Einkaufen – «Hauptstadt»-Brief #87
Donnerstag, 20. Oktober – die Themen: Mitmachladen; Parkkarten; City Card; Containerdorf; Autobahn Grauholz; Bundesrat; Progr; Tscharnergut; Gravel Ride&Race.
In Mittelhäusern, wo ich wohne, gibt es einen Dorfladen, den Anwohner*innen übernahmen, als der vorherige Betreiber das Handtuch warf. Dank Freiwilligenarbeit, Durchhaltewillen und Kreativität entwickelte sich der Laden zu einem Belebungsfaktor für das Dorf. Zudem schärft er den Sinn für regionalen, nachhaltigen Konsum. Übernächsten Samstag feiert er sein fünfjähriges Bestehen.
Solche von Nutzer*innen mitgetragene Läden, mit denen die Menschen die Lebensmittelversorgung selber in ihre Hände nehmen, gibt es mittlerweile viele – den Laden im Murifeld etwa oder den Dorfladen Frauenkappelen. Noch einen Schritt weiter geht nun der genossenschaftliche Mitmachladen «Güter», der letzten Samstag an der Tscharnerstrasse 20 unweit des Eigerplatzes sein Lokal eröffnet hat.
Mitmachladen bedeutet: Die Mitglieder sind gleichzeitig Mitbesitzer*innen, Mitarbeiter*innen und Konsument*innen. Einkaufen kann nur, wer mindestens einen Anteilschein von 50 Franken zeichnet und bereit ist, zweidreiviertel Stunden pro Monat im Laden mitzuarbeiten, was preisdämpfend wirkt. Zudem richtet «Güter» einen internen Solidaritätsfonds ein, in den kaufkräftigere Mitglieder einzahlen, um nachhaltig produzeirte Lebensmittel für weniger gut gestellte Genossenschafter*innen zu verbilligen.
Der Berner Politikwissenschaftler Nicholas Pohl, einer der Mitinitiant*innen von «Güter», liess sich von der grossen «Park Slope Food Coop New York»mit ihren 17’000 Mitgliedern inspirieren, in der er mitarbeitete. Die Vision geht übers Einkaufen hinaus: Wenn sich Konsument*innen zusammenschliessen, bestimmen sie das Angebot mit und wirken, so hoffen sie, im besten Fall gesellschaftsverändernd. Weil sie nicht mehr der Logik gewinn- und wachstumsorientierter Anbieter*innen ausgeliefert sein wollen.
Davon ist «Güter» noch ein Stück weit entfernt. Das Sortiment mit 250 Produkten ist bis jetzt überschaubar, wie ein Besuch im Laden zeigt, die Mitgliederzahl von 200 ebenfalls. Aber jede Woche melden sich neue Mitglieder bei «Güter», und Pohl ist überzeugt davon, dass immer mehr Menschen ihren Konsum überdenken. Und beeinflussen wollen, wie entsteht, was wir zu uns nehmen.
Ausdruck davon sind auch die Tage der Agrarökologie, die schon den ganzen Oktober landesweit stattfinden. Wie sieht eine Landwirtschaftspolitik aus, die die Bedürfnisse der Natur und der Menschen besser berücksichtigt? Diese Frage diskutieren heute Donnerstag abend Fachleute im Dok8 im Warmbächli unter der Leitung meiner Kollegin Marina Bolzli, Co-Redaktionsleiterin der «Hauptstadt». Vorgestellt wird eine interessante Studie von Pro Natura, die zeigt, wie neue ökologische Vorgaben an Hofübergaben geknüpft werden könnten.
Das müsste auch die Initiant*innen von «Güter» und der Läden in Frauenkappelen, im Murifeld und in Mittelhäusern interessieren. Brennend.
Und das möchte ich dir in den Tag mitgeben:
Stadtrat: Debatten im Berner Stadtparlament können wie Schlaftabletten wirken. Heute Abend aber dürfte es hitzig werden, es geht um: Parkplätze. Wie hoch darf die Jahresgebühr für Anwohner*innen-Parkkarten in der blauen Zone steigen? Die rot-grüne Stadtregierung will sie auf knapp 500 Franken verdoppeln, linke Verkehrspolitiker*innen möchten sie im Namen der Kostenwahrheit und der Klimapolitik auf über 700 Franken fast verdreifachen. Ist das eine versteckte Steuer zur Entlastung der hochroten Stadtfinanzen? Oder eine längst fällige, konsequente Lenkungsmassnahme? Die Debatte wurde vor einigen Wochen geführt, heute abend wird noch abgestimmt. Wer miterleben will, wie es ausgeht, dem kann ich heute einen Besuch im Stadtrat empfehlen (ab 17 Uhr, live im Rathaus oder im Audio-Livestream).
City Card: Der Stadtberner Gemeinderat hat einen Projektierungskredit von 120'000 Franken für die Konzipierung einer City Card Bern bewilligt, wie er mitteilt. Diese soll allen Personen in der Stadt Bern – namentlich auch Sans-Papiers – den Zugang zu Dienstleistungen und Vergünstigungen ermöglichen. Aber was genau ist eine City Card und was bringt sie Sans-Papiers? Am 3. November widmet die «Hauptstadt» ihren Talk «Hauptsachen» (19.30 Uhr, Progr) dieser Frage.
Containerdorf: Für ursprünglich maximal 1000 geflüchtete Ukrainer*innen haben Kanton und Stadt Bern im Frühling in Windeseile das Containerdorf auf dem Viererfeld gebaut. Aktuell leben 63 Geflüchtete dort. Meine Kollegin Edith Krähenbühl hat die Gründe für die tiefe Belegung recherchiert. Einer der wichtigsten: Fast die Hälfte der im Kanton Bern lebenden geflüchteten Ukrainer*innen wohnt inzwischen in einer eigenen Wohnung.
Autobahn-Ausbau: Die rot-grüne Stadtregierung will nicht, dass die Autobahn A1 zwischen Wankdorf und Schönbühl auf acht Spuren erweitert wird, wie sie schreibt. Sie erhebt deshalb Einsprache gegen das geplante Projekt. Der Spurausbau im Grauholz stehe im Widerspruch zu den Klimazielen des Bundes und der Stadt.
Bundesrat: Der Wahlkampf um die Nachfolge des zurücktretenden Bundesrats Ueli Maurer (SVP) wird nun wohl doch nicht ein Berner Schaulaufen: Die Zürcher SVP schickt Alt-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt ins Rennen. Heute Abend will der Vorstand der Berner SVP entscheiden, ob er der nationalen Partei Albert Rösti, Werner Salzmann oder beide als mögliche Bundesratskandidaten meldet. A propos Ueli Maurer: Der*die in Ostermundigen geborene Schriftsteller*in Kim de l’Horizon, eben mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet, hat gestern in der NZZ (Abo) eine brillant formulierte Entgegnung auf eine von Maurer hingeworfene Bemerkung veröffentlicht. Maurer hatte gesagt, ihm sei es egal, ob ein Mann oder eine Frau seine Nachfolge antrete, solange es kein «Es» sei.
Progr: Eigentlich wollte die Stiftung Progr den Gastro- und Veranstaltungsbetrieb in der Turnhalle ab 2023 selber führen. Deshalb kündigte sie den langjährigen Betreibern, was diese nicht akzeptierten. In zwei Verhandlungsrunden haben die Kontrahent*innen nun aber doch noch eine «einvernehmliche Lösung» gefunden, wie sie in einer Mitteilung schreiben. Die Turnhalle-Betreiber dürfen bis Ende 2023 bleiben und im Januar 2024 sogar noch das 20-Jahr-Jubiläum feiern, ehe der Progr übernimmt.
Tscharnergut: Auf dem Dorfplatz der Überbauung Tscharnergut in Bethlehem steht ein 36 Meter hoher, luftiger Glockenturm. Vier Jahre lang war es still um ihn. Zuvor wurde das Spiel der 18 Glocken über einen komplizierten Lochband-Automaten gesteuert und jahrelang vom legendären Tscharni-Glöckner Ernst Wermuth betreut. Nun ist das Bauwerk vollständig restauriert und der Turm mit einer digitalen Steuerung versehen worden. Zudem wurden der charakteristische Stern an der Spitze und die Weltkugel vergoldet. Das Tscharnergut habe wieder ein leuchtendes Wahrzeichen, hält unser Mitarbeiter Marc de Roche fest. Übermorgen Samstag, 14 Uhr, wird der renovierte Turm eingeweiht – mit Glockenklang und Gratis-Bratwurst.
Ich wünsche dir einen schönen Tag.
Jürg Steiner
PS: Velofahren ist nicht einfach Velofahren. Man fährt Rennvelo, E-Bike, Mountainbike – oder, auf der aktuellsten Welle, Gravel-Bike. Gemeint ist damit ein feld- und waldwegtaugliches Rennvelo. Übermorgen Samstag steigt im Westen Berns das «Gravel Ride & Race» (Start: 12 Uhr, Weyerli), das unter anderem durch den Bremgartenwald führt. Das Rennen ist geeignet für Profis und Hobby-Fahrer*innen. Und ja, nach der Zieldurchfahrt fühlt man sich sicher ready, beim nahegelegenen Glockenturm Tscharnergut eine Gratis-Bratwurst zu nehmen. Der Zeitplan passt, der Hunger wohl auch.