Smart – «Hauptstadt»-Brief #42
Donnerstag, 16. Juni 2022 – die Themen: smarte Balkonbegrünung und Green New Deal; Lehrer*innenmangel; Dorffest Zollikofen; Armut in der Stadt Bern; Sammelwut von «Reflektieren»; warum das Berner Kammerorchester rockt.
«Schliifts?» Das dachte ich, als ich zum ersten Mal von der Berner Start-up-Firma namens Boum hörte. Seit wenigen Tagen nun ist Boum, ein Spin-off von Pflanzenwissenschaftlern der Universität Bern, auf dem Markt. Auf der Boum-Website kann man ein Komplettsystem zur smarten Balkonbegrünung bestellen. Smart meint: Neben Töpfen gehören ein speziell konzipiertes Substrat sowie eine ausgeklügelte Samenmischung für Pflanzengemeinschaften dazu, die perfekt für den Balkon eingestellt sind. Und vor allem: Ein über eine App gesteuertes, solarbetriebenes Bewässerungssystem, das drei Wochen autonom funktionieren kann. Auch, wenn man in den Ferien ist oder das tägliche Giessen im Alltagsstress vergessen geht. Die Boum-Gründer*innen verstehen ihr Produkt auch als Beitrag zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels. Ja, sogar als Impuls für die «grüne Stadt der Zukunft», wie Gründer Matthias Erb in der Publikation uniaktuell sagt. Gegen die städtische Hitzeinsel hilft bekanntlich die Begrünung selbst der kleinsten versiegelten Fläche. Und das smarte Komplettsystem will garantieren, dass der gut gemeinte Pflanzversuch auf dem Balkon (oder sonstwo) nicht mehr nach der ersten Hitzeperiode (wie sie ja jetzt gerade ansteht) im Wüstenalarm endet. Trotzdem frage ich mich: Sind wir jetzt so weit, dass wir bedenkenlos in die Ferien fliegen oder übers Wochenende mit dem Auto ins Tessin fahren, während zu Hause der digitale Gärtnerassistent unseren Mini-Beitrag zur Abfederung des Klimawandels bewässert?
Ich weiss: böse Frage. Ich sollte mich smarter benehmen. Es stimmt ja, dass mir sehr gefällt, wie die Boum-Jungunternehmer*innen hartnäckig ihre Vision verfolgen. Wenn ich mir vorstelle, wie die Berner Balkone mit einem «Boum» – die Firmengründer*innen sprechen das Wort französisch aus – grün überwuchert sind: sehr cool. Und klar: Wenn der ökologische Umbau, den wir brauchen, von einem Start-up wie Boum als wirtschaftliche Chance verstanden wird: Dann ist alles bestens.
Aber: Man muss bei all den grün tönenden Strategien und Produkten, die überall aus dem Boden spriessen, genau hinschauen, ob sie wirklich halten, was sie versprechen. Auch beim Green New Deal, den das Berner Kantonsparlament diese Woche mit überwältigender Mehrheit gefordert hat. Der Regierungsrat soll einen umfassenden Aktionsplan vorlegen, wie er das Netto-Null-Ziel bei den Treibhausgasemissionen bis 2050 erreichen will. Ist diese Ambition mehr wert als das Papier, auf dem sie steht? Der grüne Grossrat Jan Remund, Vordenker des Green New Deal, wird übermorgen Samstag bei «Hauptstadt» zu dieser Frage Stellung nehmen. Und vielleicht auch dazu, wie smart er seinen Balkon begrünt.
Und das möchte ich dir in den Tag mitgeben:
Lehrer*innenmangel: Der Mangel an Lehrkräften im Hinblick auf das nächste Schuljahr ist ein Dauerthema. Doch nun spitzt sich die Situation weiter zu. Aktuell sind im Kanton Bern 279 Stellen für Lehrer*innen offen. Es drohen, zumindest vorübergehend, Klassenzusammenlegungen. Die kantonale Bildungsdirektion hält in einer Mitteilung fest, sie sei dringend auf Quereinsteigende aus anderen, möglichst fachnahen Bereichen angewiesen. Die Pädagogische Hochschule (PH) bietet für Um- und Einsteiger*innen Weiterbildungen an. Aktuell helfen über 1000 Studierende der PH mit, die Zahl der unbesetzten Stellen zu reduzieren. Rund 1000 Personen meldeten sich zudem auf einen Aufruf, bei der Einschulung ukrainischer Kinder zu helfen. Der Kanton bittet sie nun, zusätzlich einen Beitrag gegen den Lehrer*innenmangel zu leisten.
Zolli on stage: Als ich vor rund 50 Jahren in Zollikofen, wo ich aufwuchs, zur Schule ging, gab es ab und zu ein Dorffest. Längst sind die Abkürzungen übers Feld, die ich auf dem Schulweg benutzte, überbaut, Zollikofen ist eine Stadt. Und das Dorffest heisst nach 2018 zum zweiten Mal «Zolli on stage», es ist ein dreitägiges grosses Musikfestival. Hat die stark gewachsene Agglo-Gemeinde überhaupt noch eine Identität? «In Zollikofen leben Menschen aus rund 100 Nationen. Diese Vielfalt erachten wir als Stärke, und ein wohnliches und lebendiges Zollikofen liegt im Interesse aller», sagt Gemeindepräsident Daniel Bichsel (SVP) zur «Hauptstadt». «Zolli on stage» sei eine wichtige Gelegenheit, Integration und Zusammenhalt zu stärken. Eine Woche später steigt dann in Bern das grosse Stadtfest, und fast sieht es so aus, als hätte Bern nach Zollikofen geschielt: Zelebriert wird in der Stadt «Berns Vielfältigkeit».
Armut in Bern: Wie lebt man in Bern, wenn man arm ist? Fühlt man sich arm, wenn man als arm gilt? Kann man es wieder aus der Armut heraus schaffen? Das sind journalistische Fragen, denen die Multimedia-Produzentinnen Jana Leu und Tamara Reichle nachgegangen sind. Sie haben unter dem Titel «Häregluegt» für die «Hauptstadt» ein neues Videoformat geschaffen, in dem armutsbetroffene Personen, aber auch Expert*innen zu Wort kommen. Die Beiträge, die ab sofort bis gegen Mitte Juli publiziert werden, sind zugeschnitten auf den vor allem von jungen Menschen genutzten Social-Media-Kanal Instagram. Im ersten Video gehts darum, was Armut für armutsbetroffene Menschen überhaupt bedeutet.
Sammelwut: Das Berner Rechercheteam Reflekt legt in einer neuen Artikelserie offen, wie exzessiv die Schweiz Daten über die ausländische Wohnbevölkerung sammelt und teilweise jahrzehntelang speichert. Auf die heiklen Daten können unterschiedlichste Behörden zugreifen. Die Weitergabe dieser persönlichen Daten basiert laut Reflekt oft «nicht auf Recht und Ordnung, sondern auf Chaos und Willkür». In einer von Reflekt angelegten Super-Datenbank können Menschen ohne Schweizer Pass nun selber recherchieren, wo Daten über sie abgelegt sind.
Ich wünsche dir einen Tag mit Abkühlung. Und vergiss nicht, auf dem Balkon zu giessen. Jürg Steiner
PS: Sir Mick Jagger ist bekanntlich unpässlich, deshalb fällt das Monsterkonzert der Rolling Stones vom Freitag im Wankdorf ins Wasser. Aber was die Stones können, kann das Berner Kammerorchester schon lange: einen Abend lang die Bude rocken. Morgen Freitag, 19.30 Uhr, konzertiert das BKO in origineller Kombination mit den Poetry-Slammer*innen Fatima Moumouni und Renato Kaiser. Eine wirklich sehr smarte Alternative zu Mick Jaggers Hüftschwung, finden wir.