«Man kann am eigenen Unglück sterben»
Die Künstlerin Jackie Brutsche hat einen Film über ihre Mutter gemacht, die Suizid beging. «Las Toreras» könnte diese Woche den Schweizer Filmpreis bekommen.
«Einen festen Arbeitsplatz?», fragt Jackie Brutsche fast ein bisschen erstaunt. «Nein, den hab ich nicht.» Bei ihr ändere das ständig: Vorletzte Woche habe sie mit ihrer Band The Jackets im Bandraum neue Songs geschrieben, letzte Woche hatte sie mit ihrer anderen Band, The Sex Organs, an der Museumsnacht einen Auftritt. Dazwischen Vorführungen ihres Films «Las Toreras», anschliessend Frage und Antwort stehen, und – wie es sich für eine Künstlerin gehört – Eingaben schreiben für ein neues Projekt.
Nur an diesem Dienstagmorgen hat Jackie Brutsche Zeit. Aber wie! Sie sitzt entspannt im Coworking Space Effinger, trinkt eine hausgemachte Limonade aus einem riesigen Glas und ist im Gespräch ganz da. Jede Frage nimmt sie ernst, denkt darüber nach, antwortet klar und doch nicht oberflächlich.
Grazil zwischen den Genres
Die 46-jährige Brutsche ist gerade in aller Munde. Die Künstlerin, ursprünglich aus Zürich, aber schon lange in Bern verwurzelt, hat sich in der Kulturszene über die Jahre einen Namen gemacht: Als Musikerin, Performerin, Theatermacherin. Grazil bewegt sie sich zwischen den Genres. Spartendenken mag sie nicht. «Ich bin Künstlerin, weil ich eine eigene Perspektive habe, die passende Sparte ergibt sich aus dem Thema», sagt Brutsche.
Letztes Jahr hat sie ihren ersten langen Film veröffentlicht. Drei Preise hat sie dafür bisher erhalten. Dieses Wochenende könnte sie zusätzlich auch noch den Schweizer Filmpreis bekommen.
«Las Toreras» passt zu Brutsches Lebensmotto. Denn der Film lässt sich in keine Schublade zwängen. Er ist zwar als «bester Dokumentarfilm» nominiert, enthält aber viele fiktionale Teile. Er beleuchtet die Geschichte von Jackie Brutsches spanischer Mutter, die sich 1987 das Leben genommen hat. Jackie war damals zehn Jahre alt.
Der Film wird trotz der emotionalen Wucht seines Themas nie zu schwer. Genau und feinfühlig arbeitet Brutsche, die ursprünglich Film an der Zürcher Hochschule der Künste studiert hat, die Tragödie auf. Tagebucheinträge und Zeichnungen ihrer Mutter helfen ihr dabei und sind Teil des Werks. Ausserdem führte sie zahlreiche Interviews mit ihren Verwandten in der Schweiz und Spanien. Es sind ehrliche, berührende, auch entlarvende Gespräche.
Dazwischen lässt sie immer wieder Jack Torera auftreten. Es ist Brutsches Kunstfigur, die sie schon lange begleitet, eine Art weiblicher Zorro, eine Kämpferin mit schwarzen Sternaugen und viel Selbstbewusstsein. Eine Figur, die auch aus der tragischen Geschichte ihrer Mutter entsprungen ist, wie Jackie Brutsche sagt. Jack Torera packe das Schicksal und den Schmerz an den Hörnern und versuche ihn durch Kunst in etwas Positives zu verwandeln.
Der frühe Schicksalsschlag hat ihr Leben geprägt. «Durch meine Mutter lernte ich, dass man am eigenen Unglück sterben kann. Dadurch wusste ich instinktiv, dass ich im Leben tun muss, was zu mir passt.» Ihre Antwort: Kunst. «Ich wusste als Jugendliche zwar nicht, wie man Künstlerin wird, aber ich spürte, dass es meine Berufung ist», sagt Jackie Brutsche. Irgendwo zwischen besetzten Häusern und Kunsthochschule fand sie den Weg.
Ihre Mutter, obwohl abwesend, begleitete sie dabei. «Ich konnte lange aus dieser Verlustgeschichte schöpfen, ohne dass ich sie direkt thematisiert habe», sagt Brutsche. Vermutlich sogar unbewusst. So habe sie zum Beispiel immer wieder das Motiv «der träumenden Frau», wie sie Jackie Brutsche nennt, in ihren Geschichten aufgegriffen. «Jugendliche, die zum Beispiel um jeden Preis Popstar werden wollen, stimmen mich nachdenklich», sagt sie. «Sie sehnen sich nach grossen, unerreichbaren Zielen und wollen dem Hier und Jetzt entfliehen.»
Irgendwann war die Geschichte ihrer Mutter aber keine Inspirationsquelle mehr, sondern wurde mit den vielen offenen Fragen zur Belastung. «Ich hatte das Bedürfnis, Mutters unerschlossene Geschichte endlich verstehen und klären zu können.»
Plötzlich brach ein Damm
Durch den Film sei ihr das gelungen, sagt Jackie Brutsche. «Es ist essentiell, dass man weiss, woher man kommt.» Der Suizid ihrer Mutter war in der Familie dreissig Jahre lang ein Tabu. Erstaunlicherweise sei es dann aber gar kein Problem gewesen, die Familienangehörigen davon zu überzeugen, darüber vor der Kamera zu sprechen. Wie wenn plötzlich ein Damm gebrochen wäre.
Als Regisseurin und Familienmitglied sei es eine grosse Herausforderung und Verantwortung gewesen, die gegensätzlichen Aussagen und Perspektiven der Verwandten in eine richtige Balance zu bringen und jeder Person gerecht zu werden.
Die Botschaft, die ihr Film aussendet, ist ihr wichtig. «Ich wollte eine universelle Geschichte erzählen, die zum Nachdenken anregt.» Es sei ihr darum gegangen, ihren positiven Umgang mit einer schmerzlichen und tabuisierten Geschichte erlebbar zu machen. Jackie Brutsche guckt ernst. «Nach der Filmschule wusste ich, dass ich nicht mehrere Jahre an einem Film arbeiten will, nur um dann zu unterhalten. Aber bei diesem Stoff war es klar, dass nur ein Film diese Komplexität einfangen kann.»
Wenn ihr Film vor Publikum mit anschliessender Diskussionsrunde gezeigt wird, ist sie nach wie vor am liebsten während der ganzen Vorführung dabei. «Jedes Publikum hat eine eigene Stimmung.», sagt sie. Der Film löse bei Menschen tiefe Emotionen aus. «Durch den Film ergeben sich in kürzester Zeit tiefe Gespräche mit fremden Menschen, die Ähnliches erlebt haben», sagt Brutsche. Dieser Austausch sei neu und bereichernd für sie.
Dadurch merkte sie auch: Eine Recherche zu den eigenen verdrängten Themen in der Biografie ist heilsam. Es müsse ja nicht unbedingt ein Film daraus entstehen. Vielleicht reiche es, ein Bild der entsprechenden Person aufzuhängen, um sie so in die Gegenwart zu holen.
Zusammenarbeit mit einer Verstorbenen
Jackie Brutsches Methode, ihre Mutter filmisch in die Gegenwart zu holen, ist eine Zeichnung. Die Mutter hatte die komplexe psychische Krankheit, an der sie litt, als Dämon gezeichnet. Jackie Brutsche lässt diese gezeichnete Figur als Charakter im Film auftreten. «Es ist eine Zusammenarbeit mit meiner Mutter: Sie hat das Design gemacht und ich habe es umgesetzt», sagt Brutsche. Die Mutter hatte eigentlich selbst Künstlerin werden wollen. Mit diesem Wissen wirkt das Stilmittel umso schöner.
Nun ist Jackie Brutsche parat, neue Themen anzupacken. Aber ihre Kunstfigur Jack Torera werde es auch weiterhin geben. Vielleicht sogar in einem weiteren Film. Brutsche trägt schon lange die Idee dafür mit sich herum. Noch sei es zu früh, um mehr darüber zu verraten, sagt sie. Dann trinkt sie den Rest der Limonade mit einem entschiedenen Schluck aus.
«Las Toreras» kann auf folgenden Plattformen gestreamt werden: Filmingo, Cinefile, MyFilm. Die Verleihung des Schweizer Filmpreises ist am Freitag, 22. März, in Zürich.