Downtown Ostermundigen
Die «Hauptstadt» verbrachte eine Nacht im neuen Hotel des grossstädtischen «BäreTower». Der Schlaf war lang und gut. Auch, weil das urbane Flair um das Hotel in Ostermundigen erst noch erwachen müsste.
Ostermundigen startet gerade durch. Der «BäreTower», mit 100,5 Metern das höchste Wohnhaus der Schweiz, ist Anfang Mai offiziell eröffnet worden. Das Architekturmagazin «Hochparterre» hielt zu dem spektakulären Bau kürzlich fest: «Die Fassade, die auch innen mit Aluminium gebaut ist, sorgt für einen höherwertigen Charakter und rahmt vornehm den Blick in die Berner Alpen.» Was für ein Kontrast zum baufälligen Hochhaus nur ein paar hundert Meter entfernt, das das alte Ostermundigen repräsentiert. Gemeindepräsident Thomas Iten (parteilos) ventiliert bereits Ideen für zwei weitere, nicht ganz so hohe Hochhäuser in der Nähe. Ostermundigen, eben noch die finanzschwache, gesichtslose Agglogemeinde mit hohem Ausländer*innenanteil und vielen Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist plötzlich ein Investitionsmagnet und wird als Stadt neu gebaut.
Als gute Stadt?
Die «Hauptstadt» quartierte sich eine Nacht im seit vier Wochen geöffneten Hotel in den unteren Stockwerken des «BäreTower» ein und versuchte im Modus des Business-Reisenden das urbane Flair Ostermundigens auch ausserhalb des glänzenden Aufbruchssymbols aufzuspüren. «Harry’s Home» jedenfalls, so heisst das Hotel, jüngste Filiale einer österreichischen Kette, ist bereits in Ostermundigens möglicher Zukunft als fusionierter Stadtteil angekommen: in Bern. «Harry’s Home» befinde sich im «BäreTower», dem «neusten Wahrzeichen der Unesco-Stadt Bern», erfährt man als Gast. Als Einheimischer weiss man: Es waren vor mehr als zehn Jahren ausgerechnet die Eigentümer des altehrwürdigen, aber wirtschaftlich nicht mehr zu rettenden Gasthofs Bären, die mit der Hochhausidee kamen.
Hemden bügeln, in sich horchen
Genau genommen befindet sich «Harry’s Home» seitlich im breiten Sockelteil, aus dem der schlanke Wohntower wächst. Grossstädtische Coolness zieht sich durch das Hotel, vom völlig entspannten Personal an der Réception bis zur lässig geräumigen Dusche. In der Tiefgarage kann man das E-Mobil an den Strom anschliessen, am Service Point im zweiten Geschoss Kleider waschen und eigenhändig Hemden bügeln. Zukunft und Business überall, eine Nacht kostet rund 140 Franken. Berauschend ist die Schallisolierung: Ausser den eigenen Geräuschen hört man im Zimmer keinen Ton, als befände man sich in einer Raumkapsel. Der Schlaf ist ungestört. Grösster Aufreger des meditativen Aufenthalts ist die Sonnenstore, die plötzlich geräuschlos nach oben schwebt und die Aussicht freigibt: auf die himmelhohe Fensterfront des «BäreTower».
Was am Wohnturm als erstes auffällt: Fast alle Neueingezogenen halten Vorhänge kraft der Höhe über Boden für überflüssig. Man beobachtet also zum Einnachten vom Hotelbett aus übereinander gestapelt Menschen, die zum Fenster hinaus in die Ferne schauen, als würden sie immer noch nicht recht verstehen, wo sie gelandet sind; die an Pulten am Fenster in den Computer starren und sich am Kopf kratzen; die vor ihren unausgepackten Zügelkartons stehen.
Zweifellos: Die Bewohner*innen des Ostermundiger «BäreTower» sind Menschen, die Neuland betreten haben. Der Bezug eines 32-stöckigen Wohnturms ist in der Schweiz nichts Alltägliches. Nach Angaben der Helvetia Versicherungen, der Vermieterin, sind von den 152 Wohnungen derzeit noch 11 frei. Die Mietpreise steigen, je weiter oben sich die Wohnung befindet. Aktuell sind etwa noch einige 3,5-Zimmer-Wohnungen zwischen dem 10. und 20. Stockwerk verfügbar für rund 2500 Franken monatlich.
Grüsse vom Storch
In Vollbesetzung werden um die 300 Menschen im Tower leben. Das erfordert einen strikten Einzugsplan: Jeder Stock – also rund fünf Mietparteien gleichzeitig – erhielt im April einen Tag zum Zügeln zugeteilt. Beim Einziehen spielten sich Episoden mit Legendenpotenzial ab. Es stellte sich heraus, dass die Lifte sehr sperrige, unzerlegbare Möbel nicht zu fassen vermochten. So sahen sich etwa Angestellte einer Zügelfirma gezwungen, einen Tisch, dessen Beine sich als nicht demontierbar erwiesen, durchs Treppenhaus in den 30. Stock zu tragen – mindestens Schweizer, wenn nicht europäischer Rekord.
Im Wohnalltag tasten sich die neuen Hochhausbewohner*innen an ihre neue Lebenswelt heran. Neben dem umwerfenden Panorama in den Stockwerken Ü20 macht man zuvor undenkbare Naturbegegnungen, wie eine Bewohnerin, die ihre Erfahrungen mit der «Hauptstadt» teilt, festhält. Vor den Fenstern fliegen nicht Singvögel herum. Man befindet sich auf Flughöhe der Störche und sieht sie vom Bett aus auf ihren Erkundungsflügen vorbeisegeln – sofern die aus energetischen Gründen zentrale Steuerung nicht gerade die Sonnenstoren runterfährt. Bis zu einem gewissen Grad eine Herausforderung stellt zudem die gedeckte, wettersichere Loggia dar, die jede Wohnung aufweist. Zwar ist sie mit einem hohen, robusten, lückenlosen Geländer gesichert, aber den Blick in die Tiefe muss man sich trotzdem zutrauen.
Eine andere Frage ist, ob unter den neuen Hochhausbewohner*innen dereinst ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Ostermundigen-Feeling, entsteht. Die Waschküche, klassischer Ort nachbarschaftlicher Auseinandersetzung, (die im «BäreTower» wohl Turnhallengrösse aufweisen würde) fehlt, bis auf eine gemeinsame Notwaschmaschine. Jede Wohnung verfügt über ihren eigenen Waschturm. Als zentrale Begegnungsgelegenheit bleibt die Liftfahrt, die je nach Stockwerk so lange dauert, dass beharrliches Schweigen eine Herausforderung selbst für hartgesottene Schweiger*innen ist. Trotzdem: Der mit einem Baldachin gedeckte Vorplatz vor dem «BäreTower», der erst erahnbar und noch gebaut wird, wirkt neben dem riesigen Turm mikroskopisch klein als urbaner Begegnungsort in spe.
Ungelöstes Verkehrsproblem
«Das Hochhaus macht auf urban, auch wenn gleich nebenan Schrebergärten liegen und ein Kreisel den Verkehr lenkt», schreibt der Architekturkritiker von «Hochparterre». Es ist das, was man erlebt, wenn man nach Feierabend «Harry’s Home» verlässt und noch ein wenig Downtown Ostermundigen reinziehen will. Was sofort ins Auge sticht: Die Bernstrasse, Ostermundigens Hauptachse, ist mindestens zur Rushhour chronisch verstopft – von vielen Mundiger Autopendler*innen, aber auch solchen, die ins Worblental nach Hause fahren. Ein Strassenraum, den man sich wie mittlerweile in vielen Stadtberner Quartieren auch als Begegnungsort vorstellen kann, ist meilenweit entfernt. Wie sich das geplante Tram Bern-Ostermundigen hier durchkämpfen soll, ist mindestens dem Laien schleierhaft.
Kulinarisch gesehen eindrücklich ist die vorurbane Massierung von Coiffeursalons sowie sich ähnelnder Take-away- und Food-Delivery-Shops, die das eher schmale, hochkonventionelle Segment von Döner bis Pizza abdecken. Erst kurz bevor die Strasse Richtung Oberfeld-Quartier ansteigt, taucht mit dem indisch-pakistanischen Restaurant «Swaad», das seit Anfang Jahr geöffnet ist, ein gastronomischer Lichtblick auf. Ein cooles Café, Inbegriff des urbanen Selbstverständnisses, sucht man in Ostermundigen lange. Ironischerweise kommt das Bistro in der Kletterhalle O’bloc dieser Vorstellung fast am nächsten.
Kulinarisch-gastronomische Fragen mögen ein Nebenaspekt der urbanen Entwicklung sein. Letztlich geht es um bodensparende Bauweise mit hoher Lebensqualität, die nicht die Mobilitätsspirale noch weiter ankurbelt.
Gespenst Gentrifizierung
Der aktuelle Goldstandard in der Urbanist*innenszene ist die sogenannte 10-Minuten-Stadt. In ideal verdichteten Stadtquartieren lägen Wohnung, Arbeitsplätze, Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen nur so weit auseinander, dass sie zu Fuss oder mit dem Velo in zehn Minuten erreichbar sind.
Sibylle Wälty, Architektin und Immobilienökonomin an der ETH Zürich, hat zwei Kriterien entwickelt für eine haushälterische Bodennutzung im urbanen Raum. Erstens: Innerhalb eines Radius von 500 Metern um einen ÖV-Knotenpunkt, wie es beispielsweise der S-Bahnhof Ostermundigen ist, müssten mindestens 10 000 Menschen wohnen. Zweitens: In ungefähr diesem Perimeter sollte es rund doppelt so viele Einwohner*innen wie Arbeitsplätze haben. So entstünde nach Wältys Vorstellung eine durchschnittliche Fussdistanz von zehn Minuten zwischen Wohnung, Arbeit und Freizeit, die den Autopendler*innenkolonnen auf der Ostermundiger Bernstrasse Einhalt geböten. Das Gebiet um den Breitenrainplatz in Bern zum Beispiel entspricht laut Wälty ihren Kriterien für eine 10-Minuten-Nachbarschaft.
Der Vergleich zeigt, wie weit die neue «Boomtown» Ostermundigen noch von zukunftsfähiger urbaner Dichte entfernt ist, die auch die Mobilität mitberücksichtigt, die sie auslöst. Wobei genau die Distanz zum Ideal eine Chance sein kann: Urbane Aufwertung, wie sie Länggasse, Breitenrain oder Lorraine in den letzten 25 Jahren erlebt haben, bedeutet auch Erhöhung der Mietpreise und Verdrängung weniger zahlungskräftiger Menschen. Neudeutsch: Gentrifizierung. Ostermundigen ist, wenn überhaupt, erst am Anfang einer solchen Entwicklung – und kann sie, wenn es will, in eine sozial verträgliche Richtung steuern.
«Create your own stay», bewirbt «Harry’s Home» den Aufenthalt im Hotel in Bern-Ostermundigen. «Create your own town» müsste der Anspruch sein. Egal, ob Ostermundigen Ostermundigen bleibt. Oder Bern wird.