Bern West Spezial

Die neuen Glöckner*innen vom Tscharni

Der Glockenturm ist das Wahrzeichen des Tscharni. Vier Jahre lang spielte er keine Melodien mehr. Nun erklingt er wieder – frisch digitalisiert. Ein Treffen mit den Glöckner*innen Rolf Moser und Ursula Wermuth.

© Danielle Liniger
Der goldene Stern glitzert im Sonnenlicht. (Bild: Danielle Liniger)

Golden blitzt der Stern im Sonnenlicht. Rolf Moser und Ursula Wermuth kneifen die Augen zusammen und schauen hoch zu ihrem Glockenturm. Wochentags ab 9 Uhr bis 19 Uhr spielt er einmal in der Stunde eine kleine Melodie – am Wochenende beginnt er später. Dafür, dass es dabei keine Panne und immer wieder etwas Abwechslung gibt, sorgen sie beide. Sie sind die Glöckner*innen des Tscharni.

Danielle Liniger
Rolf Moser und Ursula Wermuth fühlen sich beide mit dem Glockenturm im Tscharni verbunden. (Bild: Danielle Liniger)

Ja, Paris hat den Eiffelturm, aber das Tscharnergut hat den Glockenturm. Im Café Tscharni sind die Wände tapeziert mit Bildern des Turms mit den 18 gut sichtbaren Glocken. Sogar die Kaffeetassen sind mit einem kleinen Glockenturm verziert. Seit 1964, mit der Einweihung der Siedlung, spielt das Wahrzeichen des Tscharni immer zwei Minuten vor der vollen Stunde wechselnde Melodien. Die Zeit ist so gewählt, dass die Melodie sich nicht mit den Glocken des nahen Kirchturms überschneidet. «Alle Vöglein sind schon da» oder «S’isch ja nur es chlises Tröimli gsi» sind zu hören.

Und ausgerechnet dieser Turm war in den letzten vier Jahren verstummt. Im Hitzesommer 2018 schmolz ein Lochband, mit dem die Melodien auf den Glocken gespielt wurden, in den Motor hinein. Danach musste der Turm, der in seiner filigranen Stahlkonstruktion etwas an eine Murmelbahn erinnert, aufwändig und teuer saniert werden. 250’000 Franken kostete die Sanierung, die Tscharnergut Immobilien AG übernahm einen grossen Teil der Kosten, der Lotteriefonds und der Denkmalschutz des Kantons Bern einen weiteren.

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Der Glockenturm steht mitten in der Hochhaussiedlung. (Bild: Danielle Liniger)

Ganze Generationen von Kindern sind mit den Melodien des Turms aufgewachsen. So auch der heute 54-jährige Rolf Moser, der bereits im Quartier zur Schule ging. «Man hörte viele Stimmen im Quartier, die fragten, wann die Glocken endlich wieder spielen», sagt Moser. Er sitzt mit Ursula Wermuth auf dem Rand des Teichbeckens, das sich unterhalb des Turms befindet. Im April oder Mai soll hier wieder Wasser eingefüllt werden. Die Melodien erklingen bereits wieder seit Oktober. Und sogar in einer grösseren Vielfalt als vorher. Denn der Turm ist jetzt digitalisiert.

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Ursula Wermuth weiss viel über die Geschichte des Turms. (Bild: Danielle Liniger)

«Hören Sie», sagt Ursula Wermuth. Es ist zwei vor zwei. Die Glocken spielen gut erkennbar «C-A-F-F-E-E». Das Lied wurde bereits in der Zeit vor der Digitalisierung gespielt. Es war in die damaligen Lochbänder gestanzt, dafür war Ursula Wermuths Vater Ernst verantwortlich. Ursula Wermuth übernahm es ins digitalen Programm. Ehrensache.

Ihr Vater war während Jahrzehnten ehrenamtlicher Glöckner im Tscharni. 2019 ist er gestorben. Und für die 69-jährige Ursula Wermuth war klar, dass sie nun, da die Glocken wieder spielen und sie pensioniert ist, etwas zurückgeben will.

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Rolf Moser spazierte als Kind täglich am Turm vorbei. (Bild: Danielle Liniger)

Gemeinsam mit Rolf Moser, der im Tscharni in einem Integrationsprojekt arbeitet und als Abwart tätig ist, übernahm sie das Glöckneramt. Ein Ehrenamt. So viel gebe es nicht zu tun. Sie machen Playlisten für jeweils vier Wochen, was etwa 15 Minuten dauere. Pro Woche werden vier verschiedene Lieder gespielt. «Zwei neutrale, ein Schlager, ein klassisches», sagt Ursula Wermuth bestimmt. Allerdings gibt es ein paar gewichtige Einschränkungen: Die 18 Glocken sind beschränkt auf eineinhalb Oktaven. Und die Glocken können nur einen Impuls geben, der immer gleich lang ist. Es gibt also keine langen Töne.

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In einem Schaukasten neben dem Turm sieht man, wie die Lochbänder funktionierten. (Bild: Danielle Liniger)

Der «Tscharni Blues» von Chlöisu Friedli könne so leider nie erklingen, sagt Ursula Wermuth Und auch nicht «Spiel mir das Lied vom Tod», das oft von Anwohner*innen gewünscht werde. «W. Nuss vo Bümpliz» sei ebenfalls zu schwierig für die Glocken. «Aber da habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.»

Wenn keine Aufnahmen existieren, spielt sie die Melodien auf dem Keyboard ein, nimmt sie auf einen USB-Stick auf, den sie anschliessend mit dem Glockenspiel verbindet. Allerdings beherrscht sie das Klavier nur einhändig, deshalb sucht Ursula Wermuth momentan jemanden, der sich vorstellen kann, auf dem Klavier ehrenamtlich Melodien für den Turm einzuspielen. Ein nächstes Projekt gibt es bereits: «Hells Bells» von AC/DC sollen dereinst vom Glockenturm aus das ganze Tscharni beschallen. «Phu, das sind fünfeinhalb Oktaven», sagt Ursula Wermuth, «aber wir versuchen es».

Wer gerne Melodien einspielen würde, kann sich an der Info des Quartierzentrums oder auf [email protected] melden.

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Diskussion

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Maja Balmer
02. März 2023 um 20:55

Der Glockenturm im Tscharni ist wunderbar! Vielleicht, weil er Teil meiner Heimat ist. Aufgewachsen bin ich zwar im Kleefeld, das Tscharni war aber erweitertes "zuhause". Kleefeld-Teenies gingen damals oft im Tscharni in den Ausgang 😄. Auch arbeitete ich 7 Jahre im Tscharni und freute mich täglich an den Melodien der Glocken. Manchmal lernte ich mit meinen Kindern sogar die vollständigen Lieder der stündlichen Klänge. Schön, dass der Glockenturm saniert wurde!