«Plötzlich kam die Erkenntnis: Es gibt diese Frauen!»
Corinne Rufli ist Historikerin an der Universität Bern. Für ihre Forschung zur Schweizer Lesbengeschichte führt sie Interviews mit Frauen über achtzig. Nun werden die Geschichten auf der Bühne erzählt.
Sie haben für Ihre Lizentiatsarbeit frauenliebende Frauen im Alter interviewt. Später ist daraus das Buch «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert» entstanden, das ein grosser Erfolg war. Und jetzt schreiben Sie Ihre Doktorarbeit dazu. Wie kamen Sie auf dieses Forschungsthema?
Corinne Rufli: Ich interessiere mich für die Lesbengeschichte der Schweiz, weil es einerseits auch um meine Geschichte geht, und es andererseits noch viel zu wenig Forschung dazu gibt.
Warum interviewen Sie dafür spezifisch Frauen über achtzig?
Sie sind eine «unsichtbare» Generation von lesbischen Frauen. In den 1930er Jahren gab es in der Schweiz ein leises öffentliches Aufbegehren von Artgenossinnen, wie sich ein Teil der homosexuellen Frauen damals nannte. Der Zweite Weltkrieg und die Bedrohung durch den Nationalsozialismus drängte viele Frauen in Ehen, auf jeden Fall wollten sie nicht auffallen. Das bürgerliche Ideal der Kernfamilie in der Nachkriegszeit tat das übrige, um die Frauen unsichtbar zu machen. In dieser Zeit sind meine Gesprächspartnerinnen gross geworden. Erst in den 1970ern, mit der zweiten Frauenbewegung, traten lesbische Frauen wieder in die Öffentlichkeit. Hinzu kommt die Dringlichkeit meiner Forschung: Die meisten Frauen sind weit über 80, wir müssen jetzt mit ihnen sprechen, sonst ist es zu spät.
Was haben Sie aus diesen Interviews gelernt?
Die Frauen leben ausserhalb unserer Ideen des Lesbischseins und ausserhalb heteronormativer Ideen des Frauseins. Sie durchbrechen unsere Sicht auf Familie, auf die 1950er-Jahre, auf alte Frauen. Sie sind für mich zu neuen Vorbildern geworden.
Warum genau?
Einerseits eröffnen sie mir einen Blick in die Vergangenheit: Was bedeutet es für meine Geschichte, wie lesbische Frauen früher ihre Leben organisiert haben und dass wir diese Generation heute nicht wahrnehmen? Und andererseits einen Blick in die Zukunft: Wie leben ältere lesbische Frauen heute? Bisher sind diese Themen kaum in der Öffentlichkeit angekommen. Dazu war es schön zu sehen, was es mit einigen der Frauen macht, plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen.
Was denn?
Ein Paar korrigiert heute genüsslich wildfremde Leute, wenn es wieder einmal gefragt wird, ob sie Schwestern seien. Zwei andere trauen sich vermehrt Hand in Hand zu spazieren.
Wie sind Sie überhaupt auf die Frauen gestossen, die Sie interviewt haben?
Ich habe in meinem grossen lesbischen Umfeld herumgefragt. Heute kommen auch viele auf mich zu. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich an eine Grosstante erinnern, die eine Freundin hatte, oder an die beiden ledigen Lehrerinnnen in der Nachbarschaft, über die gemunkelt wurde. Auf einmal kommt die Erkenntnis, dass es diese Frauen gibt und immer gegeben hat.
Gibt es Gemeinsamkeiten in den Geschichten, die die Frauen Ihnen erzählen?
Sie alle sind in einer Zeit aufgewachsen, in der unabhängige, unverheiratete Frauen nicht vorgesehen waren. Es herrschte das alte Eherecht, das Frauen rechtlich und ökonomisch von ihrem Ehemann abhängig machte. Keine Ehe einzugehen, bedeutete wiederum eine enorme ökonomische Unsicherheit ‒ und ein nicht zu unterschätzendes soziales Stigma. Ihre Leben waren in erster Linie davon geprägt, dass sie Frauen waren.
Und was bedeutete das für ihr Lesbischsein?
Es gab keine Vorbilder, keine Sichtbarkeit, keine Worte für ihr lesbisches Begehren. Einige konnten erst ab den 1990er Jahren darüber sprechen, als es endlich auch positive Bilder von lesbischen Frauen in der Öffentlichkeit und in den Medien gab. Viele Frauen lebten ihre Beziehungen im Geheimen. Manche neben der Ehe. Darüber wurde einfach nicht geredet, lesbische Liebe war ein Tabu. Auch Treffpunkte waren rar. Während sich schwule Männer in Bars treffen konnten, ziemte sich das für Frauen dieser Generation oft nicht, dazu fehlte das Geld und die Mobilität. Frauen trafen sich eher in privaten Räumen.
Es gibt aber sicher auch Unterschiede in ihren Biografien?
Ja und zwar sehr grosse. Einige Frauen wussten und sagten bereits als Jugendliche, dass sie Frauen lieben, andere erst mit sechzig. Einige erkämpften sich trotz gesellschaftlicher Widerstände ihren Platz, andere entschieden sich dazu, unauffällig zu bleiben. Die Tatsache, dass es unterschiedliche Frauen mit unterschiedlichen Leben waren, ist enorm wichtig. Manchmal neigt man dazu, nicht der Norm entsprechende Lebensweisen als einseitig zu begreifen; als gäbe es nur eine Art, wie eine lesbische Frau in der Schweiz der 1950er Jahre gelebt hat. Aber das stimmt nicht, es gibt eine wunderbare Diversität. Das soll auch in unserem Theater zum Ausdruck kommen.
Im Stück «Die Liebe in meinem Leben» hört das Publikum Ausschnitte aus drei Interviews, die Sie geführt haben.
Genau. Und gelesene Einträge aus einem Tagebuch, das uns als Nachlass zur Verfügung gestellt wurde. Die Geschichten der vier Frauen sind ganz unterschiedlich: Die Bernerin Ruth etwa erzählt, wie sie nach dem Tod ihres Ehemanns ihre grosse Liebe, eine Frau, kennengelernt hat. Die Zürcherin Christine sagt, wie sie sich als junge Mutter in eine verheiratete Frau verliebte. Die Zeichnerin Anja Sidler wird die Geschichten live auf der Bühne illustrieren. Sie webt einen Teppich aus den verschiedenen Leben.
Warum wollten Sie aus Ihrer Forschung ein Theater machen?
Die Berner Regisseurin Ruth Huber kam auf mich zu und meinte: «Man muss diese Stimmen hören, nicht nur lesen.» So kam es zur Zusammenarbeit. Im Theaterstück begegnet man den Leben dieser Frauen auf sinnliche Weise. Man hört, sieht und fühlt. Und natürlich wollen wir eine Sichtbarkeit schaffen, die es bisher kaum gibt.
Was könnte eine erhöhte Sichtbarkeit bewirken?
Für viele Frauen ist es auch heute noch schwierig, über ihre Gefühle für Frauen offen zu sprechen oder diese zu leben. In der Altersarbeit erhält das Thema Homosexualität bisher kaum Beachtung. Queerfreundliche Alterseinrichtungen können enorm wichtig für das Wohlbefinden älterer lesbischer Frauen sein. Ausserdem kann Sichtbarkeit helfen, unser Familienbild sowie unsere Bilder von Frauen und Männern zu hinterfragen. Und natürlich braucht es noch viel mehr Ressourcen für Forschung.
Wen soll das Theater ansprechen?
Uns alle. Diese Frauen haben ein ganzes Leben geführt, sie haben gekämpft, gelitten, geliebt. Jede*r Zuschauer*in wird sich in irgendeiner Weise in den Geschichten wiederfinden.
Das Stück «Die Liebe in meinem Leben» ist am 26./27./28. März im Schlachthaus Theater in Bern zu sehen. Das Hörstück dazu gibt es hier.
Corinne Rufli (*1979) forscht als Doktorandin in einem Nationalfonds-Projekt am IZFG der Universität Bern zur Lesbengeschichte der Schweiz mit Fokus 1945-1974. Sie führt seit über zehn Jahren Gespräche mit lesbischen Frauen im Alter. Aus ihrer Forschung entstand die Publikation «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert» (2015) mit Porträts von frauenliebenden Frauen über siebzig.
Die Historikerin engagiert sich für die Plattform zur Lesbengeschichte der Schweiz L-Wiki.ch, führt Lesbenspaziergänge durch Zürich, hält Vorträge und macht Lesungen im In- und Ausland. 2020 erschien das Buch «Vorbild und Vorurteil», in dem 28 lesbische Spitzensportlerinnen porträtiert werden.