«Wir brauchen Verbündete»
Obwohl Inklusion ein Menschenrecht ist, stossen Menschen mit Behinderungen immer noch auf Barrieren. Woran es fehlt, schreibt «Hauptstadt»-Redaktorin Edith Krähenbühl, die selbst mit einer Behinderung lebt.
«Hauptsache gesund», ist wohl die meistgehörte Bemerkung, wenn es um ein neugeborenes Kind geht. Einem Kind ein unbeeinträchtigtes und langes Leben zu wünschen, ist verständlich. Gleichzeitig schwingt in dieser Aussage eine bestimmte Sicht auf Krankheit und Behinderung mit: Beides unerwünscht, ja, gefürchtet.
Eine Krankheit haben und behindert sein ist zwar nicht dasselbe, doch das eine kann zum anderen führen, etwa wenn eine Krankheit chronisch ist und so das Alltagsleben beeinträchtigt oder wenn eine Behinderung zu einer Folgeerkrankung führt.
Ist meine Haut etwas dünn, schmerzt es mich zuweilen, «Hauptsache gesund» zu hören. Nicht, weil dieses Attribut auf mich nicht zutrifft, sondern weil der gut gemeinten Bemerkung unbewusst die erwähnte Abwertung zugrunde liegt. Ich bin mit einer Erbkrankheit geboren, bei der unter anderem das Lungenvolumen kontinuierlich abnimmt. Das führt zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit; Behandlung und Therapie sind aufwendig und nehmen im Alltag viel Zeit in Anspruch. Kurz, ich lebe selbst mit einer Behinderung.
Jede*r Fünfte ist behindert
Gemäss einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2019 leben in der Schweiz rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Darunter fallen gemäss BFS «Personen, denen eine dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und weiterzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben».
Die Wahrscheinlichkeit, behindert zu sein, steigt mit dem Alter an. 10 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 16 und 24 Jahren leben mit einer Behinderung, bei den Personen ab 85 Jahren sind es 47 Prozent.
Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion.
Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.
Die Art, wie Behinderung gesehen wird, hat sich im Lauf der Geschichte verändert. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich das medizinische Modell von Behinderung, bei dem die Behinderung als Resultat einer Beeinträchtigung gesehen wird, als persönliches Defizit eines Menschen gegenüber der gesellschaftlichen Norm.
Das medizinische Modell weist den Anpassungsbedarf den Menschen mit Behinderungen zu; durch Hilfsmittel, Therapien und Operationen soll er geheilt oder doch mindestens in einen Zustand versetzt werden, in dem er in eine Gesellschaft eingegliedert werden kann, die den Standards von Menschen ohne Behinderung entspricht.
In Abgrenzung dazu entwickelten britische Sozialwissenschaftler Anfang der 1980er-Jahren das soziale Modell von Behinderung. Dieses geht davon aus, dass Behinderung durch Barrieren in der Gesellschaft entsteht, die Menschen mit einer körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigung von der Teilhabe am Alltagsleben ausschliessen.
Zu den offensichtlichsten Barrieren gehören Trottoir-Absätze, Treppen und die Trittstufen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber auch Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt oder die Ungleichbehandlung beim Zugang zu Versicherungen sind Barrieren. Das soziale Modell betrachtet nicht Heilung als Ideal, sondern die Beseitigung von Barrieren, so dass Menschen unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten gleichberechtigt teilhaben können.
Eine Behinderung ist kein Defizit
Der Begriff Inklusion basiert auf diesem Grundsatz und meint mehr als die Integration «von der Norm abweichender Menschen» in eine gleichbleibende Gesellschaft. Inklusion bedeutet, dass die Bedürfnisse der Einzelnen berücksichtigt und Umwelt und Gesellschaft so gestaltet werden, dass Menschen mit all ihren Eigenschaften selbstverständlich und gleichberechtigt Teil der Gesellschaft sein können. Eine Behinderung ist in einer inklusiven Gesellschaft kein Defizit, sondern ein individuelles Merkmal, das keine Benachteiligungen zur Folge hat.
Inklusion ist keine idealistische Vision, sondern ein Menschenrecht. Das besagt die UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), die die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Bereits zehn Jahre davor trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft; danach sollen Benachteiligungen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind, verhindert, verringert oder beseitigt werden.
Letzte Woche hat der Bundesrat beim Eidgenössischen Departement des Inneren den Entwurf einer Teilrevision des BehiG in Auftrag gegeben. Damit sollen Menschen mit Behinderungen im Erwerbsleben und beim Zugang zu Dienstleistungen in Zukunft besser vor Diskriminierung geschützt werden.
Schweiz, wir haben ein Problem
Solche Entwicklungen sind dringend nötig, denn aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen ist die Schweiz in den Jahren seit der Ratifizierung der BRK kaum vorangekommen. Das zeigt der Schattenbericht von Inclusion Handicap auf.
Ein Auszug: Der Schweiz fehlt eine umfassende Strategie zur Umsetzung der Konvention auf nationaler und kantonaler Ebene. Menschen mit Unterstützungsbedarf leben immer noch überwiegend in Heimen, ein gleichberechtigtes Leben in der Gemeinschaft mit freier Wahl von Wohnsitz und -form bleibt ihnen verwehrt. Bildungs- und Berufsbildungssystem sind nicht inklusiv, das trifft auch auf den Arbeitsmarkt zu; eine Separierung durch Sonderschulen und geschützte Werkstätten ist nach wie vor Realität. Mangels gesetzlicher Pflicht zur Anstellung von Menschen mit Behinderungen existieren kaum angepasste Stellen im ersten Arbeitsmarkt.
Entsprechend rügte letztes Jahr im März das zuständige Überwachungsorgan der UNO, der Auschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Schweiz. Die BRK werde in allen Lebensbereichen mangelhaft umgesetzt. Besorgnis äussert der Ausschuss ausserdem darüber, dass die Gesetzgebung in der Schweiz immer noch auf dem medizinischen Modell von Behinderung basiert und Begriffe verwendet, die Menschen mit Behinderungen abwerten.
Sprache formt unser Denken
Bekanntestes Beispiel für einen solchen abwertenden Begriff, der gesellschaftlich etabliert ist, ist wohl die «Invalidenversicherung» (IV). «Invalid» als Gegenteil von «valid» bedeutet ungültig, wertlos. Wollen wir wirklich die rund 460 000 Menschen, die im Jahr 2021 Leistungen von der IV erhielten, so bezeichnen und damit auch so wahrnehmen?
Auch «behindert sein» wird umgangssprachlich immer noch manchmal im abwertenden Sinn benutzt: als Schimpfwort. Für die Tatsache, mit einer Behinderung zu leben, werden stattdessen Umschreibungen wie «beeinträchtigt» oder «handicapiert» verwendet.
Das ist jedoch nicht mehr nötig, wenn wir uns davon lösen, Behinderung als Defizit zu sehen und sie stattdessen als eine Ausprägung menschlicher Vielfalt betrachten. Noch vor ein paar Jahren – bevor ich mich mit eingehend mit Inklusion befasst habe – hätte ich gezögert, mich selbst als behindert zu bezeichnen, doch nun halte ich es mit den Aktivist*innen und Selbstvertreter*innen, die den progressiven Inklusionsgedanken vertreten und dafür plädieren, Menschen mit Behinderungen auch als solche zu benennen.
Zuversicht
Selbstvertreter*innen und Behindertenaktivist*innen sind es auch, die dafür sorgen, dass das Thema Inklusion auf der politischen Tagesordnung nicht vergessen geht. Nächsten Freitag, am 24. März 23, findet in Bern die erste Behindertensession statt. Menschen mit Behinderungen diskutieren zu diesem Anlass eine Resolution zum Thema politische Teilhabe und politische Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz.
Vor zwei Monaten haben zudem die beiden Dachverbände der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap und Agile.ch die Lancierung der Inklusionsinitiative beschlossen. Die Initiative fordert, dass die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Bundesverfassung verankert wird.
Solche Bestrebungen stimmen mich zuversichtlich. Für mich ist aber klar, dass eine gleichberechtigte Teilhabe für uns Menschen mit Behinderungen nur Realität werden kann, wenn wir eine Mehrheit finden, die sich für Inklusion stark macht.
Wir brauchen Verbündete, sogenannte Allies: Nichtbehinderte Menschen, die sich wehren, wenn sie Diskriminierung miterleben, die ihre Vorurteile – bewusste oder unbewusste – überdenken und die sich mit uns solange für Inklusion einsetzen, bis sie zur Selbstverständlichkeit wird.
Du bist gefragt: Welche Themen in Bezug auf Inklusion interessieren dich? Hast du Anregungen oder Kritik? Schreib mir an [email protected].