«Wir hinterfragen auch dann, wenn es wehtut»

Robin Rieser wird neuer Präsident der Stadtberner Regierungspartei Grüne Freie Liste (GFL). Und nimmt mit ihr Anlauf für die schwierigen Gemeinderatswahlen 2028.

Impressionen Interview mit Robin Rieser und Matthias Humbel der Partei GFL (Grüne Freie Liste), aufgenommen am 26.09.2025 für hauptstadt.be
Will zu einer konsequenter grünen Politik in Bern beitragen: Robin Sten Rieser, designierter Präsident der GFL. (Bild: Daniel Bürgin)

In der Stadtberner Politik ist Robin Sten Rieser (34) noch ein unbekanntes Gesicht. Aber sein beruflicher und persönlicher Hintergrund weisen ihn als Person aus, die für Politik prädestiniert scheint, weil er weit Auseinanderliegendes zusammenbringt. Der frühere Physiotherapeut arbeitet nach einem Studium an der Berner Fachhochschule als wissenschaftlicher Mitarbeiter für öffentliche Gesundheit bei einem nationalen Gesundheitsverband. Nebenbei führt er als Mitgründer das offene Töpferatelier «Manufaktur 11» in Ostermundigen, zudem ist er im Könizer Fitnessclub Rhino als Crossfit-Coach aktiv.

Nun kommt als neues Betätigungsfeld die Politik hinzu. «Ich begann, mich mit grüner Politik zu beschäftigen», sagt Rieser, «und realisierte rasch: Es muss sich etwas ändern in Bern. Und ich würde gerne mehr dazu beitragen.» Schnell wurde Rieser bei der GFL fündig und trat ihr 2024 bei. Ein gutes Jahr später sitzt Robin Rieser, der an der Mitgliederversammlung vom 22. Oktober offiziell zum neuen Parteipräsidenten gewählt wird, bei herbstlich kaltem Nieselregen am Eigerplatz vor einem Café. Neben ihm nimmt Matthias Humbel Platz, der die GFL zusammen mit Stadträtin Tanja Miljanović bis 2024 im Co-Präsidium und seit einem knappen Jahr alleine geführt hat.

Überschäumende Diskussionsfreude

Warum zieht es Rieser so kurz nach dem Eintritt in die aktive Politik schon an die Parteispitze? Nicht, weil er sich unbedingt in den Vordergrund rücken wolle, betont er. Sondern: Der verjüngte, siebenköpfige GFL-Vorstand, dem er angehört, habe die Aufgaben der Parteileitung gleichmässig aufgeteilt. Einer der Tasks: die Ansprechperson der Partei gegen aussen sein. Das übernehme er gerne, sagt Rieser, «wobei ich mir mittelfristig auch ein Co-Präsidium gut vorstellen kann».

Impressionen Interview mit Robin Rieser und Matthias Humbel der Partei GFL (Grüne Freie Liste), aufgenommen am 26.09.2025 für hauptstadt.be
Robin Rieser übernimmt das Präsidium von Matthias Humbel. (Bild: Daniel Bürgin)

Am meisten, sagt der designierte Präsident Rieser, überzeuge ihn an der GFL, «dass wir es wirklich wollen und mögen, kontrovers zu diskutieren». Und das so lange, bis «wir einen alltagstauglichen Konsens gefunden haben». Humbel und Rieser lachen laut heraus, als er das sagt. Die notorische Debattierfreude seiner Partei hat GFL-Grossrat Manuel C. Widmer in einem Bonmot verewigt: «Wir diskutieren manchmal so lange, bis wir unsere ausdifferenzierten Positionen selber nicht mehr verstehen», hielt er einst selbstironisch fest. Logisch, haben die Haltungen der GFL auf einem knappen Social-Media-Post manchmal nicht Platz – und erreichen so auch die Wähler*innen nicht.

Gegen das Establishment

Die Lust an der Auseinandersetzung steckt der GFL quasi in den Genen. Sie ist das Fusionsprodukt zweier historischer Parteien, die sich mit Verve am Establishment rieben. Das nonkonformistische Junge Bern, zu dessen Gründungsmitgliedern 1955 der Chansonnier Mani Matter gehörte, setzte auf Ökologie, lange bevor das Wort grün in der Politik ankam.

Die Freie Liste hatte sich 1983 als soziale und grüne Alternative von der kantonalbernischen FDP abgespalten. Sie eroberte nach dem Berner Finanzskandal 1986 mit Leni Robert und Benjamin Hofstetter sensationell zwei Sitze in der Kantonsregierung. Das wühlte Bern auf. In den 90er-Jahren fusionierten die beiden Parteien zur GFL, erster Präsident der neuen Partei war Bernhard Pulver, heute Verwaltungsratspräsident der Insel Gruppe.

Seit 1992 ist die GFL die kleinste Partnerin und sozusagen die grüne Mitte im städtischen Regierungsbündnis Rot-Grün-Mitte. Der grösste Coup gelang der GFL im Jahr 2016. Nach einem fulminanten RGM-internen Duell mit der damaligen Gemeinderätin Ursula Wyss entriss Alec von Graffenried der dominanten SP das Stadtpräsidium. 2024 holte Marieke Kruit das Spitzenamt von den Grünen zur SP zurück, der 63-jährige von Graffenried blieb im Gemeinderat und steht heute der Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie vor. Die bis 2028 laufende Legislatur dürfte von Graffenrieds letzte sein.

Wer kommt nach von Graffenried?

Das absehbare Ende der Ära von Graffenried ist für den neuen GFL-Präsidenten Robin Rieser der Ausgangspunkt. «Klar», sagt er, «unser Ziel muss es sein, den GFL-Sitz in der Stadtregierung und damit auch die 4:1-Mehrheit von Rot-Grün-Mitte zu verteidigen.» Auch wenn es bis zu den nächsten städtischen Wahlen noch drei Jahre dauert: Ihm sei bewusst, sagt Rieser, dass es eine Herausforderung werde, den Sitz halten zu können. Bei den Wahlen 2020 und 2024 hat die GFL Wähler*innenanteile und je einen Sitz im Stadtrat verloren. Aktuell besetzt die GFL noch sieben der 80 Stadtratssitze.

Impressionen Interview mit Robin Rieser und Matthias Humbel der Partei GFL (Grüne Freie Liste), aufgenommen am 26.09.2025 für hauptstadt.be
«Das Ziel ist, den GFL-Sitz in der Stadtregierung 2028 zu verteidigen», sagt Robin Rieser. (Bild: Daniel Bürgin)

Geprägt wird die GFL seit Jahren von den gleichen Gesichtern – von Graffenried, Manuel C. Widmer, Grossrätin Brigitte Hilty Haller. Im Innern sei die Erneuerung allerdings seit längerem im Gang, widerspricht Robin Rieser der vermeintlichen Stagnation. Nun gehe es darum, die neuen Köpfe sichtbarer und bekannter zu machen. Nächste Gelegenheit: die kantonalen Wahlen im Frühjahr 2026.

Auf kantonaler Ebene bilden die GFL und das Grüne Bündnis zwar zusammen die Grüne Partei, aber beide treten mit einer eigenen Liste zu den Grossratswahlen an. Die bisherigen Parlamentarier*innen Brigitte Hilty Haller und Manuel C. Widmer verteidigen ihre Sitze. Doch auf der GFL-Liste erhalten explizit auch die Stadträt*innen der jüngeren Generation – Mirjam Roder, Tanja Miljanović und Michael Ruefer –  einen prominenten Platz. Mit anderen Worten: Sie könnten 2028 mögliche GFL-Gemeinderatskandidat*innen sein.

Kritik an der SP

Auffallend ist, dass die GFL in letzter Zeit wiederholt auf Konfrontationskurs mit der mehr als dreimal so grossen SP geht. So bekämpfte die GFL die von der SP vehement verteidigte Sanierung des Tramasts ins Fischermätteli, und nach der Budgetdebatte im Stadtrat vor zwei Wochen mahnte die GFL die rot-grüne Stadtregierung eindringlich: Bern sei auf einem «zu hochtrabenden» Wachstumskurs, den die Stadt nicht verkrafte. Ein Symptom der Überforderung seien die diversen Wohnüberbauungsprojekte – Viererfeld, Weyermannshaus, Gaswerkareal – bei denen es einfach nicht vorangehe. Die GFL plädiert für eine Korrektur der Stadtentwicklung, für die Stadtpräsidentin Marieke Kruit verantwortlich ist.

Impressionen Interview mit Robin Rieser und Matthias Humbel der Partei GFL (Grüne Freie Liste), aufgenommen am 26.09.2025 für hauptstadt.be
«Das ist Geschichte», sagt Matthias Humbel zur Verdrängung von Alec von Graffenried aus dem Stadtpräsidium durch Marieke Kruit. (Bild: Daniel Bürgin)

«Wir kritisieren nicht häufiger als früher», sagt der abtretende Präsident Matthias Humbel, «aber wir geben unserer Identität als grüne Partei bewusst stärker Ausdruck, das schon.» Das sei nicht als Distanzierung von RGM zu sehen. «Die GFL versteht sich Stand jetzt als Teil von RGM», sagt Humbel. Daran habe die Verdrängung von Alec von Graffenried aus dem Stadtpräsidium durch Marieke Kruit grundsätzlich nichts geändert: «Das ist Geschichte.» Die Zukunft sei, dass RGM eine engagierte Debattenkultur brauche – und damit die GFL. Das sei auch SP und GB bewusst: Ohne die GFL hätte die linke 4:1-Mehrheit nicht gehalten werden können.

Impressionen Interview mit Robin Rieser und Matthias Humbel der Partei GFL (Grüne Freie Liste), aufgenommen am 26.09.2025 für hauptstadt.be
«Luft nach oben» hat für GFL die Umsetzung der Berner Velooffensive. (Bild: Daniel Bürgin)

«Wir hinterfragen auch dann, wenn es weh tut», sagt der künftige Präsident Robin Rieser zu seinem Rollenverständnis für die GFL. Ein konkretes Beispiel? Matthias Humbel und Robin Rieser unterstützen politisch die Velooffensive der Stadt.  Aber wenn sie sehen, wie sie auf den Boden gebracht wird, stehen beiden gelegentlich die Haare zu Berge.

Matthias Humbel nerve sich jedes Mal, sagt er, wenn er von seinem Büro im Mattenhof über den Eigerplatz-Kreisel Richtung Innenstadt fahre: «Für Velofahrende eine Katastrophe.» Und bei der neuen Veloführung auf dem Inselplatz «habe ich mehrere Anläufe gebraucht, bis ich verstanden habe, was sich die Planer für mich als Nutzer wohl gedacht haben». Nutzer*innenorientiert zu denken und es den Menschen leicht zu machen, sich mit dem Velo in der Stadt zu bewegen, «da haben wir noch ziemlich Luft nach oben», sagt Humbel.

Und die GFL habe viel zu hinterfragen, findet Nachfolger Rieser.

Ohne Dich geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Das unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Das geht nur dank den Hauptstädter*innen. Sie wissen, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht und ermöglichen so leser*innenfinanzierten und werbefreien Berner Journalismus. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 3’000 Menschen dabei. Damit wir auch in Zukunft noch professionellen Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3’500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die «Hauptstadt» und für die Zukunft des Berner Journalismus. Mit nur 10 Franken pro Monat bist du dabei!

tracking pixel