«Hänsel und Gretel» für Erwachsene
Künstlerisch anspruchsvoll, musikalisch und gesanglich einnehmend: Doch die Oper «Hänsel und Gretel» im Stadttheater ist nur bedingt familientauglich.
Kompliziert ist das Märchen von «Hänsel und Gretel» ja nicht – wenn auch etwas archaisch. Zwei Geschwister werden von den Eltern allein gelassen im Wald. Dort treffen sie auf die böse Hexe im Lebkuchenhaus, die sie mästen und fressen will. Glücklicherweise können sie sich retten.
Auch die spätromantische Opernversion von Engelbert Humperdinck (mit dem Libretto seiner Schwester Adelheid Wette) ist da nicht viel anders. Sie wurde als Familienoper komponiert, mit eingängigen musikalischen und gesanglichen Teilen. So wurden etwa Kinderlieder wie «Suse, liebe Suse» oder «Ein Männlein steht im Walde» eingeflochten. Es ist eine kindergerechte Annäherung an die Oper.
Biedere 1960er Jahre
Leider ist die Berner Inszenierung unter der Regie von Raimund Orfeo Voigt nur bedingt familientauglich. Es ist ein Abend, der vor allem erwachsenen Menschen Freude machen wird. Voigt, der auch fürs Bühnenbild verantwortlich ist, hat die Szenerie in die biederen 1960er Jahre versetzt. Braun und Beige dominieren in der Wohnung von «Hänsel und Gretel». Die beiden werden zu Beginn von Kinderdarsteller*innen (beeindruckend: Adriaan Sanders und Mina Dwaier) gespielt, was spätestens dann irritierend ist, wenn sie zu singen beginnen.
Die Stimmen gehören allerdings Patricia Westley (Gretel) und Evgenia Asanova (Hänsel), die erst in einer späteren Szene die Bühne betreten. Zu dieser Zeit sitzen die Geschwister im Schrank und erleben dort zwischen übergrossen Mänteln den Rest der Märchengeschichte als psychologisch zu deutenden Traum. Mit dem skurrilen Höhepunkt, dass die Mutter plötzlich zur verrückten und fetten Hexe mutiert, die die Kinder mit Brei vollstopfen will (grossartig: Claude Eichenberger).
Überforderte Mutter
Das mag für Erwachsene auf eine gute Weise tiefgreifend und nachdenklich stimmend sein, für Kinder und Jugendliche scheint diese Lesart aber eher irritierend. In ein eigentlich einfaches Märchen wird hier so viel hineininterpretiert, dass es eine komplexe Parabel auf die Überforderung einer Mutter wird.
Das alles könnte trotzdem funktionieren, wenn das Bühnenbild etwas mehr auf kindliche Bedürfnisse eingehen würde. Aber Voigt ist konsequent: Vergeblich wartet man auf ein fantasievoll gestaltetes Lebkuchenhaus, denn die Hexe wohnt in derselben Beige und Braun gehaltenen Wohnung wie die Geschwister, nur auf dem Tisch steht ein kleines Lebkuchenhaus. Und der finstere Wald besteht aus übergrossen, von der Decke hängenden Mäntel. Ein poetischer und künstlerischer Einfall, den Kinder allerdings nicht so leicht verstehen werden.
Und trotzdem gibt es diese magischen Momente: So etwa, als aus einem übergrossen Mantelsack eine Eule (Irati Berraondo Ibarguren) hervorschaut und das Lied des Sandmännchens singt, während gleichzeitig mit Maus, Igel und Eichhörnchen die Tiere des Waldes die Bühne bevölkern (dargestellt von den Mitgliedern des Kinderchors). Auch sehr hübsch ist ein schon fast wie ein Zaubertrick anmutender Kniff. In einem Moment verschwindet die schlanke und adrett frisierte Mutter zur Tür hinaus, im nächsten springt die fette und verwilderte Hexe in eben denselben Kleidern hinein.
Oft aber ist das Bühnenbild eher statisch. Der Abend wird getragen von der kraftvollen und eingängigen Musik des Berner Symphonieorchesters unter der Leitung der neuen Chefdirigentin Alevtina Ioffe. Engagiert führt die Russin das Orchester durch die romantischen Partituren. Musikalisch bleibt an diesem Abend nichts zu wünschen übrig.
Auch viel Lob verdient die Leistung des ganzen Opernensembles, das stimmlich überzeugt. Insbesondere die harmonierenden Duette von Hänsel und Gretel sind hier hervorzuheben. Schliesslich ist die Operninszenierung sehr gelungen – aber nur bedingt für Familien. Ihnen sei das von Bühnen Bern wiederaufgenommene Stück «Die unendliche Geschichte» empfohlen.
Nächste Vorstellung: So, 16.11., 16 Uhr, Stadttheater. Weitere Vorstellungen bis 22.2.26.
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