«Es hat auch mit Scham zu tun»
Im Sommer hat das Gurtenfestival wegen einer Fehlbuchung viel mehr Menschen aufs Gelände gelassen, das aber lange verleugnet. Nun gibt Festivalchef Bobby Bähler Fehler zu und spricht über einen neuen Festival-Eingang.
Das Gurtenfestival hat für den Festival-Freitag im letzten Jahr irrtümlich 7’500 Tickets zu viel rausgegeben. Das wurde aber erst aufgrund einer Recherche von Tamedia vor Weihnachten bekannt. Bis zu diesem Zeitpunkt dementierte das Festival, dass zu viele Menschen auf dem Gurten waren.
Festivalchef Bobby Bähler spricht nun erstmals ausführlich über die Fehler, die letzten Sommer passiert sind. Und er erklärt, warum dieses Jahr noch keine Kapazitätserweiterung geplant ist, das Festival aber neu über einen zweiten Zugang erreichbar sein wird.
Bobby Bähler, im Ausgang wird derzeit weniger getrunken. Spürt das Gurtenfestival diesen Trend auch?
Ich habe das Gefühl, dass wir weniger davon betroffen sind. An ein Festival gehen die Leute zielgerichtet. Es ist so wie in die Ferien gehen. Ausnahmezustand. Wir merken aber, dass wir weniger Spirituosen verkaufen. Dafür konsumieren die Leute mehr alkoholfreie Getränke. Auf dem Gurten bieten wir seit zwei Jahren eigentlich fast alle Spirituosen alkoholfrei an.
Finanziell merken Sie nichts?
Nein, im Moment nicht. Es verschiebt sich in den einzelnen Sparten, aber wir haben keinen Umsatzrückgang.
Und wie sieht es mit den Bands aus, die immer teurer werden?
Dieses Lied singen wir seit zehn Jahren und es ist immer noch aktuell. Jedes Jahr steigen die Gagen. Alle drei bis fünf Jahre haben wir wirklich ein ernsthaftes Problem, weil wir ein paar hunderttausend Franken mehr Gagenbudget brauchen. Sonst bekommen wir die Bands nicht mehr.
Wie lösen Sie das Problem?
Indem wir zuerst bei uns selbst optimieren. Und als nächstes die Ticketpreise erhöhen.
Wie dieses Jahr?
Ja, sie sind dieses Jahr um rund fünf Prozent gestiegen. Der Grund dafür sind vor allem die Infrastrukturkosten, die nach Corona auch durch die Ressourcenknappheit massiv gestiegen sind. Wir reden hier von 10 bis 15 Prozent teureren Kosten. Das war eine Explosion. Die haben wir mit zwei Preiserhöhungen 2023 und 2025 versucht auszugleichen. Das haben wir nicht geschafft. Wir sind an einem Punkt, wo wir mega schlank, mega robust und super strukturiert arbeiten müssen.
Dann käme Ihnen eine Kapazitätserhöhung doch ganz gelegen.
Ja, es kann sehr gut sein, dass wir in den nächsten Jahren eine Kapazitätserhöhung machen müssen, weil wir nicht alles auf den Ticketpreis abwälzen können. Ich kann aber nicht sagen, wann. Und solange es geht, wollen wir auch nichts daran ändern. Aber es sind halt schon jetzt nicht ganz billige Ferien, die man sich für den Gurten leistet. Und das ist auch okay, denn der Gurten ist etwas Spezielles und bietet wahnsinnig viel Qualität für so ein Festival.
Heisst das, in Zukunft gibt es eher eine Kapazitätserhöhung als eine grosse Preiserhöhung?
Wir merken, dass in den nächsten Jahren auf der Umsatzseite etwas passieren muss. Ein Schritt und nicht nur Korrekturen. Wir haben das Gelände 2018 vergrössert, die Zeltbühne auf das untere Gelände runtergenommen und dadurch viel offene Fläche gewonnen. Wir dürften eigentlich bis zu vier Menschen pro Quadratmeter auf dem Gelände haben und sind jetzt bei zwei – also, wenn alle Leute zusammen versammelt vor der Hauptbühne stehen und der Rest des Geländes leer ist. Auf dem Gelände ist die Kapazität deshalb überhaupt kein Problem.
Vom 16. bis 19. Juli 2025 findet das Gurtenfestival auf dem Berner Hausberg statt. Die Headliner, die schon bekannt sind, sind Will Smith, Macklemore, Cro, K.I.Z. und Nina Chuba. Ende März soll voraussichtlich das gesamte Line-up stehen.
Wo es ein Problem gibt, ist bei den Zugängen.
Das merkten wir schon ab 2022, als die Leute nicht mehr zelteten. Früher übernachteten 2500 bis 3000 Menschen. Manche reisten 2022 zwar noch mit Zelt an, aber mehr, um am Nachmittag darin auszuruhen. Es übernachtete fast niemand mehr auf dem Gurten. Diese Erkenntnis hören wir auch von anderen Festivals.
Der Gurten hat ein Problem mit dem Nadelöhr unten an der Bahn.
Ja, es sind eben die rund 3000 Gäste mehr, die kommen und wieder gehen. Und die Leute reisen mega kurzfristig an, am Freitag – bei Feierabend – alle gleichzeitig. Dabei möchten wir grosszügig sein. Die Leute sollen sich selbst organisieren können. Darum machen wir neu einen zweiten Zugang in Blinzern. Das ist auch der Rat von Sicherheitsexperten. Schon wenn 1000 oder 2000 Leute über diesen Zugang kommen, entflechtet das sehr. Und ein Zugang ist kein Zugang. Ich habe auch immer zwei Taschenlampen dabei, falls eine ausfällt.
Warum wird dieser zweite Zugang erst jetzt geschaffen?
Seit 2019 ist Blinzern bei einer Evakuierung der zweite Abgang. Und das hat bisher gereicht. Wenn man 20 Jahre etwas etabliert hat, gibt es keine Dringlichkeit, das von heute auf morgen zu ändern. Aber wir wollen den Gurten jedes Jahr weiterbringen. Ein zweiter Zugang macht einfach Sinn – nicht nur wegen der möglichen Kapazitätserhöhung. Wir haben seit 2019 ein Gelände, auf dem wirklich 32'000 Leute sein dürften. Mit Notausgängen, mit Flächen, mit Pflegestellen. Wir hätten diese kurzfristige Bewilligung im Sommer niemals bekommen, wenn wir nicht schon seit Jahren ein solches Dispositiv hätten.
Sie sprechen von der Sonderbewilligung von letztem Sommer, als am Gurtenfreitag 32’500 statt 25’000 Menschen am Festival waren?
Ja, die hätte es ohne diese Vorkehrungen nicht gegeben. 2019 haben wir eine Gesamtrevision von unserem Sicherheitskonzept gemacht. Vom Blitzschutz über Gewässerschutz und Bodenschutz zu Crowdmanagement.
Laut der Crowdmanagement-Studie dürfen vielleicht mehr Menschen am Festival sein – aber das beseitigt ja den Flaschenhals unten an der Bahn nicht.
Es kann Stau geben, ja. Aber das ist kein Sicherheitsproblem, das ist ein Good Hosting Problem. Es bedeutet, man muss warten. Das nervt. Es ist nicht das, was wir als Festival wollen. Wir wollen den Gurten jedes Jahr voranbringen und optimieren. Und jetzt ist der Zeitpunkt, den zweiten Zugang zu machen. Sicher auch aufgrund des Pushs vom letzten Jahr.
Was meinen Sie mit Push vom letzten Jahr?
Dass wir so einen Fehler gemacht haben und es die langen Wartezeiten im Tal gab. Die hätte es nicht gegeben, wenn wir zwei Zugänge gehabt hätten.
Reden wir von diesem Fehler. Sie haben am Gurtenfreitag 7’500 Menschen zu viel aufs Gelände gelassen. Die Mediensprecherin hat damals gesagt, dass nicht mehr Leute eingelassen worden sind. Sie hat also gelogen. Wie ist es dazu gekommen?
Für uns war es ganz, ganz wichtig, dass wir niemanden verunsichern wollten. Die Kapazitätserweiterung wurde von drei Behörden geprüft, die sie für gut befanden und uns die Bewilligung gegeben haben. In diesem Moment haben wir entschieden, dass wir nicht kommunizieren wollen, weil es unter Umständen über die Medien oder andere Kanäle grosse Aufruhr hätte geben können und die Leute sich unsicher fühlen und Angst bekommen. Das wollten wir verhindern. Im Nachhinein würden wir es anders machen.
Sie haben ja nicht nur während des Festivals gelogen, sondern auch im Nachhinein, als es Medienanfragen gab. Da hätten ja keine Leute mehr in Panik verfallen können.
Wir haben schlichtweg nicht gewusst, wie wir den Fehler kommunizieren wollen. Wir waren nicht fähig. Das klingt jetzt wirklich dumm, aber es hat vielleicht auch mit Scham zu tun. So etwas war uns noch nie passiert. Wir wollten uns Zeit nehmen, analysieren und klären, wie wir das in Zukunft machen wollen. Und das war falsch. Wir hätten es einfach sagen sollen.
Sie entschieden zu lügen.
Wir entschieden, dass wir sagen, dass so viele Leute auf dem Gurten waren wie bewilligt.
Sie haben also gelogen.
Korrekt. Moralisch gesehen ist es lügen.
Wie gehen Sie damit um?
Es hat mich selbst auch sehr beschäftigt, dass wir es nicht geschafft haben, diese Situation besser zu lösen. Eigentlich waren wir in der Vergangenheit sehr gut in der Kommunikation. In der Corona-Krise haben wir schnell, transparent und klar kommuniziert. Ich glaube, fast die ganze Branche hat sich an unsere Texte angelehnt. Hier aber waren wir blockiert. Ich kann es nicht anders erklären. Wir wussten nicht, wie wir mit diesem Problem umgehen sollen. Ich würde nach wie vor sagen, dass der Entscheid, dass wir am Event nichts sagen, um die Sicherheit zu gewährleisten, okay war. Aber am Montag darauf hätten wir kommunizieren sollen. Wir haben sehr viel gelernt aus dieser Situation.
Wie konnte es denn überhaupt zu dieser Überbuchung kommen?
Der Hauptgrund ist, dass wir die Kapazitäten über eine relativ komplexe Excel-Liste mit vielen Formeln berechnen. Wir haben unglaublich viele Ticketkategorien. Die Kategorien referenzieren auf die verschiedenen Festivaltage. Und im letzten Jahr hat bei einer Formel die Referenz auf den Freitag nicht funktioniert. Zusätzlich gibt es auch Tickets für unsere Sponsoren und unsere Mitarbeitenden. Das ist ein dynamisches Kontingent. Sie wählen die Tage, die sie wollen. Es hat sich einfach alles auf den Freitag konzentriert. Und das ist der riesige Fehler, der passiert ist.
Alle dynamischen Ticketbezüge konzentrierten sich auf Freitag mit Patent Ochsner…
… und das System hat nicht gesagt: Achtung, Gurten-Crew, die Kapazitätsgrenze ist erreicht. Das Problem ist auch, dass die Tickets erst zwei Wochen vor dem Festival auf die Konti überbucht und freigeschaltet werden. Erst zu diesem Zeitpunkt hat die Sicherheitsabteilung gesehen, dass etwas nicht stimmt. Dass am Freitag zu viele Tickets reingebucht sind.
Der Fehler wurde erst zwei Wochen vorher bemerkt?
Etwa neun Tage vorher. Ich weiss, das ist ein ganz kleiner Trost, aber was man sehen muss, unsere Organisation hat in sich funktioniert. Das Controlling hat den Fehler erkannt. Zu diesem Zeitpunkt gab es zwei Möglichkeiten: Laufen lassen oder die Tickets zurückfordern. Das Problem von diesen Tickets ist, wir wissen ja nur, welcher Partner wie viele Tickets gebucht hat, aber wir wissen nicht, wer sie benutzt. Das war mega schwierig. Die andere Möglichkeit war die Kapazitätserhöhung: Das Festival ist ja ausgelegt für so viele Leute. Also haben wir die Bewilligung angefragt.
Sind Sie auf Verständnis gestossen beim Regierungsstatthalteramt?
Ja, weil es prozesstechnisch sicherer und machbarer ist, den Event umzusetzen, als alles umzumodeln. Wenn es nicht sicher gewesen wäre, hätte es niemals eine Bewilligung gegeben. Dann hätten wir Tickets zurückfordern müssen. Wir waren aber auch dafür vorbereitet. Wir haben parallel dazu eine Seite programmiert, die das geregelt hätte.
Sie haben gesagt, Sie bereuen und hätten viel nachgedacht. Aber kommuniziert haben Sie trotzdem nicht. Sie haben gewartet, bis eine Recherche von Tamedia kurz vor Weihnachten das alles öffentlich gemacht hat. Warum?
Unser Plan war, dass wir die neuen Massnahmen, die wir geplant haben, zuerst aufbereiten und gemeinsam mit dem Fehler kommunizieren.
Sie hatten fast ein halbes Jahr Zeit und es ist nichts gekommen.
Da wir nach dem Event nicht sofort kommuniziert haben, haben wir die Dringlichkeit nicht mehr gesehen. Wir wollten uns gut vorbereiten und mit dem Massnahmenpaket entschuldigen für die Fehler, die passiert sind.
Was haben Sie daraus gelernt?
Wir haben uns in der Kommunikation anders aufgestellt. Wir haben externe Beraterinnen und Berater, die uns unterstützen würden, wenn wieder so ein Fall passiert. Wir haben intern sehr lange und intensiv diskutiert, wie wir in Zukunft mit heiklen Informationen umgehen wollen gegenüber unseren Gästen. Wir werden uns auf eine ganz transparente Kommunikation vorbereiten, wenn uns jemals wieder so etwas passiert.
Es gibt Gerüchte, dass diese Überbuchung absichtlich passiert ist, um auszutesten, ob es auch mit mehr Leuten geht.
Niemals. Das ist absurd und macht überhaupt keinen Sinn für uns. Es war ein riesiger Fehler. Wir sehen jetzt, was passiert. Es ist ein Vertrauensverlust. Ausserdem könnten wir die Kapazität ja erhöhen, das wäre kein Problem. Wir haben es bisher nicht gemacht, weil wir nicht mussten.
Die Kapazitätserhöhung würde problemlos bewilligt?
Die Bewilligung muss das Regierungsstatthalteramt ausstellen, natürlich redet auch die Gemeinde Köniz ein Wörtchen mit. Und die Gebäudeversicherung des Kantons Bern prüft die Sicherheitsaspekte. Wir stellen lediglich das Gesuch und begründen, warum wir eine bestimmte Zahl für vertretbar erachten. Ich schätze, es käme auf die konkrete Zahl an.
Bis zu welcher Höhe würde sie problemlos bewilligt?
Das kann ich nicht sagen. Das müssen wir mit den Behörden zusammen prüfen. Natürlich sind wir immer wieder über verschiedene Aspekte im Gespräch.
7'500?
Nein, das glaube ich nicht. Wir haben ja gesehen, dass es schwierig ist, bei so grossen Zahlen unsere eigenen Ansprüche an ein Good Hosting noch umzusetzen. Und von diesen Ansprüchen abweichen wollen wir nicht. In keinem Fall.
Um die 5'000?
Ich sage keine Zahl, weil ich sie selbst noch nicht definiert habe. Es kann sein, dass wir die Kapazität auf nächstes Jahr erweitern. Es kann sein, dass wir es schrittweise machen. Es gibt so unglaublich viele Faktoren, die jedes Jahr mit reinspielen. Nächstes Jahr wird zum Beispiel die Seftigenstrasse saniert, das könnte ein Grund sein, keine Kapazitätserweiterung zu machen. Mich beschäftigt sowieso mehr, dass es Stimmen gibt, die sagen, wir hätten das extra gemacht. Wir arbeiten seit Jahren gewissenhaft. Und jetzt haben wir einen Fehler gemacht. Das tut weh. Dabei sind wir eigentlich in diesen Gebieten mega gut.
Es waren eigentlich zwei Fehler. Zuerst der Excel-Fehler, dann die Kommunikation. Die war wohl der noch grössere Fehler.
Höchstwahrscheinlich. Wenn wir das richtig hingekriegt hätten, hätten wir es vielleicht sogar sehr gut gemacht. Wir können es nicht mehr ändern. Wir können uns nur aufrichtig und ehrlich dafür entschuldigen.
Die Gurtenfans warten noch auf die letzten Acts, die noch nicht bekannt sind – wann ist es soweit?
Voraussichtlich Ende März. Aber auch das kann ich nicht versprechen.
Warum nicht?
Wir sind immer abhängig von drei Sachen. Wollen die Acts an so einem kleinen Festival spielen? Können wir sie überhaupt bezahlen? Und sind sie an diesem Datum verfügbar? Und seit Corona harzt es: Die Pandemie hat das ganze Gefüge von Album-Aufnahme, dann Stadion-Tour, dann Festival-Tour durcheinander gebracht. Aber es wird gut, es fehlen ja hauptsächlich Acts für Donnerstag und da kommen noch ein paar nice Sachen.