«Die fehlende Wertschätzung tat mir weh»
Berns abgewählter Stadtpräsident Alec von Graffenried erzählt, wie ihn das Wahlresultat schmerzte, dass die Sicherheitsdirektion nicht sein Wunsch war und welche Krankheit er in den letzten Jahren überlebte.
Herr von Graffenried, Sie wurden Ende November als Stadtpräsident abgewählt, jedoch als Gemeinderat bestätigt. Was war der schwierigste Moment in diesem aufreibenden Wahljahr?
Schwierige Frage. Die grösste Enttäuschung insgesamt war, dass es bei den Wahlen keine Wertschätzung gab für meinen Einsatz für die Stadt Bern und das Bündnis Rot-Grün-Mitte.
Wertschätzung von wem?
Letztlich von den Medien. Ich finde, es läuft sehr gut in Bern. Und ich habe einen grossen Beitrag zur guten Entwicklung der Stadt geleistet. Ich gewann dann im Wahlkampf den Eindruck: Man will einfach etwas anderes, man will eine Frau. Diese fehlende Wertschätzung bei den Wahlen tat mir weh.
Sie sprachen das Bündnis Rot-Grün-Mitte (RGM) an: Hat Ihnen auch die Wertschätzung der SP gefehlt, die gegen Sie antrat?
Ja. Ich habe mich immer für RGM eingesetzt und dachte, man zieht an einem Strick. Es war ein inhaltliches Bündnis für eine andere Verkehrs-, Bildungs- und Kulturpolitik. Als es vor zwei Jahren 30 Jahre alt wurde, habe ich mit den Parteien ein Fest im RGM-Lokal Jardin organisiert. Und 2023, als RGM mit mehreren Referenden angegriffen wurde, sassen wir im Frühjahr im Bündnis zusammen, ich schlug einen Pakt vor und damit gewannen wir dann mit viel Einsatz alle Abstimmungen.
Dann aber entschied die SP im März 2024, gegen Sie anzutreten.
Das verstand ich nicht. Es gab keinen politischen Grund dafür.
War das der schwierigste Moment im Wahljahr?
Nein, damals dachte ich: Im Wahlkampf wird schon aufs Tapet kommen, was alles gut läuft in Bern und warum. Ich hatte meine Dossiers im Griff. Ich dachte, weil mein Leistungsausweis so gut sei, könne mir nicht viel passieren. Der schlimmste Moment war letztlich schon das Wahlresultat. Zum Glück hatte die Tamedia-Umfrage das schon vorausgesagt. Bei der Umfrage dachte ich zwar zuerst noch: Das kann nicht sein. Aber sie traf letztlich genau zu.
Nach der Wahl gingen Sie sofort zu Marieke Kruit und gratulierten ihr. Wie war Ihnen da zumute?
Ich habe ihr gratuliert, weil sie besser war. Sie hat ja alles richtig gemacht. Das ist wie beim Fussballmatch: Wenn man verliert und die anderen besser waren, gratuliert man natürlich. Und zudem ist das ein Zeichen, das für alle schweizerischen Kollegialregierungen gilt: Die Wahlen sind vorbei, jetzt arbeiten wir wieder zusammen.
Die Wahl in den Gemeinderat schafften Sie haarscharf. Wie gross war da die Erleichterung?
Ich wäre gerne Stadtpräsident geworden, ich bleibe gerne Gemeinderat, aber ich hätte auch mit einer Abwahl leben können. Dann hätte ich etwas anderes gemacht.
Wie haben Sie sich auf eine mögliche Abwahl vorbereitet?
Ich überlegte mir im Vorfeld, was ich beruflich machen würde, wenn ich abgewählt würde.
Was hätten sie gemacht?
Ich hätte in einem öffentlichen Amt weitergearbeitet. Es hätte Möglichkeiten gegeben, das hatte ich bereits sondiert. Ich habe mich also auf eine Abwahl vorbereitet.
Welches Amt wäre das gewesen?
Das kann ich nicht sagen. Ich bin jetzt 62 Jahre alt, aber für mich war immer klar, dass ich weiter arbeite. Nun bleibe ich halt vier Jahre Sicherheitsdirektor. Bei einer Abwahl hingegen hätte ich einen Break gemacht und wäre als erstes sechs Wochen lang in der ganzen Schweiz und im Südtirol Skifahren gegangen. Bei den aktuellen Schneeverhältnissen wäre das ein sehr schöner Plan gewesen.
Am 24. November 2024 wurde Alec von Graffenried nach acht Amtsjahren als Stadtpräsident von Bern nicht wiedergewählt. Der Politiker der Grünen Freien Liste (GFL) erzielte im ersten Wahlgang deutlich weniger Stimmen als Marieke Kruit von der SP und verzichtete dann auf einen zweiten Wahlgang. Zuvor sass von Graffenried von 2007 bis 2015 für die Grünen im Nationalrat und amtete von 2000 bis 2007 als Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Bern. Bei den Gemeinderatswahlen 2024 erreichte von Graffenried auf der RGM-Liste den vierten Platz und wurde damit in die Regierung gewählt.
Vor acht Jahren gewannen Sie die Wahl ums Stadtpräsidium gegen die national bekannte und profilierte SP-Frau Ursula Wyss. Nun verloren Sie gegen die weniger profilierte SP-Frau Marieke Kruit. Wie analysieren Sie diese beiden Resultate? Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Diesmal war ich bereits acht Jahre lang Stadtpräsident gewesen. Eigentlich dachte ich: Das hat einen Wert. Im Wahlkampf habe ich mich dann aber gewundert, dass man nie über diese Leistungen, aber auch nie über die Ambitionen für Bern gesprochen hat. Auch die Leistungsbereitschaft war kein Thema. Wer setzt sich denn Tag und Nacht für die Stadt ein? Man diskutierte nur über politische Ausrichtungen. Und am Ende sagte man: Wir wählen eine Frau.
Ursula Wyss hatte damals auch schon viel erreicht und die Wahl dennoch gegen Sie verloren. Ist also ein Leistungsausweis beim Kampf ums Stadtpräsidium gar nicht förderlich?
Vielleicht wurde ich gegen Ursula Wyss gewählt, weil ich integrierend bin. Das war immer ein Ziel von mir. Ich will eine inklusive Gesellschaft und alle mitnehmen. Mein Motto ist: Zäme geits besser. Das war damals mein Vorteil gegenüber der SP.
Vor acht Jahren galten Sie als Wirtschaftsversteher, als Integrierer. Im aktuellen Wahlkampf wurden diese Attribute aus Wirtschaftskreisen eher Marieke Kruit zugesprochen.
Ich habe mich gewundert und weiss nicht, warum. Alle sprachen davon, dass Erfahrungen in der Wirtschaft nützlich wären, aber von allen Kandidierenden war ich der einzige, der diese Erfahrungen mitbringt.
Welche Ihrer Leistungen haben die Medien im Wahlkampf unterschlagen?
Sie haben alles unterschlagen. Man sagte zwar, es laufe super in Bern, hat aber nicht über das Erreichte gesprochen. Das Angebot in der Stadt Bern wird laufend verbessert. Das geht aber nicht einfach von selbst. Ich habe dafür gearbeitet, dass wir so vorwärts kommen, habe mich als Stadtpräsident eingesetzt. Das wurde nicht honoriert. Bühnen Bern zum Beispiel ist derzeit wohl das beste Theater der Schweiz. Aber dafür musste man die Voraussetzungen schaffen und die richtigen Leute in den Stiftungsrat wählen. Nun haben wir eine Kulturinstitution, die so gut ist wie noch nie, seit ich auf der Welt bin. Das ist doch grossartig. Auch bei der Standort- und Tourismuspolitik haben wir eine breite, gute Allianz. Das sieht man beim Bau der neuen Festhalle im Wankdorf.
Sie beanspruchen für sich, das ermöglicht zu haben.
Ja, das Projekt Festhalle wurde zu Beginn von verschiedensten Seiten heftig bekämpft. Da habe ich unzählige Gespräche geführt.
Welche Ihrer bisherigen Aufgaben als Stadtpräsident sind Sie froh, abgeben zu können?
Ich habe als Stadtpräsident sehr viel Zeit investiert. Ich bin froh, dass ich nun als Gemeinderat nicht mehr ganz so oft präsent sein muss.
Und so öfters auf die Skipiste können?
Mehr Ski fahren, mehr lesen, mehr Theater und Konzerte besuchen, mehr Freunde treffen. Mehr Zeit für die Familie. Ich muss nicht Stadtpräsident sein. Ich kann auch weniger als 70 Stunden pro Woche arbeiten.
Wie stark kratzte die Abwahl am Ego?
Natürlich hätte ich gerne gewonnen. Aber zum Beispiel beim Tennis verliere ich auch oft. Dennoch macht mich das nicht unglücklich. Ich bin einfach froh, dass ich Tennis spielen kann. Und eine weitere Erfahrung relativiert meine Nichtwahl stark: Ich habe in den letzten drei Jahren eine längere Krankheit durchgemacht.
Welche Krankheit?
Zuerst bekam ich Gelenkschmerzen, konnte keine Büchsen mehr öffnen. Dann konnte ich keinen Sport mehr treiben, es tat mir weh beim Gehen. Mein Arzt schickte mich zum Rheumatologen. Dieser diagnostizierte rheumatoide Polyarthritis. Dagegen gibt es zwar gute Medikamente, aber bei mir nützte kein einziges. Letztes Frühjahr stellte man fest: Es ist was ganz anderes. Ich hatte «Morbus Whipple», ein Bakterium, das sehr, sehr selten auf Menschen übergreift. Unbehandelt ist es eine tödliche Krankheit. Zum Glück ist sie mit Antibiotika sehr einfach zu behandeln. Seit Juli sind meine Schmerzen weg und ich bin wie neu geboren. Eine schmerzhafte tödliche Krankheit zu haben ist deutlich schlimmer, als Wahlen zu verlieren.
Ihre jüngste Niederlage war die Direktionsverteilung. Sie wollten Verkehr oder Finanzen, erhielten aber die Sicherheits- und Umweltdirektion (SUE). Wie einfach fiel es Ihnen, dazu eine gute Miene zu machen?
Das fiel mir schwer. Es gibt verschiedene Kriterien für eine solche Direktionsverteilung: Die Anciennität, das Lebensalter, die Kompetenz, die Erfahrung oder der eigene Wunsch. Keines dieser Kriterien wurde bei mir berücksichtigt. Die Mehrheit sagte: Jemand muss die Sicherheit machen, der Alec soll das tun. Ich mache gerne Sicherheitspolitik, denn ich habe mein ganzes Politikerleben Sicherheitspolitik gemacht.
Aber es war nicht Ihre Wunschdirektion.
Nein, es war nicht mein Wunsch. Wir haben dringenden Handlungsbedarf bei den Finanzen und in der Immobilienpolitik. Dort braucht es derzeit viel Input, Energie und Erfahrung. Das hätte ich gerne gemacht und dort hätte es mich auch gebraucht.
Warum?
Weil ich das gut kann und im Immobilienbereich viel Erfahrung habe. Man muss dazu den Markt, die Planungsverfahren, das Vertragswesen und die Politik gut verstehen sowie die Bedürfnisse kennen.
Könnte die Stadt bei Ihrer Immobilienpolitik mehr erreichen als bisher?
Ja, viel mehr. Es regen sich ja alle auf, dass es beim Gaswerkareal und im Viererfeld zu wenig schnell vorwärts geht. Zu Recht! Das liegt nicht an der Planung, die ist längst bereit. Aber die Immobilienentwicklung könnte die Stadt besser machen. Diese liegt nicht beim Stadtpräsidenten, sondern in der Finanzdirektion.
Was müsste man machen?
Die Stadt hat bisher intern keine Kompetenz, Immobilien zu entwickeln. Da muss man alle Interessen zusammennehmen und austarieren. Ich habe das früher bei Losinger-Marazzi gemacht und hätte da viel zu einem Kompetenzaufbau beitragen können.
Mit welcher Begründung hat Ihnen die Gemeinderatsmehrheit die Finanzdirektion vorenthalten?
Es gab keine.
Man wird Ihnen wohl gesagt haben, warum Sie die SUE führen sollten.
Ja, weil halt jemand die SUE führen muss.
Warum haben die drei grünen Parteien GB, GFL und GLP nicht zusammengespannt und die SP gezwungen, die SUE zu leiten?
Ich habe dafür keine Mehrheit gefunden.
Wie lange wollen Sie Gemeinderat bleiben?
Ich könnte theoretisch noch acht Jahre bleiben. Ob ich in vier Jahren nochmal in die Wahlen steige, weiss ich heute noch nicht – immerhin wäre ich dann 66. Aber ich arbeite gerne noch ein paar Jahre. Ich kann mir ein Leben ohne Arbeit für mich noch nicht vorstellen.
Dann bleiben Sie bis 70 im Gemeinderat?
Ja, dann müsste ich spätestens aufhören und mir etwas Neues suchen! (lacht)
Was sind Ihre politischen Ziele in der Sicherheits- und Umweltdirektion?
Wir haben derzeit eine Entfremdung zwischen der Polizei und der linken Bevölkerung. Die Linke sieht viel zu wenig, was die Polizei alles für die Stadt, für uns alle, leistet.
Die Polizei wird vor allem im Stadtrat von den linken Parteien oft kritisiert.
Und dort sagt man der Polizei nie Merci.
Finden Sie die Debatten im Stadtrat gegenüber der Polizei ungerecht?
Die Wertschätzung der Polizeiarbeit kommt im Stadtrat zu wenig zur Geltung. Polizist*innen leisten eine anspruchsvolle Arbeit.
Woher kommt die massive linke Kritik?
Ich weiss es nicht. Vermutlich rührt sie von den Demo-Einsätzen her. Das ist aber der kleinste und kein prägender Teil der Polizeiarbeit.
Es gibt aber auch berechtigte Kritik an der Polizei, etwa beim Racial Profiling.
Ja, das ist ein wichtiges Thema. Ich zweifle aber keinen Moment an der Ambition der Polizei, sich hier zu verbessern.
Sie sind nun auch Umweltdirektor. Was ist da Ihre Ambition?
Ich will den Energieumbau vorantreiben. Langfristig haben wir kein Energieproblem, aber der ganze Umbau ist teuer. Die Stadtpräsidentin von Kopenhagen erzählte mir mal, die Stadt habe 97 Prozent der Liegenschaften an Fernwärme angeschlossen. Sie haben aber schon während der Ölkrise in den 1970er Jahren zu bauen begonnen. Wir hingegen haben zu lange damit gewartet.
Für den radikalen Umbau bräuchte es Politiker*innen mit Leadership, die auch wirklich umsetzen.
Wir machen das und arbeiten ja nun am Ausbau der Fernwärme. Forcieren sollten wir den Solarausbau. Dieser würde das Energiesystem entlasten. Da machen wir noch zu wenig.
Zu Ihrer neuen Direktion gehört auch das Bauinspektorat. Baubewilligungen dauern viel zu lange, kritisierte kürzlich der Wirtschaftsvertreter Giorgio Albisetti im «Hauptstadt»-Interview.
Das stimmt. Die Bauvorschriften sind so kompliziert, dass niemand sie versteht. Sogar ein Architekt kann ein Baugesuch nicht fehlerfrei ausfüllen. Das ist absurd.
Was werden Sie tun?
Wir müssen die Verfahren vereinfachen. Baubewilligungen dürfen keine Geheimwissenschaft sein. Und da die Gesuchsteller*innen nicht selber ins Ziel kommen, müssen wir sie besser unterstützen.
In den nationalen Medien wird Bern oft als ultralinke Stadt porträtiert, die sich um Gendersterne in Strassennamen statt um die Wirtschaft kümmert. Wie beschreiben Sie Bern?
Solche Diskussionen werden vor allem im Stadtrat geführt und nicht in der breiten Gesellschaft. Viele Menschen kommen gerne nach Bern, geniessen die Lebensqualität, die Offenheit, das Ladenangebot, das breite Kulturangebot, das viele Grün. Diese Qualitäten machen Bern mehr aus als gewisse Debatten im Stadtrat.
Worauf freuen Sie sich im neuen Jahr?
Ich freue mich auf den vielen Schnee in den Bergen, mehr Freizeit, mehr Reisen, auf die Frauen-Euro und auf einen verjüngten Gemeinderat.
Sie sind ein passionierter Hobbykoch. Was gönnen Sie sich heute Abend zu Silvester?
Wir sind eingeladen bei einem anderen guten Hobbykoch. Ich hoffe, er kocht etwas weniger Fleisch als üblich.