Gleichheit – «Hauptstadt»-Brief #346
Donnerstag, 1. August – die Themen: Nationalfeiertag; Antisemitismus; Obdachlose; Nydegglift; Biltzeinschlag.
Zum Nationalfeiertag, den die Schweiz heute begeht, halten landauf, landab Politiker*innen und Bürger*innen Reden. Doch was denken am 1. August jene Personen, die hier leben, aber eigentlich unerwünscht sind?
Darum fragte ich gestern meine eritreische Bekannte, was sie über die Schweiz denkt. Die Frau ist vor acht Jahren mit ihren beiden Töchtern übers Mittelmeer nach Europa geflüchtet. Als alleinerziehende Mutter und Ex-Frau eines geflüchteten Deserteurs sah sie keine Zukunft in der Diktatur Eritreas. Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt, sie hat aktuell den Status einer vorläufigen Aufnahme.
Meine Bekannte sagte zuerst: «Mir gefällt in der Schweiz die Freiheit. Ich lebe hier – anders als in Eritrea – in Sicherheit.» Und es gebe hier viele positive Menschen, die sehr nett zu ihr seien.
Es sei aber schwierig zu verstehen, dass in der Schweiz nicht alle gleich behandelt würden. Anders als andere eritreische Geflüchtete, habe sie nur den Status einer vorläufigen Aufnahme, sagte die Bekannte. «So kann ich zum Beispiel nicht in ein Nachbarland reisen und die Schweiz wirkt wie ein grosses, sicheres Gefängnis für mich.»
Ich finde diese beiden Gedanken sehr treffend.
Wir können dankbar sein, dass wir in der Schweiz in Sicherheit und Freiheit leben. Das hat unter anderem mit unserer starken Demokratie zu tun. Und zu dieser sollten wir Sorge tragen.
Und da kommt der zweite Gedanken meiner Bekannten ins Spiel. Unsere Verfassung misst zwar der Chancengleichheit ein grosses Gewicht zu. Doch bei Gleichheit und Fairness können Schweizer Gesellschaft und Politik noch zulegen. Wir sollten zum Beispiel den strukturellen Rassismus stärker bekämpfen, wir könnten reiche Erben stärker besteuern oder müssten die Startchancen aller Kinder im Land verbessern.
Dazu gehört für mich auch, dass wir die beiden Töchter meiner eritreischen Bekannten nicht länger in der Unsicherheit der vorläufigen Aufnahme belassen. Sie und ihre Mutter sollten schnell einen definitiven Aufenthaltsstatus erhalten. Mit dieser Sicherheit im Rücken, können sie ihre Ausbildung zu Ende bringen und dann die Schweiz voranbringen. Das wäre eine gelebte Chancengleichheit.
Dann würden künftig hier lebende Geflüchtete neben der Sicherheit und der Freiheit wohl auch die Gleichheit als positive Eigenschaft der Schweiz bezeichnen können.
Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:
- Antisemitismus: Der Berner Stadtratskandidat Loreno Heer vom Grünen Bündnis tritt wegen antisemitischer Social-Media-Beiträge von seiner Kandidatur zurück. Das bestätigte die Partei auf Anfrage. Heer hat laut «20 Minuten» in den vergangenen Wochen auf der Plattform X Beiträge verbreitet, die Israel das Existenzrecht absprechen und Israels Ministerpräsident Netanyahu mit Hitler gleich setzen. Das Grüne Bündnis stuft laut Präsidentin Rahel Ruch besagte Social Media Posts als klar antisemitisch ein und distanziert sich davon in aller Form. Heer habe eingesehen, dass die vertretenen Positionen nicht akzeptabel seien und die strittigen Posts gelöscht. «In gegenseitigem Einvernehmen haben Parteileitung und Heer dennoch entschieden, dass er seine Kandidatur für den Stadtrat zurückzieht», sagt Ruch zur «Hauptstadt». Brisant ist, dass sich Antisemitismus just in jener Partei zeigt, die kantonal mit einem Vorstoss von Ruch einen Aktionsplan gegen Antisemitismus fordert. Die Partei wolle nun neben der politischen Arbeit auch intern mit einem Workshop die Sensibilisierungsarbeit gegen Antisemitismus verstärken, so Ruch.
- Obdachlose: Bern soll das Konzept «Housing First» in der Obdachlosenhilfe testen. Finnland wendet es schon lange erfolgreich an. Meine Kollegin Flavia von Gunten hat in Helsinki ein Haus besucht, in dem ehemals Obdachlose bedingungslos wohnen. Sie berichtet in ihrem Artikel «Erst die Wohnung, dann der Rest» von den finnischen Erfahrungen. Zudem zeigt sie auf, wo die Stadt Bern gewisse Housing First-Kriterien schon anwendet und wo Expert*innen noch Potenzial für Verbesserungen sehen. Von Guntens Artikel wird heute im Rahmen einer Medienvielfaltswoche auch den Leser*innen der «Republik» zugänglich gemacht. Im Gegenzug stellen wir am Samstag auf unserer Webseite einen «Republik»-Artikel zu den kollektiven Traumata in Israel und Palästina vor.
- Sommer-Serie: Die «Hauptstadt» macht noch bis diesen Sonntag Sommerpause. Wir publizieren während drei Wochen abgesehen von einem wöchentlichen Brief fast keine neuen Artikel. Trotzdem liefern wir dir Lesestoff. Redaktionsmitglieder empfehlen dir ihre persönlichen Lieblingstexte aus dem vergangenen «Hauptstadt»-Jahr. Diese Woche rät Jürg Steiner, das kürzlich erschienene «Klimagipfelgespräch» zu lesen. Es sei eine sehr gute Vorbereitung auf den bevorstehenden Wahlherbst in der Stadt Bern.
- Nydegglift: Das Berner Quartier Matte soll einen besseren Anschluss in die Altstadt erhalten. Darum will die Stadt an der Nydeggbrücke einen Lift bauen. Laut dem SRF-Regionaljournal lässt sie aktuell zwei Varianten prüfen. Eine Idee aus dem Quartier sieht vor, dass der Lift aussen an der Brücke angebracht wird. Mit einer verglasten Kabine solle so ein schönes Fahrerlebnis ermöglicht werden. Die zweite Variante kommt von der Denkmalpflege: Hier würde der Lift in den Brückenpfeiler eingebaut. 2025 soll die Stadtregierung laut SRF über die Varianten des Lift-Projekts befinden.
- Blitzeinschlag: In Uetendorf hat am Mittwochnachmittag ein Blitz in ein Zweifamilienhaus eingeschlagen und ein Feuer verursacht. Dabei brannte der Dachstock aus. Verletzt wurde niemand. Das Gebäude war gemäss der Polizei vorerst nicht mehr bewohnbar.
- Startup: Die Berner Klimatechfirma Neustark hat gemäss Medienmitteilung in einer Finanzierungsrunde 69 Millionen US-Dollar von Investoren erhalten. Das Unternehmen reichert Recyclingkies mit CO2 an, das dort permanent gebunden wird, wie mein Kollege Nicolai Morawitz kürzlich aufgezeigt hat. Mit der neuen Finanzierung will Neustark nun Hunderte von CO2-Speicherpartner in ganz Europa, Nordamerika und im asiatisch-pazifischen Raum gewinnen.
PS: Wer heute in der Stadt Bern den Nationalfeiertag begehen möchte, der hat etliche Möglichkeiten. Der Bundesplatz und die Bundesgasse werden von 11 bis 24 Uhr zur Eventmeile. Im Angebot stehen laut dem Verein Idéebern Essen, Trinken, musikalische Unterhaltung und ein Familienprogramm. Auf dem Platz bespielen zum Beispiel regionale Jungtalente eine Bühne. Der Bundesplatz wird auch am Samstag belebt sein. Dann findet dort nach einem Demonstrationsumzug das Pride Festival statt.