Der Weg zum grünen Kanton Bern
Das bürgerlich dominierte Kantonsparlament beauftragt die Regierung, einen Green New Deal voranzutreiben. Konkret: Einen Aktionsplan vorzulegen, wie Bern bis 2050 klimaneutral wird. Ein Papier, das bloss viel verspricht? Der grüne Grossrat Jan Remund ist optimistisch. Und will es bleiben.
Jan Remund, diese Woche wurde im Grossen Rat der von Ihnen initiierte Vorstoss für einen Green New Deal im Kanton Bern überwiesen. Einen Tag später sprach sich der Nationalrat für den Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative aus. Eine gute Woche für Sie als grünen Politiker?
Jan Remund: Eine sehr positive Woche. Man sieht, dass die Dringlichkeit der Klimafrage klar ist. Auch bei der politischen Mitte, die mithelfen muss in unserem System, damit sich etwas bewegt. Von der Grössenordnung her wäre es sehr gut, wenn die Gletscher-Initiative so umgesetzt werden könnte (siehe Box). Denn der Bund muss in der Klimapolitik die Hauptweichen stellen; ohne ihn könnte der Kanton nichts umsetzen. Aber für die kantonale Klimapolitik ist der Green New Deal ein wichtiger Schritt.
Die Gletscher-Initiative verlangt – unter anderem –, das Ziel in der Verfassung zu verankern, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral wird. Das heisst, sie darf nicht mehr Treibhausgase ausstossen, als sie auf natürliche Art oder mit technischer Hilfe absorbieren kann. Die Initiative wird derzeit im Parlament beraten. Der Nationalrat hat diese Woche mit einem klaren Mehr entschieden, der Initiative einen indirekten Gegenentwurf entgegenzustellen. Er hält am Netto-Null-Ziel 2050 fest und stellt 3,2 Milliarden Franken in Aussicht, die über zehn Jahre für zusätzliche Klimamassnahmen eingesetzt werden könnten, wie die Republik in einem lesenswerten Überblick schreibt. Das Dossier geht nun noch in den Ständerat. Kommt der Gegenentwurf durch, wird die Initiative zurückgezogen und ergreift niemand das Referendum, würde er ohne Abstimmung in Kraft treten – quasi als Realersatz für das 2021 abgelehnte CO2-Gesetz.
Warum braucht der Kanton Bern einen Green New Deal? In der Kantonsverfassung steht bereits, dass Bern 2050 klimaneutral sein muss.
In der Verfassung ist das Ziel fixiert, aber nicht, wie genau man dorthin kommt. Hauptbestandteil des Green New Deal ist ein Aktionsplan, den der Regierungsrat jetzt erarbeiten muss. Dieser Aktionsplan muss aufzeigen, was fehlt bis zur Klimaneutralität, was gemacht werden muss, was es kostet.
Wie lange hat die Regierung Zeit, diesen Aktionsplan zu erarbeiten?
Das haben wir nicht definiert. Aber ich habe mich bei der Formulierung des Vorstosses am Kanton Graubünden orientiert, der Bern mit dem Green New Deal voraus ist. Ein Jahr nach Überweisung des Vorstosses legte der Bündner Regierungsrat einen sehr guten Aktionsplan vor, jetzt, ein weiteres Jahr später, ist das erste Massnahmenpaket für rund 70 Millionen Franken verabschiedet worden. Das heisst also: In Bern sollten wir 2023 den Aktionsplan haben, 2024 sollte die Umsetzung beginnen.
Der Aktionsplan ist ein Papier. Was am Ende zählt, ist, wieviel die Umsetzung kosten wird.
Genau. Graubünden ist nicht komplett anders aufgestellt als der Kanton Bern. Deshalb kann man sich für eine finanzielle Abschätzung an ihm orientieren. Die Bündner*innen rechnen mit Kosten von 1,7 Milliarden Franken, eine Milliarde übernimmt der Kanton, den Rest zahlen der Bund, die Haushalte und Unternehmen. Graubünden hat fünfmal weniger Einwohner*innen als Bern, also kämen wir auf rund 5 Milliarden Franken für den Kanton Bern.
Der aber so viel Geld nicht einfach vorrätig hat.
Der Betrag verteilt sich bis 2050 auf knapp 30 Jahre, macht pro Jahr etwa 170 Millionen Franken. Das ist viel Geld, klar. Aber allein aus dem nationalen Finanzausgleich erhält der Kanton Bern eine Milliarde Franken pro Jahr, sein Jahresbudget umfasst 12 Milliarden Franken. Da muss es möglich sein, für diese prioritäre Aufgabe 170 Millionen Franken bereitzustellen.
Welche Massnahmen haben Priorität, wenn man im Kanton Bern Klimaneutralität anstreben will?
Ein zentraler Bereich ist der Ersatz fossil betriebener Heizungen. Davon gibt es noch 90’000 Stück, obschon Bern Hausbesitzer*innen im interkantonalen Vergleich finanziell stark unterstützt, wenn sie auf eine nachhaltige Alternative umsteigen. Dafür zahlt der Kanton im Jahr 30 Millionen Franken, der Bund legt weitere 60 Millionen Franken obendrauf. Mit 90 Millionen Franken ersetzt man pro Jahr aber bloss 3000 Ölheizungen. Es dauert also 30 Jahre, bis die 90’000 Fossilfeuerungen weg sind. Das ist zu lange. Für den Aktionsplan muss man zum Beispiel überlegen, ob ein Verbot von mit fossiler Energie betriebenen Heizungen ab 2030 nötig ist.
Reden wir nicht nur von Öl-, sondern auch von Gasheizungen?
Man wird erst seit dem 1. Mai 2022 unterstützt, wenn eine Gasheizung ersetzt wird. Zuvor erhielt man dafür kein Geld. Der Grund war, dass die grossen Stadtwerke Gas verkauft haben. Ihre Lobby war so stark, dass sie das über kantonale Vorschriften so festlegen konnten.
Aber jetzt hat da der russische Präsident nachgeholfen?
Genau.
Jan Remund (53) ist Geograf und Leiter des Geschäftsbereichs Klima und Energie beim Berner Büro Meteotest in der Länggasse. Er war lange Parlamentarier in Köniz, seit einem Jahr sitzt er für die Grünen im Grossen Rat. Innert kurzer Zeit hat er sich als Klima- und Energiepolitiker etabliert, der über das rot-grüne Spektrum hinaus Mehrheiten finden kann. Remund ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Töchter und lebt in Mittelhäusern (Gemeinde Köniz).
Das andere heisse Eisen ist der Verkehr. In der gleichen Session, in der das Kantonsparlament den Green New Deal beschloss, bewilligte es Hunderte Millionen Franken teure Strassenbauprojekte bei Aarwangen und im Emmental. Zwei Schritte vorwärts, und wieder einer zurück?
Ja. Der Grundsatz, dass man den Verkehr nicht weiter ausbauen darf, wenn man die Klimaziele erreichen will, steht zwar in wissenschaftlichen Papers, aber die politische Mitte, die wie gesagt für die Mehrheitsbildung entscheidend ist, ist nicht bereit, ihn zu anerkennen. Dann kommen solche Projekte, bei denen zudem oft auch noch lokale Interessen eine Rolle spielen, eben durch. In der Parlamentsdebatte wurden diese Strassenprojekte zum Plebiszit für oder gegen das Auto hochstilisiert. Das ist komplett überzogen. Meiner Meinung nach sind das zu teure Strassenbauten, die zu wenigen Menschen etwas bringen und zu viel Schaden anrichten – auch an Landschaft und Biodiversität.
Aber als grüner Politiker sind Sie schon grundsätzlich gegen das Auto?
Nein. Würde ich etwa in Lützelflüh wohnen, hätte ich wohl auch eines. Die im Rahmen des Stadt-Land-Diskurses immer wieder erzählte Geschichte, grüne Politik sei nicht kompatibel für die Landbevölkerung, ist überhaupt nicht stichhaltig. Es ist auf dem Land eher einfacher, klimaneutral zu leben.
Wie das?
Man kann eine Solaranlage aufs Dach setzen oder, weil man meist etwas mehr Platz hat, im Haus eine Holzheizung einbauen. Man kann ein Elektroauto kaufen, das ab 2025 im Anschaffungspreis billiger sein wird als ein Benziner. Diese Entwicklung ist im Gang. Die Problemzone, was den Ersatz fossil betriebener Heizungen angeht, liegt eher in den Ballungsgebieten. Da haben wir noch sehr viele Öl- und Gasheizungen. Eine Lösung wären Fernwärmenetze. Bern baut seines aus; Biel und Nidau bauen neu ein Netz basierend auf Bielerseewasser, Thun hat Fernwärmenetze und hat einen Ausbau, vielleicht sogar mit Seewasser, vor. Aber das kostet Hunderte Millionen Franken und dauert sehr lange.
Auch die Verkehrsprobleme spitzen sich vor allem in der Agglomeration zu. Jedenfalls wenn man der Argumention folgt, mit der der Ausbau der Autobahnen um die Stadt Bern vorangetrieben wird.
Der geplante Ausbau der Autobahnen um Bern ist beängstigend, ebenso wie die Tatsache, dass der Regierungsrat dies gegenüber dem Bund alles gutgeheissen hat, wie wir kürzlich herausgefunden haben. Einzelne Aspekte – etwa zur Erhöhung der Sicherheit am Autobahnanschluss Wankdorf – ergeben Sinn. Aber für einen Ausbau sehe ich kein Argument.
Eine Kapazitätserhöhung auf der Autobahn um Bern verhindert, dass der Verkehr in die Quartiere ausweicht. Das macht doch Sinn.
Die neuesten Prognosen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) zeigen, dass der Verkehr im Raum Bern gar nicht mehr gross zunehmen wird, auch nicht in wachsenden Gemeinden wie Köniz oder Zollikofen. Viele Menschen werden pensioniert, unter dem Strich wird die Zahl der arbeitenden Bevölkerung eher abnehmen, zudem bleibt eine gewisser Homeoffice-Anteil erhalten. Wir haben den Antrag gestellt, dass diese neuen Erkenntnisse in die Planung des Kantons einfliessen. Das wird passieren, aber erst in einigen Jahren.
Gingen Sie eigentlich viele Kompromisse ein, damit Ihr Vorstoss für den New Green Deal mehrheitsfähig wurde?
Man muss natürlich einen Vorstoss schon abtemperieren, dass er in diesem Parlament durchkommt. Mir war klar, dass ein bloss grüner Vorstoss chancenlos ist, deshalb suchte ich von Beginn weg über das linke Lager hinaus Mitunterzeichnende. Die Leute verschiedener Parteien, die ihn unterschrieben haben, die kennen das Problem, und sehen, wie wichtig und dringlich es ist. Und dass es auch mehr kostet, wenn man nichts macht. Das ist wichtig. Klar, der Vorstoss ist nicht klimajugendtauglich und verlangt das Netto-Null-Ziel nicht für 2030. Wir sagen, 2042 wäre gut. Aber in der Verfassung steht jetzt 2050. Das ist halt schon der Kompromiss, den man eingehen musste.
Ein schmerzhafter Kompromiss für Ihre grüne Seele?
Für mich ist das kein innerer Kampf. Wenn wir es schaffen, 2050 klimaneutral zu sein, sind wir schon sehr gut. Natürlich ist es besser, wenn es vorher passieren würde. Aber per 2050 kann es uns gelingen, und ich war nie einer, der unbedingt ein noch ambitionierteres Ziel anstrebte, weil mir klar ist, wie schwierig es ist.
Im Moment wird viel darüber gesprochen, wie man der städtischen Hitzeinsel begegnen könne. Auch Balkonpflanzen sollen eine Rolle spielen, das Berner Start-up Boum hat sogar ein appgesteuertes Kit lanciert, das eine erfolgreiche Balkonbegrünung garantieren soll.
Gar keine schlechte Idee. Ich kenne viele vertrocknete Balkonpflanzen von meinen Töchtern, die immer gute Ideen hatten, aber nicht unbedingt Ausdauer beim Giessen. Balkon- und Fassadenbegrünung sind gut und wichtig. Es braucht beides, die grossen und kleinen Massnahmen. Ich befasse mich ja beruflich auch damit, wie man in dicht bebauten Umgebungen eine Temperatursenkung hinkriegt. Zwei bis drei Grad sind möglich mit einer guten Gestaltung.
Sie leben in Mittelhäusern in der grossen, relativ dichten Holzbausiedlung Strassweid, die vor gut 20 Jahren gebaut wurde. Unlängst haben Sie auf dem Balkon eine Wetterstation installiert.
Genau, und was ich sehe, ist, dass man es, was die Temperatursenkung bei grosser Hitze angeht, besser als in dieser Siedlung fast nicht machen kann. Es hat sehr viele Bäume, die viel Wasser verdunsten, und unterstützt durch den Sensetalwind bleibt das Klima angenehm.
Glauben Sie eigentlich daran, dass es plötzlich doch schneller gehen könnte bei der Umsetzung von Klimamassnahmen.
Ich hoffe es. Es gibt ja exponentielle Entwicklungen bei der Technik. Die Zahl der Elektroautos zum Beispiel nimmt exponentiell zu. Man sieht sie lange nicht, und dann plötzlich sind sie überall. Auf einmal hat es nur noch so wenige Benziner, dass es kaum mehr Sinn macht, Tankstellen zu betreiben. An solchen Kipppunkten kann eine Veränderung plötzlich Fahrt aufnehmen.
Sie sind Wissenschaftler und Politiker. Stimmt es, dass Sie sich als Politiker immer zwei Schritte hinter dem bewegen, was Sie beruflich machen?
Ja. Die Politik braucht in diesen Fragen eine extrem hohe Sicherheit, damit sie sich bewegt. Aber ich bin ein genügend positiver Mensch, dass ich sage: Es lohnt sich immer noch. Letztlich bringt jedes Zehntelgrad, um das sich das Klima nicht erwärmt, einen Gewinn.