13 Einkommen, 1 Bankkonto
Die Mitglieder des Kollektivs «RaAupe» leben seit sieben Jahren in einer gemeinsamen Ökonomie, ohne zusammen zu wohnen. Wie funktioniert das?
Zwischen den zwei Hochhäusern wirkt das einstöckige, flachdächige Haus mit dem roten Schriftzug «de_block» klein und unscheinbar. «No Frontex» oder «Für Widerstand sorgen» steht auf Plakaten, die hinter den Glasscheiben hängen.
Drinnen ist schnell klar, dass es mehr als ein Raum mit Plakaten ist. Dass hier einige Menschen ihre Zeit verbringen, auch wenn es keine Zimmer und Betten gibt. Die Küche könnte auch in einer Wohngemeinschaft stehen. Verschiedene angefangene Öl- und Essigflaschen, und Sojasossen – dazwischen ein Campari – stehen auf einem Regal.
Über der Spüle klebt ein A4-Blatt, das mit dem Spruch «Revolution begins in the sink – gerechte Verteilung von Care-Arbeit» darauf hinweist, die Küche sauber zu hinterlassen.
Hier trifft sich das Kollektiv «RaAupe» jeden Montagabend. Raum und Miete teilt es mit anderen Gruppen. Zusammen haben sie das «de_block» gegründet und nutzen es für verschiedene Projekte.
13 Mitglieder zählt «RaAupe». Bei der Gründung 2015 waren es sieben. Der Altersdurchschnitt ist tief. Die Mitglieder sind zwischen 19 und 45 Jahre alt. Sie teilen ein Bankkonto und eine Vision, die ziemlich gross angelegt klingt: Sie wollen «einen Beitrag zu Emanzipation und Revolution sowie einer nicht-kapitalistischen, solidarischen Gesellschaft leisten». So steht es in ihrem Manifest.
Sie teilen deshalb nicht nur ihr Geld, sondern auch ihre Zeit und ihre Werte.
Was machen wir mit Geld? Und was macht Geld mit uns? Das ist die inhaltliche Klammer des Schwerpunktthemas, zu dem wir Anfang Januar zahlreiche Artikel veröffentlichen.
Revolution als Alltag
Die Idee: Hierarchien, die durch unterschiedlichen Bildungsgrad und Möglichkeiten entstehen, abbauen. Zum Beispiel sollen Menschen mit Kindern oder in Ausbildung durch das Kollektiv mitgetragen werden und nicht Vollzeit arbeiten müssen.
Die Abmachung: Jedes Mitglied arbeitet so viel, wie es kann, höchstens aber 60 Prozent. Den Lohn zahlen alle auf das gemeinsame Bankkonto ein. In ihrer übrigen Zeit engagieren sich alle Mitglieder politisch, bilden sich weiter, leisten Care-Arbeit und produzieren Güter wie Brot oder Salben, ohne dafür Geld zu erhalten oder zu verlangen.
Dabei spielt Solidarität nicht nur innerhalb des Kollektivs eine wichtige Rolle, sondern auch gegenüber Menschen, die nicht Teil von «RaAupe» sind. Mit der gemeinsamen Ökonomie soll für Projekte gespendet werden, die eine Einzelperson nicht mitfinanzieren könnte.
Ivan Abegglen ist Teil des Kollektivs, fast seit Beginn mit dabei und konnte sich sofort mit diesen Ideen identifizieren. «Ich möchte die Welt verändern, ich möchte eine Revolution, und ich möchte das im Alltag tun», sagt Abegglen und spielt dabei auf das Akronym «RaAupe» an: Revolution als Alltag. Ivan Abegglen ist 31, Laborfachkraft und spricht stellvertretend für das Kollektiv.
Eine Revolution stellt man sich nicht alltäglich vor. Warum glaubt das Kollektiv, so die Welt verändern zu können?
Geld teilen
«Wir wollen die Hefe im Teig sein, keine hübsche Insel im Kapitalismus. Wir möchten Teil der Gesellschaft sein und mit der Gesellschaft statt in einer Blase leben», sagt Abegglen. Deshalb teilen die Kollektiv-Mitglieder die eigenen vier Wände nicht. «Wir wollen uns nicht abkapseln, wir wollen potenziell unendlich gross werden», sagt Abegglen.
Ein gemeinsames Haus bedeute limitierter Platz, um neue Menschen im Kollektiv und der gemeinsamen Ökonomie aufzunehmen. «Zudem möchten wir einander beim Thema Wohnen nicht reinreden», sagt Abegglen. So gut sich das Kollektiv auch verstehe, so habe jede*r unterschiedliche Vorstellungen, wie er oder sie wohnen möchte.
Jedes Mitglied des Kollektivs zahlt seinen Lohn auf das gemeinsame Konto. Das individuelle Vermögen und etwaige Erbschaften sind noch privat. Es sei aber der Plan, das Vermögen zu kollektivieren. Was das Kollektiv damit machen würde, ist noch unklar. Es stehen schon Ideen im Raum, wie zum Beispiel, ein Haus oder einen Hof kaufen, wo verschiedene Menschen im Rahmen eines Solidaritätsprojektes wohnen können.
Jede*r hat andere Vorstellungen, wofür er*sie sein Geld ausgeben will. Gerade deshalb ist es oft ein Streitgrund. Warum sollte man es mit fremden Menschen teilen wollen?
«Im Kapitalismus entscheiden alle selber darüber, wofür sie ihr Geld ausgeben. Theoretisch könnte ich mir zehn Liter Olivenöl kaufen, um darin zu baden. Kein*e Verkäufer*in würde mich darauf hinweisen, dass es andere Menschen gibt, die es dringender brauchen, um damit zu kochen», sagt Abegglen.
In einer gemeinsamen Ökonomie sei das anders. Sie fördere das gemeinschaftliche Denken und man müsse sich den anderen gegenüber erklären, weshalb man etwas kaufen wolle. Da stelle man automatisch in Frage, ob man diese zehn Liter Olivenöl zum Baden wirklich kaufen wolle.
Mit diesem Beispiel will Abegglen zeigen, was der Kapitalismus anrichte. Den Kauf von 10 Litern Olivenöl könne man hier auch mit dem Kauf einer Yacht oder dem Buchen eines Kurztrips auf eine abgelegene Insel ersetzen, wo das Individuum die soziale Verantwortung und somit die Konsequenzen beispielsweise für das Klima nicht übernehme.
Dass in einem linkspolitischen Kollektiv keine Yachten gekauft oder Kurztrips gebucht werden, ist klar. Doch wie handhaben die Mitglieder des Kollektivs alltägliche Kaufentscheidungen?
Geld ausgeben
Für Abegglen gibt es zwei Dinge, die alle im Kollektiv beschäftigen: Niemand wolle eine Belastung für die anderen sein. «Kaufe ich die Gipfeli bei der Bäckerei oder nehme ich die Aufback-Gipfeli der Billiglinie im Grossverteiler?
Dabei spiele der Kontostand immer eine Rolle. Ist er tief, kaufen die einen nur noch Produkte der Billiglinie, während andere finden, dass alle Mitglieder des Kollektivs 60 Prozent arbeiten sollten. So kann sich das Gefühl von Ungerechtigkeit breit machen.
Das birgt viel Konfliktpotenzial. Erfahrungen, solche Konflikte zu lösen, hat das Kollektiv gesammelt. Denn es existiert seit sieben Jahren.
Das Kollektiv ist zwar von sieben auf dreizehn Mitglieder angewachsen, es gab aber auch Menschen, die «RaAupe» wieder verlassen haben. Die Gründe dafür waren verschieden. Nur zwei von neun Personen gingen aufgrund von Antipathien aus der Gruppe. Einige sind weggezogen, und manche wollten eine eigene gemeinsame Ökonomie zu anderen Rahmenbedingungen gründen.
Über Letzteres freut sich Abegglen: «Wenn es solche Zellteilungen gibt und so unsere Werte weiter nach aussen getragen werden können, ist das für mich ein Erfolg.»
Über Geld sprechen
«Auf der einen Seite ist es schon gut, wenn man die anderen auf etwas anspricht, das man unfair findet», sagt Abegglen. «Viel wichtiger ist es aber, die eigenen Bedürfnisse den anderen mitzuteilen.» Das reiche von einer Rückenmassage bis zu einer Reise.
Es habe eine Weile gedauert, bis sich das Kollektiv gefunden habe. «In den ersten Monaten war es schwierig. Wir haben bei jedem Treffen nur über Geld diskutiert und kamen nicht zu einem Schluss», erzählt Abegglen. Seit sie nur noch an vier Sitzungen pro Jahr über das Finanzielle sprechen, sei es einfacher geworden.
An diesen Abenden sprechen sie über Finanzanträge von über 1000 Franken, die alle Mitglieder des Kollektivs beantragen können. Dabei muss jede*r begründen, warum er*sie etwas braucht.
Das sei manchmal schwierig, weil nicht alle Menschen ihre Bedürfnisse gleich gut benennen und ansprechen können. Das habe viel mit dem individuellen Selbstbewusstsein zu tun, sagt Abegglen. Damit nicht immer dieselben Personen Anträge stellen und Freigaben erhalten, besprechen die Mitglieder, was sie sich mit genügend Geld auf dem Konto leisten würden.
So werden Bedürfnisse sichtbar, die sonst nicht ausgesprochen werden, und das Kollektiv kann das Ungleichgewicht angehen. Auch gruppendynamische Arbeit, wie in der Runde über Gefühle zu sprechen, helfe dabei.
Ausgeschlagen haben sie einander noch fast nie etwas. «Wir ermutigen einander eher, als dass wir sagen würden ‹Du gibst zu viel Geld aus.›», erzählt Abegglen.
Luxus ist subjektiv
«Die gemeinsame Ökonomie ist ein Luxus für mich.» Abegglen konnte dank der gemeinsamen Ökonomie vor ein paar Jahren eine Reise nach China machen, trotz zu wenig selbst verdientem Geld. Und lebt in einer Einzimmerwohnung statt in einer Wohngemeinschaft. «Jetzt habe ich einen Job, in dem ich gut Geld verdiene und anderen damit ihre Ausbildung oder Projekte mitfinanzieren kann», sagt Abegglen.
«Ich habe im Vergleich zu den anderen durchschnittlichen Ausgaben und deshalb fühle ich mich durchschnittlich. Das fühlt sich gut an», sagt Abegglen. Obwohl das in sich wiederum ein Widerspruch sei. Denn das Ziel der gemeinsamen Ökonomie sei ja nicht, dass alle mehr reingeben als sie rausnehmen und sich so als Wohltäter*in fühlen. Sondern, dass sich alle gut fühlen, auch wenn sie weniger auf das Konto einzahlen, als sie ausgeben.
«Unser Kontostand war schon so tief, dass einzelne Personen Geld von ihrem Vermögen auf das Konto überwiesen haben», sagt Abegglen. Dass sie nicht viel Geld haben, fänden einige aus dem Kollektiv sogar gut, weil dies das Risiko mindere, dass das Geld für Dinge genutzt werde, die dem eigenen Luxus dienen.
Sogar die Person mit den höchsten Ausgaben im Monat gebe im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt weniger aus. «Wir haben alle nicht viel Geld und eher bescheidene Ausgaben zwischen 1’200 bis 3’000 Franken pro Person. Gleichzeitig können wir viel ermöglichen, was wir alleine nicht könnten», sagt Abegglen. Etwa eine Weiterbildung finanzieren, trotz tiefem Lohn. Oder den Gemeinschaftsraum «de_block», wo neben dem Kollektiv andere Gruppen und Projekte ihren Platz haben. Zum Beispiel eine Schreibwerkstatt, in der Menschen Hilfe bei Übersetzungen oder beim Beantworten von amtlichen Briefen erhalten.
Denn das «de_block» soll auch ein Treffpunkt für Menschen in Bern West und aus der ganzen Welt sein. Das ist es auch an diesem Dienstagabend, an dem das Gespräch mit Ivan Abegglen stattfindet. Nach dem Treffen haben sich ein Mitglied von «de_block» und ihre Freund*innen angemeldet, um gemeinsam zu kochen.