«Irgendwie geht es dann schon»
Gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2004 sollte der öffentliche Verkehr bis 2023 barrierefrei sein. Die Realität sieht anders aus. Eine Reise mit dem Rollstuhlfahrer Cyrill Scheuber vom Bahnhof Bern zu seinem Arbeitsplatz.
Wer beim Bahnhof Bern mit dem Zug ankommt, kann via Rampe zur Eingangshalle oder nimmt die Rolltreppe zur Welle 7. Das, was eben schneller geht. Der 25-jährige Cyrill Scheuber muss sich anders orientieren. Er sitzt im Rollstuhl und pendelt seit vier Jahren von Nidwalden nach Bern zur Arbeit. Er ist bei Procap Bern in der Administration angestellt.
Scheubers Reise beginnt morgens um 6 Uhr. Er ist – sofern es keine Verspätung gibt – um 8.30 Uhr im Büro. Die «Hauptstadt» begleitet ihn auf seinem Weg vom Bahnhof zur Arbeit.
«Ich kann nur für mich als Rollstuhlfahrer sprechen», betont Cyrill Scheuber.
Während Rampen für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator essentiell sind, brauchen Menschen mit Sehbeeinträchtigung Leitlinien und taktil-visuelle Markierungen, um sich zurechtzufinden. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder gehörlose Personen sind auf Informationen in leichter Sprache oder in Gebärdensprache angewiesen.
Am Bahnhof
Wenn Cyrill Scheuber am Morgen in Bern ankommt, wartet bereits jemand vom Bahnhofpersonal auf dem Gleis. Er oder sie hilft ihm mit einer ausklappbaren Rampe oder einer Hebebühne beim Ausstieg. Je nachdem, was für ein Zug es ist. An diesem Tag kennt er den SBB-Angestellten beim Namen, grüsst ihn per Handschlag und wechselt erfreut ein paar Worte mit ihm.
Der Bahnhof Bern ist nicht barrierefrei. Er ist in einer starken Kurve gebaut, deshalb gibt es einen Abstand zwischen Perron und Zug. Ausserdem ist bei vielen Gleisen das Perron zu tief. Mit dem Projekt Zukunft Bahnhof Bern laufen derzeit bis Mitte 2029 grosse Bauarbeiten. Nicht nur moderner, auch barrierefreier soll der Bahnhof werden. Zwei Perrons wurden bereits erhöht. Nach heutiger Planung folgen bis 2026 die Perrons der Gleise 1 bis 8. Und von der neuen Unterführung soll es einen Lift auf jedes Perron geben. Doch die überaus starke Kurvenlage auf der Ostseite des Bahnhofs Bern verhindere eine vollständig barrierefreie Nutzung, schreibt Martin Meier, Mediensprecher der SBB.
Ist ein Bahnhof wie Bern nicht barrierefrei, muss sich Scheuber per Telefon beim SBB Contact Center Handicap bis spätestens eine Stunde im Voraus anmelden oder ein Online-Formular 24 Stunden vor Antritt der Reise abschicken. Da er jeden Tag pendelt, hat er einen Dauerauftrag eingerichtet. Spontane Zugreisen oder kurzfristige Änderungen wie den späteren Zug nach Hause nehmen, sind also nicht möglich.
Weitere nicht barrierefreie Bahnhöfe im Raum Bern sind Ostermundigen, Bümpliz Nord, Stöckacker, Europaplatz und Münsingen.
Oder Trubschachen im Emmental. Scheuber möchte ab und zu und vor allem spontan die Kambly-Fabrik besuchen. Doch der Bahnhof ist noch nicht barrierefrei. Er verdreht genervt die Augen, wenn er auf das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) angesprochen wird. Es ist seit 2004 in Kraft und verlangt, dass bis Ende 2023 alle öffentlichen Verkehrsmittel barrierefrei zugänglich sind.
Die Realität sieht anders aus: Bis Ende 2023 seien 434 von 764 nicht barrierefreie Bahnhöfe umgebaut und barrierefrei. Bei den restlichen 330 Bahnhöfen erfolge der Umbau erst nach 2023, schreibt Mediensprecher Meier. «Das Bundesamt für Verkehr und die Gemeinden sind informiert, mit den Behindertenverbänden ist die SBB im Austausch.»
Nur mit Motor
Pro Tag hilft das Bahnhofspersonal Bern durchschnittlich 43 Menschen mit Behinderung beim Ein- oder Ausstieg. Im Jahr 2022 waren es insgesamt 15’834 sogenannte Handlings.
«Wenn ich unterwegs bin, wissen vier Instanzen Bescheid, wo ich bin», sagt Scheuber. Das sei einerseits gut für seine Sicherheit, andererseits findet er es bezüglich Datenschutz bedenklich. «Bei Menschen ohne Beeinträchtigung weiss niemand Bescheid, dass und wo sie unterwegs sind.»
Nicht nur beim Ein- und Ausstieg gibt es Einschränkungen. Auch die Rampen zu den Perrons sind nicht optimal für Rollstuhlfahrende.
Der VSS ist die Normierungsorganisation im Strassen- und Verkehrswesen Schweiz. Gemäss deren Norm «Hindernisfreier Verkehrsraum» sollten Rampen eine Steigung von 6 Prozent nicht überschreiten, ausnahmsweise dürfen sie aber bis zu 12 Prozent betragen. Im Bahnhof Bern haben alle Rampen eine Steigung von 12 Prozent. Für Rollstuhlfahrende ist das sehr anstrengend. Deshalb hat Scheuber, wenn er mit dem ÖV unterwegs ist, immer sein Swiss-Trac - ein Zuggerät mit Elektromotor - an den Rollstuhl gekuppelt.
Tram 6: bis Cäcilienstrasse
Nach der Ankunft am Bahnhof fährt Cyrill Scheuber mit dem Lift hoch zum Baldachin und zu den Haltestellen von Bernmobil. Als das Tram 6 einfährt, hebt er die Hand. Der Tramführer erkennt ihn, gibt ein Zeichen und steigt kurz darauf aus, um die im Waggon eingebaute Rampe auszuklappen. Scheuber kann einfahren. «Bis wohin gehts?», fragt der Tramführer. «Cäcilienstrasse», sagt Scheuber. So weiss der Fahrer, wann er abermals die Rampe bereitlegen muss. Zur Sicherheit drückt Scheuer bei Ankündigung der Station den blauen Halteknopf mit dem Rollstuhl-Symbol.
«Für mich heisst barrierefrei: Ich möchte zu jeder Zeit, mit jedem Verkehrsmittel an jedem Ort sein können.» Es würde für Scheuber selbständiges Ein- und Aussteigen bedeuten, ohne dass jemand auf ihn wartet oder für ihn aussteigt, um eine Rampe auszuklappen oder ihn mit einem Rollstuhllift in den Zug befördert.
Auch Bernmobil und die Stadt Bern sind noch weit entfernt von der Auflage des BehiG. Erst 20 Prozent der insgesamt 417 Haltestellen in der Stadt Bern sind heute barrierefrei.
Der Grund für die Verzögerung sei die späte Publikation der VSS-Norm für hindernisfreien Verkehrsraum, schreibt die Berner Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auf Anfrage. Die Norm liegt seit 2014 vor. «Zudem können unter anderem auch aus Gründen der Netzverträglichkeit nicht zu viele Haltestellen gleichzeitig umgebaut werden», schreibt die Fachstelle weiter. Ziel sei es aber, den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass er von allen Menschen autonom genutzt werden kann. Von einem barrierefreien ÖV profitierten nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern auch Personen mit Rollator, Kinderwagen oder schwerem Gepäck.
Bus 10: Eigerplatz bis Bahnhof
Die Busfahrt zurück zum Bahnhof verläuft ähnlich wie mit dem Tram. Cyrill Scheuber gibt dem Fahrer ein Zeichen. Dieser steigt aus, klappt die Rampe auf, Scheuber fährt rein, Klappe zu. Auch hier fragt der Fahrer, bis wohin er fahren möchte. Auch hier gibt es einen blauen Stopknopf mit dem Rollstuhl Symbol. Eigentlich ganz einfach. Aber für Scheuber ist klar, auch hier möchte er selbständig Ein- und Aussteigen.
So oft wie Cyrill Scheuber nutzt kaum jemand aus seiner «Rollstuhl-Bubble» die öffentlichen Verkehrsmittel. «Die meisten haben Angst.» Er selbst liebt es, Zug zu fahren und so in Kontakt mit verschiedenen Menschen zu kommen.
Das Pendeln klappe oft gut. «Aber mit Verspätungen muss man immer rechnen», sagt Scheuber. Diese können aufgrund von Zugproblemen entstehen, aber auch, wenn niemand am Zielbahnhof auf ihn wartet: «Einmal fuhr ich bis nach Neuchâtel, weil mich in Biel niemand abgeholt hat.» Es brauche Vertrauen in die SBB, dass man an den richtigen Ort komme.
Die Thematik der Barrierefreiheit im ÖV ist Scheuber sehr wichtig. Am vergangenen Freitag nahm er an der ersten Schweizer Behindertensession teil. Wenn es um ihn selbst geht, wirkt er sehr gelassen, was seine Erfahrungen mit Zug und Bus angeht. Er lässt geplante Reisen einfach auf sich zukommen. «Irgendwie geht es dann schon», sagt er und schmunzelt.
Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, dass der Bahnhof Bern aufgrund der Schieflage der Züge nicht barrierefrei ist. Das stimmt so nicht. Das Problem liegt zwar an der starken Kurve in der der Bahnhof gebaut wurde, jedoch nicht an der Schieflage der Züge sondern an den engen Kurvenradien, die zu grossen Abständen zwischen Perrons und Zügen führen. Die Stelle wurde dementsprechend angepasst.
Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion.
Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.