Muri rückt näher an die Stadt
Die Vorortsgemeinde gilt als FDP-Hochburg mit abgeschotteten Villen. Dabei wandelt sie sich gerade. Die Hauptstadt will dem auf den Grund gehen – und zügelt ihre Redaktion nach Muri.
Die Gemeinde Muri. Das sind: tiefe Steuern, grosse Villen, bürgerliche Dominanz. Soweit das Klischee. Teile mögen stimmen. Andere nicht. Oder möglicherweise: Bald nicht mehr. Muri war in den letzten Jahren Schauplatz eines politischen Wandels. Bürgerliche Parteien verloren zunehmend an Einfluss, progressive Kräfte hingegen feierten Wahlerfolge. Anfang Dezember könnte es in Muri gar zu Historischem kommen: Erstmals könnte eine Frau das Gemeindepräsidium übernehmen. Und noch fast bemerkenswerter: Erstmals wäre kein Bürgerlicher mehr im höchsten Amt der FDP-Hochburg.
Gründe genug für die «Hauptstadt», genauer hinzuschauen – und kommende Woche ihr Büro temporär nach Muri zu verlegen. In eine Gemeinde, die sich wandelt und gleichzeitig ihren Wohlstand erhalten möchte.
Muris zwei Gesichter
Um Muri zu verstehen, muss man zunächst wissen, dass die Gemeinde aus zwei – höchst unterschiedlichen – Ortschaften besteht: Da ist einerseits Muri mit seinem Villenquartier am Aarehang, den hohen Thujahecken der Botschaftsresidenzen und dem Bad direkt an der Aare.
Andererseits ist da Gümligen mit seinen Wohnblöcken, Industriebrachen und Fabrikgebäuden.
Was beide Gemeindeteile eint, ist die privilegierte geografische Lage. Wald und Fluss sind überall nah. Und mit dem Zug oder dem Tram ist man in einer Viertelstunde im Zentrum der Stadt Bern. «Wer in der Gemeinde wohnt, profitiert von den Vorzügen von Stadt und Land», sagt Carole Klopfstein. Sie ist die erste grüne Gemeinderätin von Muri und somit eine Art Symbol des politischen Wandels innerhalb der Gemeinde.
Einen politischen Wandel, den Klopfstein auch auf einen demografischen Wandel zurückführt: «Die Gemeinde hat eine eher ältere Bevölkerung, die nun langsam durch Familien und jüngere Zuzüglerinnen abgelöst wird.» Die 30-jährige Klopfstein selbst ist vor sechs Jahren nach Muri gezogen.
Statistisch belegen lässt sich dieser demografische Wandel jedoch nur teilweise. Zwar machten Kinder und Jugendliche in Muri im vergangenen Jahr einen grösseren Bevölkerungsanteil (16,8 Prozent) aus als noch 2008 (15,5 Prozent). Noch deutlicher hat im selben Zeitraum aber der Anteil an Ü65-Jährigen zugenommen (von 24,3 auf 27,7 Prozent).
Muri wird also gleichzeitig ein bisschen jünger und ein bisschen älter.
Experimente? Nicht in Muri
Was in Muri unverändert bleibt, ist der tiefe Steuerfuss. Tiefer als in Muri (1.14) ist dieser aktuell im ganzen Kanton Bern nur in vier Kleinstgemeinden. In der Stadt Bern (1,54) ist er beispielsweise deutlich höher. Der Ruf Muris als Steueroase relativiert sich erst im schweizweiten Vergleich. Da landet Muri (wie alle anderen bernischen Gemeinden auch) im letzten Drittel.
Trotzdem: Muri geht es gut. Die Gemeinde verfügt über ein solides finanzielles Polster, die Sozialhilfequote ist tief und die Wirtschaft brummt. Letzteres belegt die positive Pendler*innenbilanz: Täglich pendeln mehr Menschen nach Muri als aus der Gemeinde hinaus. Grund dafür sind die über 1’000 Unternehmen, die sich hier niedergelassen haben. Sie beschäftigen rund 9’500 Menschen.
Das wohl bekannteste Unternehmen ist Haco. Die Traditionsfirma produziert in ihrer Fabrik in Gümligen Saucen, Desserts und Kaffee – vieles davon für die Migros.
Die vielen Arbeitsplätze, der tiefe Steuerfuss, die Nähe zu Stadt und Natur machen Muri attraktiv. Im nationalen Gemeinderating der Handelszeitung landete Muri-Gümligen 2022 auf dem 136. Platz. Das klingt schlechter als es ist: Keine andere bernische Gemeinde ist besser platziert.
In der Gemeinde der pensionierten Chefbeamten, Professor*innen und Wirtschaftskader wollen deshalb viele gar nicht, dass sich etwas verändert.
«Muri sucht keine Experimente. Die Bevölkerung wähnt sich in einer privilegierten Situation und erwartet deren Erhalt», sagt Walter Thut. Er ist Historiker und Muriger Parlamentsmitglied für die lokale Mitte-Partei Forum.
Tatsächlich haben Abstimmungen in jüngerer Vergangenheit gezeigt, wie konservativ Muri in Sachfragen tickt. 2009 und 2012 lehnte es Ortsplanungsrevisionen ab, 2020 dann den geplanten Bau eines Hochhauses. Muri soll nicht noch urbaner werden. Dazu passt auch, dass die linke Wohninitiative vergangenes Jahr abgelehnt wurde. Sie hatte mehr günstigen Wohnraum gefordert.
Agglos im Links-Trend
Einerseits der Wille, den bestehenden Wohlstand zu bewahren. Andererseits die Erfolge von Mitte-Links bei vergangenen Wahlen. Wie passt das zusammen?
Der Berner Politikwissenschaftler Michael Hermann vom Forschungsinstitut Sotomo beobachtet in Agglomerationsgemeinden eine generelle politische Tendenz: «Seit der Masseneinwanderungsinitiative 2014 ist ein Links-Trend ersichtlich, nachdem es zuvor lange in die konservative Richtung gegangen ist.» Besonders deutlich sei diese Entwicklung in grösseren Agglomerationsgemeinden mit eigenem Zentrum rund um die rot-grünen Städte Zürich und Bern. In Gemeinden wie Muri also.
«Links-grüne Städter*innen tragen ihre politischen Ideen in die Vororte.»
Michael Hermann
Wieso aber dieser Trend?
«Ich stelle einerseits eine Urbanisierung der Mentalität fest», sagt Hermann. Will heissen: Das Leben in Agglomerationsgemeinden wie Muri wird immer städtischer. Also erwarten die Bewohner*innen vermehrt auch städtische Angebote.
Andererseits spricht Hermann von einem sogenannten Spill-over-Effekt. «Links-grüne Städterinnen und Städter ziehen in die Agglomeration und tragen so ihre politischen Ideen in die Vororte», erklärt Hermann. Ein Grund dafür könnte beispielsweise das mangelnde Wohnangebot in den Städten sein.
Tatsächlich lässt sich diese städtische Abwanderung nach Muri statistisch belegen: In den letzten 20 Jahren verzeichnete Muri insgesamt 6’362 Zuzüger*innen aus der Stadt Bern. Zum Vergleich: Aus Ostermundigen zogen im selben Zeitraum am zweitmeisten Personen (820) nach Muri.
Insgesamt leben heute rund 13’000 Personen in Muri.
Showdown ums Präsidium
Bei der Ersatzwahl für das Gemeindepräsidium von Muri will Gabriele Siegenthaler Muinde von diesem Links-Trend profitieren. Sie tritt am 4. Dezember für die Forum-Partei an und kann auf die Unterstützung von SP, Grünen, GLP und EVP zählen.
Die Bürgerlichen wiederum wollen ihre bisherige Vormachtstellung festigen. Für sie sprechen insbesondere zwei Argumente: Der Zustand der Gemeinde und ihr Kandidat. Mit dem FDP-Kantonalpräsidenten Stephan Lack schicken sie ein politisches Schwergewicht ins Rennen. Lack kann auf die Unterstützung von FDP und SVP zählen.
Die Ausgangslage ist spannend: Im Muriger Parlament verfügen die beiden bürgerlichen Parteien seit der Wahl 2020 über exakt gleich viele Sitze (20) wie die Mitte-Links-Parteien – wobei sich die Forum-Partei eigentlich gegen eine Einordnung im Links-Rechts-Schema wehrt. Bei derselben Wahl haben die Bürgerlichen auch ihre Mehrheit im siebenköpfigen Gemeinderat eingebüsst.
Kurz vor dem Showdown der spannendsten Gemeindepräsidiums-Wahlen in Muri seit 50 Jahren zügeln wir von der «Hauptstadt» nun unsere Redaktion für eine Woche nach Muri – wie wir das bereits in Ostermundigen und Zollikofen gemacht haben. Wir widmen uns den FDP-Platzhirschen und der Ortspartei Forum. Wir besuchen das Cinedome in Muri und versuchen herauszufinden, warum eigentlich Muri-Gümligen zum Steuerparadies geworden ist.
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