Schöne Töne
«Hauptstadt»-Brief #8
«Musik beginnt da, wo Worte aufhören.» Das sagte die grosse deutsche Geigerin Anne-Sophie Mutter gemäss der Süddeutschen Zeitung, bevor sie vor ungefähr zwei Wochen an einem grossen Ukraine-Benefiz-Konzert in München Beethovens fünfte Symphonie sowie das Violinkonzert spielte. Ein abgedroschener Satz vielleicht, so oft zitiert, dass er wie eine Plattitüde tönt. Aber er trifft für viele Klänge zu, die jetzt trotz des Kriegsgrauens ertönen, wo auch immer. Musik macht keinen Raketenangriff, keinen Streubombenabwurf, keinen Tod rückgängig. Musik ist eine wortlose Aufforderung, auch dann die Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, wenn sie verschwunden zu sein scheint.
Musik ist Würde ohne Wenn und Aber.
Natürlich kamen mir die Musiker*innen des Opernhauses von Odessa in den Sinn, die unter freiem Himmel den Gefangenenchor aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi spielten, während ihre Stadt ins Visier der russischen Truppen geriet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von diesen zweieinhalb Minuten nicht berührt sein kann.
An Anne-Sophie Mutters Satz erinnerte ich mich aber auch, als ich von einer schönen Unterstützungsaktion des Berner Kulturzentrum Progr hörte. Heute Donnerstag kommt eine rund 20-köpfige Gruppe junger ukrainischer Musiker*innen in Bern an, um Schutz zu suchen. Um weiterhin ihre Musik zu machen (und an die Wirkung der Musik zu glauben). Sie gehören der First All-Ukrainian Youth Sessional Jazz Band an. Die Musiker*innen wurden letztes Jahr aus allen Teilen der Ukraine in einem offenen Wettbewerb ausgewählt und unter professioneller Leitung zu einer Band zusammengeführt.
Die schweizerische Stiftung artasfoundation hat die Reise der Musiker*innen in die Schweiz organisiert. Der Progr hilft nun bei der Suche nach Unterkünften, Probe- und Auftrittsmöglichkeiten, er wird unterstützt von der Stanley Johnson Stiftung in Bern und die Hochschule der Künste. Um weitere Beherbergungsangebote wäre die Progr-Leitung froh.
Eine warme, unterstützungswürdige Initiative, finde ich, wie es derzeit viele gibt, kleinere und grössere. Und manchmal frage ich mich, wie die Welt aussähe, wenn die Solidarität immer so gross wäre wie jetzt gerade. Es liegt nicht an der Musik, dass es nicht so ist.
Die anderen Themen des Tages
Kulturagenda: Dass die Stadtregion Bern in absehbarer Zeit mit einer vollständigen Online-Kulturagenda beglückt wird, danach sieht es nicht aus. Die «Hauptstadt» hatte bekanntgemacht, dass Kultur Stadt Bern den Kulturveranstaltern vorschlägt, sich technisch und organisatorisch mit dem Zürcher Anbieter Kulturzüri zu verbinden. Bei den Berner Veranstaltern kam das an einer Sitzung Anfang Woche schlecht an, wie Bund/BZ (Abo) schreiben. Man will an der gedruckten Berner Kulturagenda festhalten, obschon diese in absehbarer Zeit nicht mehr im Anzeiger Region Bern erscheinen kann. Der Eindruck, dass sich die Berner Kulturveranstalter*innen bemühen, den Besucher*innen ihr Angebot möglichst übersichtlich zu präsentieren, will sich nicht einstellen.
Influencerin: Agota Lavoyer ist selbständige Expertin für sexualisierte Gewalt, und wenn sie auf den sozialen Medien etwas postet, bleibt es nicht still. Ihr Kampf gegen Vergewaltigungsmythen und die Verharmlosung sexualisierter Gewalt ist kompromisslos. «Meine Ansichten sind nicht radikal, sondern schlicht selbstverständlich», entgegnet Agota Lavoyer. Meine Kollegin Flavia von Gunten porträtiert die Meisterin der klaren Ansage aus Mittelhäusern.
Zwangsmassnahmen: Auch wegen Personalmangels seien Patient*innen des Psychiatriezentrums Münsingen teils über Tage oder gar Wochen im Zimmer isoliert oder zur Ruhigstellung über Nacht ans Bett gefesselt worden. Das wäre widerrechtlich, weil Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie nur im äussersten Notfall angewendet werden dürfen. Das Regionaljournal von Radio SRF zitiert nach langer Recherche anonym mehrere Betroffene, dazu Ärzt*innen und Pflegepersonal, die diese Vorwürfe untermauern. Im selben Beitrag wehrt sich Klinikdirektor Ivo Spicher in einer schriftlichen Stellungnahme gegen die Kritik. Freiheitsbeschränkende Massnahmen würden nur zum Schutz des Lebens von Mitarbeitenden und Patient*innen ergriffen. Die grüne Grossrätin Natalie Imboden fordert indes eine Untersuchung.
Rote Zahlen: Die Stadt Zürich hat eine politisch linke Regierungsmehrheit, Finanzdirektor ist der Grüne Daniel Leupi. Dieser präsentierte vor zwei Tagen die Rechnung der Stadt, anstatt des budgetierten Verlusts von fast 300 Millionen Franken resultierte ein Gewinn von 120 Millionen Franken. Heute Donnerstag ist der Stadtberner Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) an der Reihe. Gemäss Budget geht man für das Jahr 2021 von einem Defizit von 41 Millionen Franken aus. Seit zwei Jahren steht die rot-grüne Stadt Bern wegen roter Zahlen unter heftigem Spardruck. Was, wenn Aebersold wie Leupi plötzlich schwarze Zahlen verkündet? Es ist leider unwahrscheinlich, aber es würde unterhaltsam. Wir berichten heute auf hauptstadt.be.
PS: Das Wetter ist wunderbar und mild die nächsten Tage. Warum nicht zum Lunch oder zum Apéro an den See? Einer der von Bern aus nächstgelegenen befindet im Liebefeldpark in Köniz, wo die Openair-Bar «Raum und Zeit» Pasta, Salate, Tatar oder Apérohäppchen serviert. Der Schiffscontainer, der als Küche, Bar und Gewürzpflanzgrund dient, vermittelt sogar einen Hauch Meeresfeeling. Heute ist die Bar ab 11.30 bis 20 Uhr geöffnet, ab April dann bis später in die Nacht. Und im Sommer, ja, da gibts Abendstimmungen im Züri-West-Style, «we d'Sunne grad im Meer versinkt». In Köniz!