung? Und was hat das für Folgen für unsere Demokratie? Seine Überlegungen dazu kannst du in der Philosophie-Kolumne lesen.
  • ÖV: Noch nie reisten so viele Menschen mit der BLS wie im vergangenen Jahr. Für 2024 verzeichnet das Unternehmen 71,5 Millionen Passagier*innen. Das sind fast drei Millionen mehr als im bisherigen Rekordjahr 2023. Auch in der Pünktlichkeitsstatistik zeigt der Trend gemäss einer Mitteilung nach oben: 96,2 Prozent der Züge erreichten ihr Ziel pünktlich. Ähnlich sieht es beim Regionalverkehr Bern-Solothurn (RBS) aus. Dieser hat seine Pünktlichkeit ebenfalls verbessert und im Jahr 2024 insgesamt 24,7 Millionen Personen befördert. Das sind knapp sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Damit nähere sich der Bahnverkehr dem Rekordjahr 2019 (26,2 Millionen) an, schreibt der RBS in einer Mitteilung.
  • Diversität: Die Stadt Bern will ihre Vielfalt mittels einer neuen Website darstellen. Grundlage dafür sind Zahlen und Grafiken aus der Bevölkerungsbefragung 2023. Die Seite beleuchtet Lebensqualität, Arbeitszufriedenheit und Sicherheitsgefühl verschiedener Gruppen. Abgebildet werden etwa die sexuelle Orientierung der Berner*innen, ihr physisches und psychisches Wohlbefinden oder ihre Lebensqualität. Die Plattform soll helfen, die Gleichstellung in der Stadt zu fördern und Herausforderungen zu erkennen.
  • Zerfall: Der Tour de Moron in Valbirse im Berner Jura war über Jahre ein beliebtes Ausflugsziel. Der von Mario Botta entworfene und 2004 eröffnete Turm gewährte bei gutem Wetter eine Aussicht vom Schwarzwald bis zu den Alpen. Doch 2022 begann der Turm zu zerfallen – immer mehr der steinernen Treppenstufen fielen herab. Laut einem Bericht im Auftrag der regionalen Staatsanwaltschaft war die Qualität der gelieferten Steine Schuld am Zerfall. Das berichtet «Le Quotidien Jurassien». Zudem sei die verantwortliche Stiftung ihrer Verantwortung trotz früher festgestellter Risse nicht nachgekommen. Sobald die Justiz über den Fall entschieden hat, will die Stiftung den Turm wieder instand setzen.

PS: Hattest du früher einen Gameboy und damit Tetris gespielt? Oder machst du das sogar heute noch? Dann empfehle ich dir die 13. inoffizielle Berner Tetrismeisterschaft. Diese findet heute Abend ab 20 Uhr im Lieblings an der Gerechtigkeitsgasse 13 in Bern statt. Eine Qualifikation ist nicht notwendig, Stapelfähigkeiten hingegen schon.

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