«Die Opfer tragen kein Schild um den Hals»
Vor 10 Jahren hat Irene Hirzel in Bern die nationale Meldestelle gegen Menschenhandel gegründet. Nun geht sie in Pension.
Es gleicht einer Szene aus dem «Tatort»: Eine junge Schweizerin befreit in Basel eine junge Kolumbianerin aus der Zwangsprostitution. Sie bringt sie über die Grenze nach Deutschland, versteckt sie zuerst in einem Hotel, dann privat bei einem älteren Ehepaar und verschafft ihr schliesslich ein Flugticket, um nach Kolumbien zurückzukehren.
Das ist 27 Jahre her. «Es ist die Urgeschichte meines Tätigkeitsfelds», sagt Irene Hirzel. Sie war die junge Schweizerin, die damals für einen Verein Frauen in Bordellen besuchte und unterstützte.
Nun sitzt Irene Hirzel in einem Büro irgendwo in einem Berner Industriequartier. Wo genau, will sie zu ihrem Schutz und dem ihrer Mitarbeiterinnen nicht beschreiben. «Durch unsere Tipps an die Polizei kommen Verbrecher ins Gefängnis», sagt sie, «deshalb ist es besser, wenn unsere Adresse nicht bekannt wird».
Seit zehn Jahren ist Irene Hirzel Geschäftsführerin von Act 212, Beratungs- und Schulungszentrum gegen Menschenhandel und nationale Meldestelle gegen Menschenhandel und Ausbeutung. 2012 stellte die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) den ersten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel vor. Teil davon war die Schaffung einer nationalen Meldestelle, bei der sich Opfer und Zeug*innen von Menschenhandel auch anonym melden können.
2014 gründete Irene Hirzel den Verein Act 212 mit dem Ziel, eine solche Meldestelle aufzubauen und zu betreiben. Act 212 finanziert sich durch Fundraising und wird vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) und vom Staatssekretariat für Wirtschaft unterstützt.
Das eigentliche Problem
Ein wichtiges Arbeitsgerät bei Act 212 ist das Telefon. Klingelt es, sei oft jemand dran, der oder die etwas beobachtet hat, das auf Ausbeutung hindeutet, wie Irene Hirzel erzählt.
Vielleicht, weil die Person den Verdacht hat, in der Nachbarschaft werde ein Bordell betrieben. Oder weil sie auf einem Flug in die Schweiz beobachtet hat, wie ein Mitpassagier den Frauen, die ihn begleiteten, nach dem Einsteigen die Pässe weggenommen hat. Oder weil Nachbar*innen ein rumänisches oder philippinisches Kindermädchen quasi eingesperrt haben und viel zu lange arbeiten lassen.
«Opfer von Menschenhandel tragen kein Schild um den Hals», sagt Irene Hirzel. «Das eigentliche Problem ist: Auch wenn wir Opfer von Menschenhandel im Alltag antreffen, erkennen wir sie nicht als solche, wenn wir nicht wissen, worauf wir achten müssen.»
Damit mehr Opfer von Menschenhandel als solche erkannt werden, hat Act 212 es sich zur Aufgabe gemacht, über Menschenhandel zu informieren. Hirzel und ihre Mitarbeiterinnen schulen Pflegefachpersonen, Arbeitsinspektor*innen, Polizei und Staatsanwaltschaft in Opfererkennung, schreiben Berichte zuhanden der UNO und nehmen als Expertinnen an runden Tischen teil, an denen sich Fachpersonen aus Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Opferhilfestellen vernetzen. Aus der Stelle, die sich Irene Hirzel anfangs mit einer anderen Person teilte, ist ein Büro mit acht Mitarbeitenden geworden, alles Frauen.
Die hohe Dunkelziffer
Doch was ist Menschenhandel? Gemäss dem Fedpol wird von Menschenhandel gesprochen, wenn jemand durch Gewalt, Täuschung, Drohung oder Nötigung angeworben, vermittelt und ausgebeutet wird. Menschenhandel ist strafbar.
Weltweit waren im Jahr 2021 gemäss der International Labor Organization 50 Millionen Menschen Opfer von Menschenhandel. Dabei handelt es sich bei 28 Millionen um Opfer von Zwangsarbeit oder kommerzieller sexueller Ausbeutung, bei 22 Millionen um Opfer von Zwangsheirat.
Wie viele Personen in der Schweiz Opfer von Menschenhandel sind, sei nicht bekannt, schreibt das Fedpol, da sich Menschenhandel oft im Verborgenen abspiele. Die Plattform Traite, der Zusammenschluss der vier auf Menschenhandel spezialisierten Opferberatungsstellen, erfasste im letzten Jahr schweizweit 197 neue Fälle. Drei Viertel davon betreffen Frauen. Gut die Hälfte aller Betroffenen wurden in der Prostitution ausgebeutet, der Rest in Privathaushalten, in der Gastronomie, in Nagelstudios, im Baugewerbe, in der Bettelei oder aber die Opfer wurden gezwungen, illegale Handlungen wie Diebstahl zu begehen.
Act 212 erhielt letztes Jahr 113 Meldungen, in denen es um insgesamt 134 betroffene Personen ging. Meldet sich eine Person, die selber ausgebeutet wird, «hören wir erst mal lange zu», sagt Irene Hirzel. «Dann fragen wir, was brauchst du?»
Act 212 ist keine Opferberatungsstelle, sondern macht eine Erstberatung und leitet die betroffene Person je nach deren Bedürfnis an spezialisierte Opferberatungsstellen weiter, die Opfer längerfristig begleiten und betreuen. «Wenn wir den Eindruck haben, dass die Situation für die betroffene Person – meist ist es eine Frau – gefährlich ist, involvieren wir mit deren Einverständnis spezialisierte Polizeieinheiten, die die Betroffene zur nächsten Opferberberatungsstelle bringen.»
Nur selten komme es danach zu Verurteilungen, sagt Irene Hirzel. Die Dunkelziffer sei hoch: «Einerseits werden Opfer gar nicht erst erkannt und demzufolge niemand angeklagt und falls doch, haben Opfer oft Angst, gegen die Täter auszusagen.»
Der fehlende Auftrag
Als Irene Hirzel in Basel Ende der 90er-Jahre erstmals mit dem Thema in Kontakt kam, habe man noch nicht von Menschenhandel gesprochen, sagt sie. «Dass die Frauen ausgebeutet wurden, die wir besuchten, war kein Thema.» Die Polizei habe keinen Auftrag gehabt, irgendetwas gegen Menschenhandel zu unternehmen.
Sie aber habe damals «grössere Zusammenhänge erkannt». Ursprünglich in der Versicherungsbranche tätig, bildete Hirzel sich weiter, gab Deutschkurse für Migrantinnen aus dem Milieu und arbeitete mehrere Jahre als aufsuchende Gassenarbeiterin mit Prostituierten. Dabei sei ihr klar geworden, dass es nicht reiche, die Frauen an ihren Arbeitsplätzen zu besuchen. «An diesen Frauen wurden schwere Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen», sagt Irene Hirzel. «Ich war eine von denen, die sagten, in der Schweiz braucht es mehr Engagement gegen Menschenhandel.»
Anfang 2009 übernahm Irene Hirzel bei der Christlichen Ostmission eine Stelle als Projektleiterin gegen Frauen- und Kinderhandel in Asien und Osteuropa. Fast sechs Jahre lang war Hirzel immer wieder für mehrere Wochen in der Ukraine, Moldawien, Rumänien, Mazedonien und Nepal unterwegs.
In Moldawien half sie, Schutzhäuser und eine Mutter-Kind-Wohngemeinschaft für gehandelte Frauen aufzubauen. An der indisch-nepalesischen Grenze leitete sie ein Projekt, bei dem ehemals gehandelte Frauen darin ausgebildet wurden, in Zusammenarbeit mit der Grenzwache mutmassliche Opfer von Menschenhandel zu erkennen. Zum Projekt gehörte auch ein Schutzhaus, in dem die an der Grenze aufgegriffenen Frauen Hilfe erhielten.
Der treibende Faktor
Während ihrer Arbeit in Osteuropa und Asien hat Irene Hirzel gesehen, wie die Menschen vor Ort leben und welche Umstände sie dazu bringen, nach Westeuropa zu wollen. «Unter dem Strich war und ist bis heute Armut einer der treibenden Faktoren», sagt sie.
Was bewegt Hirzel dazu, sich seit Jahrzehnten für ausgebeutete Menschen einzusetzen? «Es ist die heilige Wut, die mich treibt, die Ungerechtigkeit, die ich gesehen habe. Die Frauen hatten fast niemanden, der ihnen geholfen hat.»
Fragen nach einer christlichen Motivation will Irene Hirzel nicht beantworten. «Act 212 ist religionsneutral», sagt sie. «Mein Fokus ist es, Lösungen zu finden für die riesige Problematik des Menschenhandels, und Lösungen sind weder über eine Religion noch über eine Ideologie zu erreichen, sondern durch Kooperation, national und international.»
An vorderster Front
«Durch ihre jahrelange Erfahrung im Kampf gegen den Menschenhandel ist Irene Hirzel bestens vernetzt», sagt Alexander Ott, der als Leiter der Berner Fremdenpolizei ebenfalls oft mit Menschenhandel konfrontiert ist. «Durch die Schulungen, welche Act 212 durchführt, hat Irene Hirzel die Möglichkeit, Missstände zu melden, breit und tief etabliert.» Dass Act 212 eine Nichtregierungsorganisation ist, sei wichtig, führt Ott weiter aus. «In den Ländern, aus denen potentielle Opfer von Menschenhandel stammen, ist das Vertrauen in Behörden oft klein.»
Was hat sich verändert, seit Irene Hirzel begonnen hat, sich gegen Menschenhandel zu engagieren? Die Aufmerksamkeit sei grösser geworden, sagt sie. In den letzten Jahren werde die Meldestelle vermehrt wegen Arbeitsausbeutung kontaktiert. Und es sei eine neue Form von Menschenhandel dazugekommen: Die sogenannte «Loverboy-Methode». Dabei täuschen Männer meist jungen Frauen oder Mädchen eine Liebesbeziehung vor, entfremden sie von ihrem sozialen Umfeld und zwingen sie anschliessend zur Prostitution.
«Durch das Internet und Social Media ist für Täter die Rekrutierung einfacher geworden», sagt Hirzel. Früher seien die Täter, beispielsweise in Osteuropa, in die Dörfer gegangen und hätten Frauen mit Jobangeboten gelockt. «Unser Team ist jetzt schon in den Startlöchern, um sich zu künstlicher Intelligenz schulen zu lassen. Es ist wichtig, bei diesem Thema an vorderster Front zu bleiben».
Irene Hirzel selbst zieht sich – zumindest fürs Erste – von der vordersten Front zurück. Anfang Dezember hat sie ihre Arbeit bei Act 212 an zwei jüngere Nachfolgerinnen übergeben. «Ich sehne mich schon nach etwas Ruhe», sagt sie. Doch sie habe schon Anfragen erhalten, ob sie sich nicht weiterhin im Kampf gegen Meschenhandel engagieren würde, auch wieder im Ausland.
Ob sie die Angebote annimmt, will sie noch nicht sagen. Doch: «Ich bin nicht eine, die einfach im Schaukelstuhl sitzen wird, da bin ich sehr überzeugt.»
Act 212 betreibt als nationale Meldestelle gegen Menschenhandel und Aubeutung eine Hotline und bietet ein Webformular, worüber Verdachtsfälle auch anonym gemeldet werden können. Zudem informiert Act 212 als Schulungs- und Beratungszentrum Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung Fachpersonen zum Thema Menschenhandel. In den Schulungen wird beispielsweise vermittelt, woran Opfer von Menschenhandel erkannt werden können. Der Name Act 212 wurde gewählt, weil am 2. Dezember 1949 an der UNO-Generalversammlung die Konvention zur Unterbindung von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung verabschiedet wurde.