Geschlechtsspezifische Gewalt, Wohnungsmarkt, Sozialhilfegesetz

News vom Dienstag – Hauptstadt-Brief #507

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Ab Mittwochabend steht vor der Dampfzentrale im Marzili ein Schrottauto, auf das Frauen einschlagen können. Die Installation «Smash*it – Mach kaputt, was dich kaputt macht» ruft explizit dazu auf, sich am Auto auszutoben und daraus Kraft zu schöpfen.

Die Installation lehnt sich an eine Performance der international bekannten Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist an. In «Ever is over all» hat sie 1997 auf Video festgehalten, wie eine gut gelaunte, unbeschwerte Frau mit einem einer Blume nachempfundenen Schlag-Gegenstand die Scheiben eines Autos einschlägt. 

«Diese Idee kam mir in einem Moment, als ich sehr schwach war», hat die Künstlerin später in einem Interview gesagt. «Ich wollte diese Aggression, den zerstörerischen Moment nutzen und ihn in etwas Hoffnungsvolles verwandeln.»

Das Video von Pippilotti Rist wirkt fast wie ein Gemälde. Zerstörerisch und gleichzeitig malerisch. Schrecklich und schön zugleich.

Was wohl mit dem Auto im Berner Marzili geschehen wird in den kommenden Tagen? Fest steht, dass es am Mittwochabend «eingeweiht» wird von der Berner Rapcrew Eto. Danach steht das Auto allen Betroffenen von Rape Culture zur Verfügung.

Die Installation ist Teil des viertägigen Festivals «Good Night Cinderella». Es richtet sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt und will gleichzeitig Verbundenheit fördern. Die Eröffnungsrede hält Caroline Darian, die Tochter der Französin Gisèle Pelicot, die jahrelang von ihrem Mann betäubt und in dieser Zeit von Dutzenden von Männern missbraucht wurde. Der Prozess wurde im Frühling öffentlich ausgetragen. Darian hat über die traumatisierenden Erlebnisse ein Buch geschrieben.

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein wichtiges und ernstes Thema, das uns alle angeht. Auch wenn manche vielleicht lieber wegschauen würden. Nicht zuletzt deshalb gefällt mir, dass die Festival-Macher*innen mit dem Schrottauto auch einen spielerischen Zugang dazu bieten.

Nydeggtreppe 2020, immer die Abkürzung auf dem Fotowalk durch Bern
Bilderserie von Silvan Mahler (4/12): Nydeggtreppe 2020, immer die Abkürzung auf dem Fotowalk durch Bern. (Bild: Silvan Mahler)

Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:

  • Mietinitiative: Mehr Transparenz oder mehr Bürokratie? Der Kanton Bern stimmt am 28. September darüber ab, ob künftig die Vormieten in einem Formular offengelegt werden müssen. Meine Kollegin Jana Schmid hat sich mit der Vorlage befasst. Obwohl der Kanton Zürich die Mietzinsoffenlegung bereits 2013 eingeführt hat, ist deren Wirkung aufgrund fehlender Untersuchungen schwierig zu beziffern. Jedoch sind im Kanton Bern über 60 Prozent der Einwohner*innen Mieter*innen. Und eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist in den letzten Jahren schwieriger geworden, wie Schmid an mehreren Messwerten aufzeigt.  
  • Tiefenauspital: In zwei Gebäuden des ehemaligen Tiefenauspitals ist der Weg frei für weitere Nutzungen. Der zuständige Fonds der Stadt Bern hat dazu Baukredite gesprochen. Das ehemalige Personalhaus des Spitals soll grösstenteils als Wohnheim für Studierende genutzt werden. Der benachbarte schützenswerte Pavillonbau soll durch den Trägerverein für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern (Toj) sowie eine Ateliergruppe genutzt werden. Mit den beiden Krediten im Umfang von insgesamt 1,6 Millionen Franken werden «nötige Baumassnahmen» ausgeführt, um eine Nutzung für rund zehn Jahre zu ermöglichen, wie die Stadt mitteilt.
  • Sozialhilfegesetz: Im Moment debattiert der Grosse Rat über die Revision des Sozialhilfegesetzes. Gestern hat er einen Pflock eingeschlagen und die gesetzliche Grundlage zur Einführung von Bezahlkarten in der Asylsozialhilfe gelegt. Die Bezahlkarten gehen auf einen Vorstoss aus den Reihen der SVP zurück. Die Befürworter wollen mit der Karte verhindern, dass Asylsuchende Bargeld aus der Sozialhilfe in ihre Heimatländer verschieben. Die rot-grüne Ratsminderheit wehrte sich vergeblich gegen die Bezahlkarte, die Menschen in einer ohnehin schwierigen Lage noch mehr stigmatisiere und diskriminiere. 82 Grossratsmitglieder stimmten für die gesetzliche Grundlage, 64 dagegen, drei enthielten sich der Stimme.  
  • Sozialhilfegesetz II: Der Berner Regierungsrat will mit der Revision auch ein Selbstbehalt-Modell einführen, das die Sozialdienste der Gemeinden zu Kostensenkungen animieren soll. Nun muss er aber in dieser Sache nochmals über die Bücher. Der Grosse Rat hat diesen Teil der Revision in der ersten Lesung zurückgewiesen. Das Selbstbehalt-Modell sieht vor, dass Gemeinden einen Teil ihrer Sozialhilfekosten selbst tragen. Konkret bedeutet das: Wer sparsamer arbeitet, erhält mehr Geld zurück. Im Rat hagelte es gestern von allen Seiten Kritik, wie die Nachrichtenagentur SDA schreibt. Das Modell sei unausgereift und intransparent, so der Tenor. Die Gemeinden könnten viele der anfallenden Kosten in der Sozialhilfe nicht beeinflussen, betonte etwa Melanie Gasser (GLP). Der Rat entschied sich schliesslich klar mit 146 zu 7 Stimmen bei 2 Enthaltungen, die entsprechenden Gesetzesartikel zur Überarbeitung an den Regierungsrat zurückzuschicken.  
  • Umfahrungen: Der Regierungsrat hat die letzten Beschwerden gegen die Strassenbauprojekte in Aarwangen und im Emmental abgewiesen. Gegen einige dieser Entscheide haben Verbände und Betroffene bereits Beschwerden beim kantonalen Verwaltungsgericht erhoben, womit die Realisierung blockiert bleibt. Der Regierungsrat wies 20 Beschwerden gegen die Verkehrssanierung Aarwangen und acht Beschwerden gegen die Umfahrung Oberburg ab. Bis zum Abschluss der Verfahren, die bis vor Bundesgericht weitergezogen werden können, sind die beiden Strassenpläne nicht rechtskräftig. Das Berner Stimmvolk hat die Projekte im März 2023 gutgeheissen.   
  • Theater: Der Berner Dramaturg und Theaterwissenschaftler Martin Bieri wird mit dem Schweizer Preis der Darstellenden Künste gewürdigt. Die Auszeichnung des Bundesamts für Kultur ist mit 40’000 Franken dotiert und geht in diesem Jahr an acht weitere Kunstschaffende, die meisten davon aus der Westschweiz. Der 48-jährige Bieri hat für diverse Theaterhäuser, darunter das Luzerner Theater, den Neumarkt Zürich oder das Theater St. Gallen als Dramaturg gearbeitet und ist als Autor und Journalist tätig. Insbesondere mit der Produktion «Old White Clowns» (2023) war er erfolgreich. Für seine schriftstellerische Tätigkeit wurde Bieri mehrmals vom Kanton Bern mit dem Literaturpreis ausgezeichnet.

PS: Es sind die letzten Tage des Sommerprogramms auf der Schützenmatte. Und auch wenn das Wetter nicht nur rosig ist, kannst du noch einmal tanzen. Heute Abend ist der brasilianische Tanz Forró angesagt – morgen Abend Tango.

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