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«Reisen sollte kein Konsumgut sein»

Der Tourismus muss nachhaltiger werden. Darin waren sich die Gäst*innen des Hauptsachen-Talks im Progr einig. Klar wurde aber auch: Die Reise dorthin ist weit.

Hauptsachentalk - Tourismus
Touris sind immer die anderen. 
Vanessa Bay, PR-Expertin und VR-Präsidentin von Travelnews
Maja Haus, Autorin des Buchs „Closeby“
Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen
Manuela Angst, CEO von Bern Welcome
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© Danielle Liniger
Reges Interesse: Hauptsachen-Talk mit Nicolai Morawitz, Manuela Angst, Karl Näpflin, Vanessa Bay und Maja Haus. (Bild: Danielle Liniger)

Manuela Angst, CEO von Bern Welcome, kam sofort auf ihr Credo: «Es muss nicht immer mehr sein», sagte sie am Hauptsachen-Talk am Mittwochabend auf der Kleinen Bühne des Progr. Reisen bedeute für sie eine Auseinandersetzung mit dem besuchten Ort und den Menschen. «Man muss halt einen Tag länger bleiben», fand Angst. Das sei für sie ein zentrales Anliegen, als Reisende wie als Vermarktungsverantwortliche: «Reisen sollte kein Konsumgut sein.»

Angst, die mit Bern Welcome die Stadt Bern, den Gantrisch, das Oberaargau, Laupen und das Emmental vermarktet, war eine der Teilnehmer*innen des Talks zum Thema «Touris sind immer die anderen». Mit ihr diskutierten die Tourismus-Expertin Vanessa Bay, die Autorin Maja Haus und Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen.

Hauptsachentalk - Tourismus
Touris sind immer die anderen. 
im Bild: Manuela Angst

Vanessa Bay, PR-Expertin und VR-Präsidentin von Travelnews
Maja Haus, Autorin des Buchs „Closeby“
Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen
Manuela Angst, CEO von Bern Welcome
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Positioniert Bern als nachhaltige Destination: Manuela Angst. (Bild: Danielle Liniger)

Manuela Angst bestritt nicht, dass fürs Geschäft trotzdem die Zahlen zählen. 2023 überschritt Bern die Ziffer von einer Million Logiernächten pro Jahr. Das ist relevant, denn die touristischen Umsätze kommen zu zwei Dritteln aus dem Businessbereich. «Wir sind gerne auf dem Radar der Menschen, die durch Europa reisen», bestätigte Angst. Das führt unter anderem zu Menschenansammlungen vor dem Zytglogge.

Ob das Overtourism sei, fragte «Hauptstadt»-Journalist und Talkmoderator Nicolai Morawitz. «Nein», entgegnete Manuela Angst. Bern habe mit der begrenzten Zahl von Hotelbetten quasi natürliche touristische Wachstumsgrenzen.

«Wir verstehen Bern als nachhaltige Destination», erklärte Angst, «was auch heisst, dass wir kein Greenwashing betreiben.» Bern Welcome bemühe sich aktiv, den Gäst*innen umwelt- und sozialverträgliches Verhalten nahezubringen – beispielsweise, indem in Werbevideos Reisende im ÖV gezeigt werden oder E-Bike-Touren um Bern gross promotet werden: «Wir müssen umdenken, wirklich», forderte die Bern-Welcome-CEO.

Mit offenen Augen

An diesem Punkt hakte die Autorin Maja Haus ein: «Wenn Tourist*innen mit dem Flugzeug in die Schweiz gereist sind, ist es nicht mehr so relevant, ob sie hier mit dem Auto rumfahren oder mit dem ÖV», sagte sie. Haus schrieb mit einer Co-Autorin das Buch «Closeby» (In der Nähe), in dem sie nahegelegene Ziele vorschlagen mit dem Erlebniswert einer Fernreise. «Wenn man die Augen offen hat, kann man das, was man weit weg sucht, auch hier finden», sagte sie. Zum Beispiel Lavendelfelder im Oberaargau statt in der Provence. Oder mitten in der Stadt Bern den grosszügigen Bremgartenfriedhof, der mit seiner parkähnlichen Gestaltung eine urbane Ruheoase ist.

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Touris sind immer die anderen. 
im Bild: Maja Haus

Vanessa Bay, PR-Expertin und VR-Präsidentin von Travelnews
Maja Haus, Autorin des Buchs „Closeby“
Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen
Manuela Angst, CEO von Bern Welcome
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Das Hauptproblem sind zu günstige Flugreisen: Maja Haus. (Bild: Danielle Liniger)

Einen wichtigen Schlüssel zum nachhaltigen Tourismus sieht Haus in der Politik: «Flugreisen sind viel zu günstig», sagte sie. Diese wirtschaftliche Realität könne man mit achtsamen, nachhaltigem Verhalten im Privaten bei weitem nicht kompensieren. Sie verlange aber nicht, gar nie mehr zu fliegen, präzisierte Maja Haus.

«Gute Nacht, Schweiz»

«Wichtig finde ich, den Wert des Reisens wieder besser zu würdigen.» Weite Reisen könnten ein Traum sein, den man sich einmal oder zweimal im Leben erfülle. Und nicht jedes Jahr in den Ferien als Selbstverständlichkeit  absolvieren. «Das», so Haus, «würde das Problem deutlich entschärfen.»

Dem pflichtete die Tourismusexpertin Vanessa Bay grundsätzlich bei. Sie ist Geschäftsführerin einer PR-Agentur und Verwaltungspräsidentin von Travelnews, einem Newsportal für Tourismus. Sie findet es allerdings «schade, wenn auf dem Fliegen herumgehackt wird». Reisen sei unglaublich wichtig, auch als Lebensschule, sagte sie. «Und wenn nicht mehr gereist wird, dann gute Nacht Schweiz».

Hauptsachentalk - Tourismus
Touris sind immer die anderen. 
im Bild: Vanessa Bay

Vanessa Bay, PR-Expertin und VR-Präsidentin von Travelnews
Maja Haus, Autorin des Buchs „Closeby“
Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen
Manuela Angst, CEO von Bern Welcome
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Den Wert des Reisens besser würdigen: Vanessa Bay. (Bild: Danielle Liniger)

Nachhaltigkeit beim Reisen sei ein schwieriges Thema, sagte Bay. Wenn man die Leute auf der Strasse frage, würden wohl 8 von 10 sagen, es sei sehr wichtig. Beim Buchen hingegen interessiere es dann niemanden mehr. Schon nur den Treibhausgasausstoss beim Fliegen würden bloss ein Prozent der Passagiere mit einem Preisaufschlag kompensieren. Und ja, sagte sie mit Blick auf die globale Realität auch noch: In den letzten Monaten seien weltweit 16 neue grosse Kreuzfahrtschiffe eingewassert worden.

Umso dringender findet Vanessa Bay, dass alle Player an der touristischen Wertschöpfungskette an diesem Thema arbeiten, auch wenn es nicht zuoberst auf der Prioritätenliste stehe.

Instagram-Hotspot Lauterbrunnen

«Touristischer Trubel erschreckt mich nicht», sagte Karl Näpflin mit feinem Lächeln auf den Lippen. Er ist Bauunternehmer und parteiloser Präsident der Oberländer Gemeinde Lauterbrunnen mit den autofreien Bergdörfern Wengen und Mürren: ein Tourismus-Hotspot. «Die Jungfrauregion boomt. Unsere Wirtschaft ist zu 96 Prozent vom Tourismus abhängig», sagte Näpflin. Der Zweitwohnungsanteil betrage 64 Prozent, «und damit leben wir gut». Er als Chaletbauer sowieso, witzelte er.

Nur: Im Moment habe Lauterbrunnen ein ernsthaftes Problem, «für das wir bis jetzt keine Lösung haben». Bis zu 7000 Besucher*innen am Tag reisen einzig für ein Instagram-Foto des von den Felsen herabstürzenden Staubbachs nach Lauterbrunnen. Sie bleiben höchstens eine Stunde und rauschen dann wieder ab. In der Regel mit dem Auto. Es kommt vor, dass die Instagram-Tourist*innen auf den Gräbern des Friedhofs herumtrampeln oder in Privatwohnungen aufs WC gehen. Der fahrplanmässige Postautokurs bleibt in den Menschenmassen mitunter stecken.

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Touris sind immer die anderen. 
im Bild: Karl Näpflin

Vanessa Bay, PR-Expertin und VR-Präsidentin von Travelnews
Maja Haus, Autorin des Buchs „Closeby“
Karl Näpflin, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen
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Überwältigt von der Hilfe für Lauterbrunnen: Gemeindepräsident Karl Näpflin. (Bild: Danielle Liniger)

Vor zwei Jahren hat Näpflin wegen diesem Problem öffentlich einen Notruf abgesetzt, und «ich war überwältigt, wie viele Hilfsangebote wir erhielten», sagte Näpflin. Inzwischen unterstützt das Forschungsinstitut für Tourismus der Universität Bern die Berggemeinde bei der Lösungssuche.

Kunst beim Staubbach?

Näpflin persönlich schlug auch schon eine Besucher*innen-Kontingentierung vor, aber weil eine Kantonsstrasse durch Lauterbrunnen führt, würde die Idee mit übergeordnetem Recht kollidieren. So bleibe Lauterbrunnen im Moment vor allem die Symptombekämpfung. Die Gemeinde hat beim Staubbach 13 mobile Toiletten aufgestellt und viermal mehr Personal für die Verkehrslenkung rekrutiert als zuvor.

Langfristig genüge das nicht, befürchtet Karl Näpflin. Er appelliert an die Verantwortlichen, etwa bei Schweiz Tourismus: «Wir müssen wirklich anfangen, die Ströme von Tourist*innen, die wir in die Schweiz holen, zu lenken.» Das Problem, unter dem Lauterbrunnen leide, zeige sich an immer neuen Orten, und es werde sich nicht von selber lösen. «Ich war deswegen auch schon bei einem Bundesrat.»

Die Heiterkeit hat Karl Näpflin nicht verloren. Ein Zuhörer des Talks schlug vor, dem Ansturm vor dem Staubbach mit einer Kunstinstallation zu begegnen. Man könne den Wasserfall zum Beispiel mit einer Leinwand bedecken, um die Insta-Tourist*innen zum Nachdenken anzuregen. Näpflin sagte lächelnd: «Die Idee merke ich mir.» Allerdings müsste die Leinwand 200 Meter lang sein. So weit stürzt der Staubbach in die Tiefe. 

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