Mehr als eine neue Frisur

Karin Flückiger-Stern und ihr Team schneiden Obdachlosen gratis die Haare. Weil sie realisiert hat, wie schnell Menschen in die Armut rutschen können.

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Karin Flückiger-Stern, alias Karli, hat den Verein gegründet. (Bild: Danielle Liniger)

Ein Samstag im April, kurz vor sechs Uhr abends. Vor dem «Punkt 6» von Pinto an der Nägeligasse in Bern hat sich eine kleine Menschenschlange gebildet. Unten im Lokal orientiert Karin Flückiger-Stern ihr Team darüber, wie viele Anmeldungen es gibt für diesen Abend und öffnet dann die Türe: «Es geit los!»

Obdachlose und armutsbetroffene Menschen dürfen sich an diesem Abend gratis ihre Haare schneiden lassen. Auch Hörnli und Ghackets mit Apfelmus werden serviert, zum Dessert gibt’s selbstgebackenen Zitronencake. Alle dürfen auch Hygieneartikel und Kleider, Schuhe und Lebensmittel mitnehmen, die gespendet worden sind.

Der Verein Kar-Li organisiert den Abend gemeinsam mit dem Pinto-Team. Kar-Li steht für «Karitative Liebe» und ist zugleich der Nickname von Karin Flückiger-Stern, Präsidentin und Co-Gründerin des Vereins. Sie ist Coiffeuse und führt einen eigenen Salon in Niederwangen. Vor sieben Jahren hatte sie eine geschäftliche Krise und realisierte: «Es kann so schnell gehen, den Boden unter den Füssen zu verlieren.»

Aus einem Impuls heraus fuhr Flückiger-Stern im November 2017 zum Passantenheim Thun, um dort gratis Haare zu schneiden. «Ich spürte eine grosse Wertschätzung für meine Arbeit. Die Leute lachten und auch ich fuhr mit einem Lachen heim.» Das wollte sie wiederholen und professionalisieren und gründete darum zusammen mit acht Kolleg*innen den Verein Kar-Li.

Mit ihm will sie die Armut in der Schweiz sichtbar machen und die Gesellschaft dafür sensibilisieren. 702'000 Menschen sind in der Schweiz armutsbetroffen, 1'340'000 gelten als armutsgefährdet. So die aktuellsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik. «Es ist wichtig, diese Realität sichtbar zu machen, um Empathie und Verständnis zu fördern.» Der Haarschnitt und das offene Ohr währenddessen seien ihr Beitrag der Solidarität, um «den Vergessenen wieder Selbstwertgefühl zurückzugeben.»

Geordneter Ablauf

Acht «Kar-Lis», wie sich die aktiven Vereinsmitglieder nennen, sind an diesem Abend in Bern im Einsatz. 31 sind es insgesamt, 18 davon sind ausgebildete Coiffeur*innen. Wer nicht Haare schneidet, empfängt die Gäst*innen, kocht Essen oder gibt Kleider heraus.

Am Empfang an der Theke erhalten alle eine Nummer. Der Reihe nach werden sie aufgerufen. Zuerst Haarewaschen in der Dusche, dann Haarschnitt am Tisch im Aufenthaltsraum. Mit der Dauer des Abends steigt der Lärmpegel. Alle fünf Schnittplätze sind besetzt, Coiffeusen und Gäst*innen unterhalten sich, Föhne surren, ein Hund bellt.

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Acht Coiffeusen schneiden an diesem Abend ehrenamtlich die Haare von obdachlosen Menschen. (Bild: Danielle Liniger)

Alle «Kar-Lis» tragen schwarze Kleidung und darüber eine schwarze Lederweste, auf die Stoffpatches mit dem Vereinslogo – ein rotes Herz mit Augen, eingerahmt in einen rosafarbenen Ring – und solche von Sponsoren genäht sind. Und das Schild mit dem Nicknamen. «Die Weste und der Nickname schützen unsere Privatsphäre», sagt Karin Flückiger-Stern. Die Weste verändere ihre optische Erscheinung genügend fest, damit sie durch die Stadt laufen könne, ohne auf ihre Rolle bei Kar-Li angesprochen zu werden. «An der Weste prallen auch die emotional schweren Geschichten ab. Ziehe ich die Weste nach der Arbeit aus, lege ich auch die Geschichten ab, die ich gehört habe.»

Geschichten hören Karin Flückiger-Stern und die anderen Freiwilligen viele. «Die Menschen erzählen, wie sie in ihre aktuelle Lage geraten sind. Da sind Akademiker*innen, die krank geworden sind oder Menschen aus vermögenden Familien, die aus der vorgespurten Karriere ausgebrochen und an die falschen Leute gelangt sind.»

Der Stammgast bringt ein Geschenk

Alle Gäst*innen dürfen entscheiden, ob sie fotografiert werden wollen oder nicht. Und selbstverständlich auch, ob sie der Journalistin ihre Geschichte erzählen wollen. Die meisten Angefragten lehnen ab.

Ein Gast stimmt zu und spricht vor allem über gesundes Essen, das er so fest vermisse, weil er es sich nicht leisten könne: «Brot, Butter und Nudeln machen den Bauch satt, aber nicht das Gehirn», sagt er. «Früchte und Gemüse wären besser.» Er lässt sich je drei Zöpfe auf dem Kopf und in den Bart flechten. Seit drei Jahren sei er nicht mehr beim Coiffeur gewesen. 

Manche Kar-Li-Gäst*innen kommen immer wieder. Zur namentlichen Begrüssung gibts eine Umarmung, dann die Aufdatierung, was alles passiert ist seit dem letzten Haarschnitt. An diesem Abend in Bern hat ein Stammgast sogar ein Geschenk für alle Kar-Lis mitgebracht: Einen Schlüsselanhänger mit dem Vereinslogo und Charms in Form von Schere, Kamm und Föhn. «Den werde ich mir an meine Weste hängen», erzählt Karin Flückiger-Stern gerührt.

Rund zwei- bis dreimal pro Monat organisiert Kar-Li einen Haarschneide-Anlass. Nicht nur in Bern, sondern auch in Thun, Solothurn, Liestal und anderen Orten in der Deutschschweiz. Alle arbeiten freiwillig, Spesen zahlt der Verein keine. Shampoo und Stylingprodukte sowie Spiegel, Umhänge oder Föhne stellen zwei Firmen für Coiffeurbedarf gratis zur Verfügung.

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Das Pinto-Lokal verwandelt sich temporär in einen Coiffeur-Salon. (Bild: Danielle Liniger)

20 Menschen lassen sich an diesem Abend in Bern die Haare schneiden. Wer fertig ist, verlässt das Lokal nicht, sondern setzt sich an den Tisch, isst und unterhält sich mit den anderen Anwesenden. «Die Gemeinschaft und das Essen sind ebenso wichtig wie das Haareschneiden», sagt Karin Flückiger-Stern.

Kurz vor neun Uhr tröpfelt sie ihrem letzten Gast Tonic auf die Haare und massiert ihm den Kopf. «So entspannt habe ich dich noch nie gesehen», kommentiert die Mitarbeiterin von Pinto, die daneben steht.

Dann hat auch Karin Flückiger-Stern Zeit, um sich eine Portion Hörnli mit Gehacktem zu gönnen. Stehend, in der Küche. «Die Dankbarkeit der Menschen erfüllt mich immer wieder», erzählt sie zwischen zwei Bissen. Dann wird sie wieder unterbrochen. Jemand fragt, wann Kar-Li das nächste Mal nach Bern komme. Ende Sommer ist es wieder soweit.

Es war ein langer Tag für Karin Flückiger-Stern. Tagsüber arbeitete sie in ihrem eigenen Salon. Nun steht der letzte Programmpunkt an: «Weste ausziehen, heimfahren, duschen. Und dabei dankbar sein, dass ich ein warmes und trockenes Zuhause habe.» Das ist ihr Ritual, um herunterzufahren. Bisher habe es immer funktioniert.

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