«Boys will be boys»

Unser Philosophie-Kolumnist beobachtet Jungs, die Chaos stiften und fragt sich, ob wir sie manchmal nicht etwas zu einseitig erziehen.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Meine Tochter hat vor Kurzem zum ersten Mal an einer polysportiven Sportwoche teilgenommen. Es hat ihr sehr viel Spass gemacht, mit den anderen Kindern verschiedene Sportarten auszuprobieren oder durch den «Affengarten» aus Schwedenkästen und Kletterseilen zu turnen. Beim Hinbringen und Abholen habe ich mich vor das grosse Fenster der Sporthalle gesetzt und den Kindern zugeschaut. Die Veranstaltung war wunderbar organisiert, und ich hatte den Eindruck, dass sich die Kinder nie gelangweilt haben.

Ein Detail stach aber ins Auge. Immer wenn etwas ein wenig aus dem Ruder lief, waren Jungs die Auslöser. Wenn ein Kind über den Haufen gerannt oder zur Seite gestossen wurde, ist es immer ein Junge gewesen, der es über den Haufen gerannt oder zur Seite gestossen hat. Auf der Treppe zu den Umkleideräumen mussten Kinder manchmal ausweichen, weil laut schreiende Grüppchen von Jungs ohne Rücksicht auf Verluste rauf- oder runtergerannt sind. Ein Junge ist mit ausgestreckten Pistolenfingern von Kind zu Kind gelaufen und hat lachend gefordert, dass sie sich die Hosen runterziehen.

Die kleinen Draufgänger

Das war natürlich alles nur ein Spass, und niemand hat sich von dem Kleinen auch nur annähernd bedroht gefühlt. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, wenn Kinder laut und ausgelassen sind, wenn sie rennen und springen und die Welt um sich herum vergessen. Und doch war etwas distinkt anders an den Momenten, die mir beim flüchtigen Zuschauen aufgefallen sind. 

Eine andere Situation. Schwimmkurs, letzte Stunde vor Weihnachten. Die Kinder sollen mit bunten Kreisen in der Hand zum anderen Beckenrand schwimmen und sie auf einer Gummimatte in Tannenbaumform platzieren. Die Mädchen bringen die Strecke hinter sich, positionieren die Kreise irgendwo auf den unteren Zweigen. Zwei Jungs versuchen die Kinder vor sich einzuholen, rammen sie im Vorbeischwimmen, springen vor ihnen aus dem Wasser und legen laut jauchzend ihren Kreis auf die Spitze des Tannenbaums.

Wiederum: Das alles ist nicht tragisch. Es ist ja niemand zu Schaden gekommen. Und dennoch beunruhigen mich solche Situationen. Warum bloss?

Die Jungs, die mir in solchen Situationen auffallen, vergessen nicht einfach nur die Welt um sich herum. Ihre Rücksichtslosigkeit hat manchmal etwas Mutwilliges. Gerade so, als würden sie es darauf ankommen lassen, dass andere Kinder ihnen ausweichen. Als ob es ihnen Spass machen würde, sich auf diese Weise zu behaupten.

Alles nur Ausnahmefälle?

Das alles mag lediglich anekdotische Evidenz haben, aber es häuft sich dermassen und wird mir von so vielen anderen Eltern bestätigt, dass ich nicht an einen blossen Zufall oder die Subjektivität meiner eigenen Perspektive glaube. Es überrascht mich deshalb auch nicht, dass es für den Sommer ein polysportives Angebot gibt, das sich nur an Mädchen richtet.

Geschlechtertrennung ist vielleicht keine gute Idee, manchmal aber offenbar notwendig. Es scheint nicht selten vorzukommen: Jungs, die andere Kinder bedrängen, beschimpfen, mit Sand beschmeissen, erschrecken, umrennen oder auslachen. Nicht alle Jungs, noch nicht einmal die Mehrheit, aber fast immer nur Jungs.

«Boys will be boys», wird man vielleicht sagen. Eine befreundete Mutter hat im Sandkasten von einer anderen Mutter «es isch drum ä Giu-Giu» zu hören bekommen, nachdem deren Sohn nicht aufhören wollte, ein anderes Kind zu malträtieren. Auch das wieder nur eine Anekdote, aber sie ist bezeichnend. Viele Menschen scheinen davon auszugehen, dass ein bestimmtes Verhalten zur genetischen Ausstattung unserer Kinder gehört, etwas, das sie als typische Mitglieder dieses Geschlechts definiert.

In der polysportiven Woche sind mir zwei ganz andere Situationen aufgefallen, Situationen, in denen ein Kind zu weinen anfing. Wer hat in beiden Fällen das Kind an die Hand genommen und es zu einem Erwachsenen geführt? Mit besorgten Gesichtern, das weinende Kind tröstend. Jeweils zwei Gruppen von Mädchen. «Girls will be girls», könnte man denken. Vielleicht sind typische Mädchen fürsorglich und empathisch, Jungs dagegen tatkräftig und zielstrebig?

Eine alte Debatte

Ich will mich nicht auf die Diskussion der Frage einlassen, welche unserer Eigenschaften angeboren und welche das Ergebnis von Sozialisation sind. Diese Diskussion ist älter als ich und wird auf die eine oder andere Weise immer noch kontrovers geführt. Als Anhänger der Sozialisationsthese habe ich seit der Geburt meiner Kinder mit Schrecken feststellen müssen, wie viele Faktoren dann doch angeboren zu sein scheinen. Aber hat diese Determination wirklich hauptsächlich mit dem Geschlecht zu tun?

Dagegen spricht die Tatsache, dass es viele Jungs gibt, die zurückhaltend und fürsorglich, rücksichtsvoll und feinfühlig sind. Vielleicht sind die draufgängerischen Jungs also eher das Produkt einer bestimmten Erziehung. Zumindest zum Teil. Es ist ja nicht unplausibel anzunehmen, dass nicht alle unsere Charakterzüge determiniert sind und dass die meisten determinierten Eigenschaften durch Erziehung verstärkt oder abgeschwächt werden können.

Fürsorglichkeit und Draufgängertum wären dieser Auffassung zufolge nichts, was typisch für Mädchen oder Jungs ist, sondern Eigenschaften, zu denen ein Kind eine Anlage haben kann, die wir aber – als Eltern, aber auch als Gesellschaft – befördern oder verhindern können. Sie werden zwar jeweils mit einem Geschlecht konnotiert, und dadurch entstehen jede Menge Missverständnisse, stellen aber keine geschlechtsbedingte Notwendigkeit dar.

Gegen Schubladen im Kopf

Wenn das stimmt, sollten wir uns von einer starren Dichotomie der Geschlechter-Eigenschaften lösen und aufhören, davon auszugehen, dass Jungs so und Mädchen anders sind. Was wie eine antiquierte Forderung klingt, ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit. Das sieht man in jedem beliebigen Kinderkleiderladen. Auf der einen Seite die bequemen blau- grün-schwarzen Kleider mit Bildern von Raketen und Superhelden, auf der anderen die enger als nötig geschnittenen Kleider in lila, zartrosa und rot. Kleiderläden im Mittelalter sahen wahrscheinlich egalitärer aus.

Es wird inzwischen sehr viel darüber geredet, wie einengend diese Festlegungen für Mädchen sind, und zum Glück ist es selbstverständlich geworden, Mädchen zu vermitteln, dass sie alles machen können, was Jungs auch machen können. 

Umgekehrt scheinen wir von Jungs aber oft weiterhin ein stereotypes Verhalten zu fordern. Ein Junge, der Gedichte liest und nicht mit anderen Jungs raufen mag, wird oft mit Misstrauen beäugt. Jungs, die vielleicht gerne mal ein Kleid oder eine Schleife im Haar tragen würden, werden nicht selten von ihren Altersgenossen ausgegrenzt.

Subtile Mechanismen der Unfreiheit

Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir nicht darum, dass alle Jungs Röcke und Schleifen tragen sollen. Ich plädiere lediglich dafür, dass wir uns in unserem Umgang mit Kindern weniger an überkommenen Geschlechtervorstellungen orientieren und Jungs genauso wie Mädchen die Freiheit lassen, sich so zu entwickeln, wie es sich für sie gut anfühlt. 

Die Mechanismen, mit denen wir sie in geschlechterkonforme Bahnen lenken, sind teilweise so subtil, dass leicht der Eindruck entstehen kann, dass wir diese Freiheit bereits zulassen. Auch ich selbst bin nicht frei davon. «Pass auf, dass du nicht runterfällst!», «Halt dich gut fest!», «Lauf nicht zu weit weg!»: Hätte ich einen Sohn, würden mir solche Sätze vielleicht weniger oft herausrutschen.

Löst man sich von der Vorstellung, dass Verhalten und Charakter durch die Geschlechterzugehörigkeit zementiert sind, können wir uns eine viel wichtigere Frage stellen: Welche Eigenschaften, die traditionell mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert werden, wollen wir in unseren Kindern kultivieren? Das ist eine Frage, die mit Werten zu tun hat, und darüber sollte man in einer Gesellschaft offen reden.

Mein Vorschlag wäre, dass wir unseren Kindern etwas mehr Fürsorge und etwas weniger Draufgängertum vermitteln sollten. Etwas mehr Gemeinschaftssinn und etwas weniger Individualismus. Etwas mehr Empathie und etwas weniger Übermut. Und hier komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen. Denn mir geht es ja nicht um die polysportive Woche oder Jungs, die auf Spielplätzen andere Kinder von der Schaukel stossen.

Es geht um die Demokratie!

Mir macht vielmehr Angst, dass eine bestimmte Haltung, die üblicherweise mit der männlichen Geschlechterrolle verbunden wird, eine unerwartete Renaissance zu erfahren scheint. Eine Haltung der beinahe schon amüsierten Rücksichtslosigkeit. Eine Haltung, die sich nicht um das Leid anderer Menschen schert. Ein Anspruchsdenken, das völlig selbstverständlich davon ausgeht, dass man Macht ausüben kann, weil man stärker oder reicher ist.

Wenn Elon Musk die Entwicklungshilfe der USA demontiert und dazu Witze im Internet macht oder aus Lust an der Provokation den Hitler-Gruss andeutet, dann wirkt er oft wie ein pubertierender Junge. Ein «Giu-Giu», über den man nur lachend den Kopf schütteln kann. Nur dass er dabei Millionen von Fans hat, die sich seine Haltung zum Vorbild nehmen. Und neben seiner ökonomischen Vormachtstellung inzwischen auch ganz konkret politische Macht ausübt.

Es ist ja nicht nur Musk, nicht nur Trump, und es passiert nicht nur in den USA. Sich über Grenzen hinwegsetzen, andere nicht beachten, sich über Menschen lustig machen, denen es nicht gut geht, nur den eigenen Vorteil sehen – das alles gerät zunehmend in Mode. Und es bedroht die Demokratie. Weltweit. 

Wir können das Problem nicht auf einen Schlag lösen, aber wir können einen kleinen Beitrag dazu leisten, indem wir unsere Kinder mit anderen Werten aufwachsen lassen. Egal ob wir Söhne oder Töchter haben.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person:

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit über 15 Jahren in Bern.

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Diskussion

Unsere Etikette
Benjamin Seewer
25. Februar 2025 um 11:43

Lieber Christian

Danke für deine Kolumne; ich stimme voll und ganz mit dir überein. Ergänzen möchte ich aber, dass wir neben der Erziehung unserer Kinder auch unser eigenes Verhalten reflektieren können, was unsere eigene Demokratiefähigkeit ebenso verbessern würde.

Martin Joss
20. Februar 2025 um 08:42

Vielen Dank Herr Budnik für diesen sehr lesenswerten Artikel. Die toxische „Männlichkeit“, feiert sich weltweit. Täglich Bilder von Trump, Putin, Musk und Konsorten. Rechtsextreme Populisten und Populistinnen im Vormarsch. Auch in der Schweiz! BR Rösti, BR Keller-Suter sind explizit froh, dass Trump gewählt wurde. Noch nie gab es im Bundesrat seit 1848 einen Machtwechsel. Der rechte 4er- Block bestimmt aktuell schamlos und autoritär, was Sache ist. Im Parlament in beiden Kammern ein ähnlich einseitiges Bild. Ist ein Land, das seit seiner Gründung im Machtzentrum nie einen Machtwechsel erlebt hat wirklich eine Demokratie? Natürlich, wir haben Volksabstimmungen, das ist ein Privileg. Aber gewinnt das Volk mal eine Abstimmung wie bei der Konzernverantwortung, steht der Ladenhüter, das Ständemehr, einem Erfolg im Weg.

Wie sollen sich in diesem von rechten Männern, Medien & Konsum geschaffenen Männer-Klima, Mädchen und Knaben frei und unbeeinflusst entwickeln können? Martin Joss