Hinschauen
«Hauptstadt»-Brief #7
Die New York Times zeigte am 7. März auf ihrer Titelseite ein Bild von toten Menschen. Eine Frau, ein Mann, zwei Kinder. Ihre Gesichter unverpixelt, also erkennbar, eines blutverschmiert. Aufgenommen hat das Bild die amerikanische Fotografin Lynsey Addario im ukrainischen Irpin, wo die russische Armee wenige Sekunden zuvor eine Fluchtroute unter Beschuss genommen hat, wie die NZZ schreibt.
Welche Bilder dürfen Medien ihrem Publikum zumuten?
Die Antwort liegt im Abwägen von Argumenten. Eine nützliche Übersicht, was es zu bedenken gibt, liefert Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzig in der Medienwoche. Sie verweist auf die Pflicht von Journalist*innen, zu berichten, was von öffentlicher Relevanz ist – mögliche Kriegsverbrechen gehören dazu. Ausserdem könnten, so Prinzig, die durch das Bild sichtbar gemachten Grauen des Krieges Anstrengungen eines Waffenstillstandes befördern.
Verfehlt wäre dagegen eine Publikation, wenn das Bild die Menschenwürde, beziehungsweise die Totenruhe, der Abgebildeten verletzen würde. Oder mit der «Sensibilität der Betrachter» unvereinbar wäre. Grosse Fragen, mit offenen Begriffen. Die Diskussion darüber sollte aber erst beginnen, denn Bilder wird dieser Krieg noch viele liefern.
- Sicherheitspolitik: Der Berner Regierungsrat Philippe Müller, zuständig für den Migrationsdienst, hat seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf Social Media wiederholt linke Sicherheits- und Friedenspolitik scharf kritisiert. Umgekehrt wird der FDP-Mann von linker Seite oft hart angegangen, wenn es um den Umgang mit Geflüchteten und abgewiesenen Asylsuchenden geht. «Hauptstadt»-Autor Joël Widmer hat Müller zum Gespräch getroffen – und sich nicht mit einfachen Antworten abspeisen lassen.
- Bern/Ukraine: Seit letztem Mittwoch wohnen zwei Ukrainerinnen bei Alexandra von Arx. «Mit einem Dach über dem Kopf ist es aber noch nicht gemacht», so von Arx. Die Frauen kennen niemanden in der Stadt und sie selbst ist tagsüber abwesend, weil sie arbeiten muss. Nun hat Alexandra von Arx gemeinsam mit Elena Makarova und Iryna Horska «Imagine. Ukraine in Bern» lanciert. Dazu gehört zum einen eine Facebook-Gruppe, in der Fragen, Wissen und Fertigkeiten geteilt werden können. Ausserdem findet jede Woche am Mittwoch ein Netzwerktreffen statt, das erste am morgigen 23. März. Adresse: Orbital Garden, Kramgasse 10, 3011 Bern. Das Angebot richtet sich an Menschen aus der Ukraine und aus Bern; Menschen, die Unterstützung benötigen und Menschen, die Unterstützung anbieten. Über die Integration von ukrainischen Kindern in Berner Schulen hat das Regionaljournal von SRF einen hörenswerten Beitrag publiziert.
- Gewalt an Kindern: Das Berner Inselspital schlägt Alarm: Seine Kinderschutzgruppe hat im vergangenen Jahr 57 körperlich misshandelte Kleinkinder unter zwei Jahren behandelt, schreibt die Berner Zeitung (Abo). Das sind neun mehr als im Vorjahr. Die leitende Psychologin der Kinderschutzgruppe erklärt, dass Kinder unter 24 Monaten besonders schutzbedürftig seien, weil sie anders als Schulkinder grösstenteils zu Hause sind und niemandem erzählen können, was sie erlebt haben. Als Ursachen für die Gewalt gelten überforderte Eltern; finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit und enge Wohnverhältnisse können Gewalt weiter begünstigen. Die Lösung? Belastungsgrenzen bewusst machen und frühzeitig Hilfe holen, so die Fachfrau.
- Energie aus Seewasser: Seit Putins Angriff auf die Ukraine wird die Abhängigkeit von russischem Gas als Problem gesehen, das mit einem Ausbau von erneuerbaren Energiequellen im eigenen Land behoben werden könnte. Da kommt ein Projekt in Biel gerade recht: Rund 200 Liegenschaften sollen ab Herbst mit Energie, die aus dem Bielersee gewonnen wird, geheizt und gekühlt werden, berichten Bund/BZ (Abo). Könnte nun auch der Wohlensee als Energiespender für die Stadt Bern funktionieren? Eher nein. Denn die gewonnene Energie muss nahe der Quelle verbraucht werden – die Distanz in die Stadt ist also zu gross.
- Rassismus: Bis am Samstag läuft in Bern die Aktionswoche gegen Rassismus. Über 40 Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene sollen aufzeigen, wie struktureller Rassismus funktioniert und wie er auf Betroffene wirkt. Das Thema könnte aktueller nicht sein: Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine ist der Eindruck entstanden, dass es Geflüchtete erster und zweiter Klasse gibt. Der Journalist Emran Feroz hat für Babanews einen treffenden Kommentar dazu geschrieben.
PS: Auch in Bern ist der Krieg visuell wahrnehmbar, natürlich nicht mit solch haarsträubenden Bildern wie sie in der Ukraine aufgenommen werden. In Bern liegt der Fokus auf den Kundgebungen. Die letzte fand am Samstag statt, wo Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried nebst seiner visuellen Erscheinung sich auch akustisch bemerkbar machte.