Eingebettete Nahoststudien
Nach der Auflösung des Nahost-Instituts legt die Universität Bern die Islamwissenschaft mit Sozialanthropologie und Religionswissenschaft zusammen. Das forschende Personal bleibt das gleiche.
Von einem Tag auf den anderen geriet die Universität Bern letzten Herbst in einen gewaltigen Shitstorm. Wenige Tage nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel setzte ein Arabischdozent des damaligen «Instituts für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften» zwei begeisterte Tweets ab. Es stellte sich heraus, dass er mit Instituts-Co-Leiterin Serena Tolino liiert ist.
Es hagelte Kritik und Antisemitismus-Vorwürfe. Der postkoloniale Forschungsansatz des Instituts wurde als zu aktivistisch in Frage gestellt. Die Universität entliess den Dozenten, mahnte Serena Tolino ab – und entschied nach einer externen Untersuchung im Februar 2024, das Institut aufzulösen. Die Islamwissenschaft jedoch sollte nicht aufgegeben werden, sondern neu ausgerichtet.
Am Donnerstag präsentierte die Uni-Leitung, angeführt von Rektorin Virginia Richter, einen umfangreichen «Strukturbericht». Er zeigt auf, wie die Neuausrichtung gedacht ist. Wichtigster Punkt: Das Fach «Mittlerer Osten und muslimische Gesellschaften», wie die Islamwissenschaft neu heisst, wird mit den Fachrichtungen Sozialanthropologie und Religionswissenschaften im neuen Departement namens «Sozialanthropologie und Kulturwissenschaftliche Studien» zusammengeführt.
Sozialanthropolog*innen befassen sich – verkürzt gesagt – mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben im weitesten Sinn. Berner Forscher*innen dieser Fachrichtung sind etwa mit Migrationsfragen, Klimaaktivismus, dem globalen Kapitalismus oder Digitalisierung beschäftigt, aber auch mit gemeinschaftlichen Organisationen wie Alpgenossenschaften oder Burgergemeinden. Wer in Bern Sozialanthroplogie studiert, muss eine aussereuropäische Sprache lernen. So gesehen passt der Bereich Nahost-Studien, wo Türkisch, Persisch und Arabisch gelehrt wird, in das breiter aufgestellte Departement – ein Organisationsprinzip übrigens, das die Universität auch in anderen Fachbereichen anstrebt.
«Wissenschaftliche Exzellenz»
Eine andere Frage ist, ob die Neuorganisation die Defizite beseitigt, die dem islamwissenschaftlichen Forschungsbereich in der externen Untersuchung vom Februar vorgeworfen wurden. Im Bericht war bemängelt worden, dass die Co-Leiterinnen des damaligen Instituts, die Professorinnen Serena Tolino und Nijmi Edres, inhaltlich zu ähnlich ausgerichtet seien. Dadurch seien Abhängigkeiten und Interessenkonflikte entstanden, und eine Gruppe von Studierenden ortete «ideologische Intoleranzen».
Das hat definitiv keine weiteren personellen Konsequenzen: Im neuen Departement werden Edres und Tolino Lehre und Forschung wie bisher weiterführen. Für harte Massnahmen – etwa, die Professorinnen zu entlassen – habe es «weder Anlass noch eine rechtliche Grundlage gegeben», bestätigte Uni-Generalsekretär Christoph Pappa.
Unbestritten ist, dass die Forschungsarbeit von Serena Tolino hohen Ansprüchen genügt – und der Universität Bern erhebliche Summen an Fördergeldern bringt. Der Schweizerische Nationalfonds, der Projekte von Tolino seit ihrem Stellenantritt 2020 mit aufsummiert über fünf Millionen Franken unterstützt, überprüfte ihre Arbeit nach der Schliessung des Nahost-Instituts, wie die «Hauptstadt» recherchierte. Das Resultat: Der SNF attestiert Tolino «wissenschaftliche Exzellenz und Unabhängigkeit». Die Forscherin beschäftigt sich auch mit kontroversen Themen in muslimischen Gesellschaften, zum Beispiel mit Genderfragen oder Homosexualität im Islam.
Nahost-Studien mit Judaistik
Tolino wurde in der Krise nach dem Hamas-Tweet von der Uni-Leitung nicht nur abgemahnt, sondern auch von Führungsaufgaben und Personalentscheiden entbunden. Nun sind sie und Kollegin Edres laut der Uni-Leitung wieder Professorinnen mit allen Rechten und Pflichten. Serena Tolino wird auch im Leitungsgremium des neuen Departements sitzen, umgeben von acht Kolleg*innen anderer Forschungsrichtungen.
Rektorin Virginia Richter und Peter Schneemann, Dekan der philosophisch-historischen Fakultät, erwarten, dass diese Einbettung des exponierten Forschungsbereich die Vielfalt fördert: «Die Fächer können sich methodisch ergänzen und herausfordern», hofft Schneemann.
Konkret betrifft das etwa den Blick der Berner Nahostforschung auf Israel. Neu wird die Kooperation mit dem Fach Judaistik verstärkt und institutionalisiert, indem Studierende Neuhebräisch als zweite Sprache belegen können. Zudem sollen Kurse zu modernem Judentum angeboten werden. Namentlich mit der Hebräisch-Option lege Bern damit einen schweizweit einzigartigen Schwerpunkt in den Nahoststudien, hält die Uni-Leitung fest.
Mehr öffentliche Präsenz
Interessant ist, dass der wegen unqualifizierten öffentlichen Äusserungen in Form von Tweets unter Druck geratene Forschungsbereich eine gewichtigere Rolle in der Öffentlichkeit spielen will. Islamwissenschaftliches Wissen sei derzeit besonders gefragt. Deshalb wollen die Berner Nahost-Wissenschaftler*innen sich gemäss dem Strukturbericht künftig «verstärkt in Diskurse einbringen und politische Debatten aus einer dezidiert wissenschaftlichen Perspektive» begleiten. Die Kommunikation soll aber professionalisiert werden, das Departement schafft dafür eigens eine neue Stelle für «Wissenschaft in der Öffentlichkeit».
Laut Rektorin Virginia Richter wird die auch menschlich herausfordernde Situation am früheren Nahost-Institut in einer nach wie vor laufenden, professionellen Mediation aufgearbeitet. Serena Tolino hatte der «Hauptstadt» schon früher mitgeteilt, dass sie die Neuausrichtung ihres Forschungsbereichs mitträgt und auch in Bern weiterarbeiten will. Die letzten Monate seien sehr schwierig gewesen, umso wichtiger seien Reflexion, Analyse und Austausch dazu, hielt sie fest. Forschung könne nur gedeihen, «wenn es Wertschätzung, Unterstützung und visionäre Offenheit gibt». Tolino sei zuversichtlich, wie sie festhält, «dass der Prozess der Neuausrichtung des Fachbereichs diese Voraussetzungen schaffen wird».