Kapitalismus überwinden – Stadtrat-Brief #30
Sitzung vom 16. Mai 2024 – die Themen: Kapitalismus; Reitschule; Schule Weissenbühl; Antisemitismus; Fussball; Ratsmitglied der Woche: Bettina Jans-Troxler.
Am Donnerstagabend hat der Stadtrat den Kapitalismus in Bern abgeschafft. Zumindest auf dem Papier. Mit 30 Ja- zu 26 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen hat das Berner Stadtparlament einem Postulat der AL zugestimmt, das nichts Geringeres fordert als die Überwindung des Kapitalismus. Der Gemeinderat müsse prüfen, wie die Wirtschaft so weit demokratisiert werden kann, dass der Kapitalismus letztlich überwunden wird.
Er habe lange auf diesen Moment gewartet, eröffnete Raffael Joggi (AL) die Diskussion. Er wolle dem Rat die Angst vor dem Begriff nehmen. «Wir wollen nicht den Kommunismus ausrufen», sagte er. Der Vorschlag sei konstruktiv und nicht revolutionär. Der Kapitalismus sei inhärent ungerecht, nicht nachhaltig und funktioniere ohne staatliche Einschränkungen nicht. Deshalb müsse er früher oder später zwingend überwunden werden.
«Wir müssen uns ab heute Gedanken machen, wie wir aus dem Schlamassel rauskommen», sagte Joggi. Der Gemeinderat habe in seiner Antwort auf das Postulat bereits konstruktive Vorschläge gemacht. Das seien tatsächlich Massnahmen zur Überwindung des Kapitalismus. «Der Gemeinderat ist eingeladen, den Mut zu haben, sie auch so zu benennen.»
«Ich gebe zu», polterte Alexander Feuz (SVP) ins Mikrofon und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, «auch ich habe schon Vorstösse eingereicht, über die ich vielleicht besser nochmal eine Nacht geschlafen hätte.» Das hier sei nun aber wirklich kaum zu übertreffen. «Stellt euch bitte einmal vor: Dann haben wir in Bern den Kapitalismus abgeschafft, aber in Muri, Gümligen und Ostermundigen gibt es ihn noch?» Er empfahl den Postulant*innen, ein Buch zum Schweizer Staatsrecht zu lesen. Er habe sonst selbst noch eines zu Hause, wenn auch nicht mehr die neueste Auflage.
Es folgten Grundsatzdebatten. SP/Juso wollen den Kapitalismus ebenfalls überwinden und argumentieren mit dem Parteiprogramm. Das GB ebenso. Die GFL will den Kapitalismus beibehalten, allerdings eine sozial nachhaltige Marktwirtschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen einführen. Und Oliver Berger (FDP) sprach in Militäruniform von den Vorzügen des Manchesterkapitalismus und bezeichnete den Stadtrat als marxistischen Lesekreis, worauf ihm Ruth Altmann (parteilos, ehemals FDP) Antiquiertheit vorwarf. «Manchesterkapitalismus» sei ein Begriff aus dem vorletzten Jahrhundert.
Sibyl Eigenmann (Mitte) gab schliesslich mit einem pointierten Votum zur Sinnlosigkeit dieses Vorstosses die Spielverderberin in der launigen Diskussion. Sie verstehe, wenn die Leute aus dem Parlament austreten und lieber etwas Sinnvolles machen als «irgendetwas Abstruses in diesem Rat» zu diskutieren, sagte sie mit Bezug auf die hohe Fluktuation im Stadtrat.
Stapi Alec von Graffenried (GFL) sah die Annahme des Postulats bereits kommen und gab dem Parlament einen Ausblick darauf, was der Gemeinderat damit zu tun gedenke: «Die Stadtverwaltung wird eine wissenschaftliche Mitarbeiterin dazu verdonnern, eine Abhandlung zur Überwindung des Kapitalismus zu schreiben, was sie überfordern wird, weil wir kein Uni-Institut sind.» Der Gemeinderat werde sein Möglichstes geben, denn grundsätzlich sei er offen für Ideen für eine nachhaltige und soziale Stadt. «Aber mit dem Postulat könntet ihr uns verschonen.»
Verschont wurde niemand – der Bericht muss kommen.
Bettina Jans-Troxler sitzt seit 2013 für die EVP im Stadtrat. Sie ist Heilpädagogin, Theologin und Beraterin für natürliche Empfängnisregelung. Mit ihrer Familie wohnt sie im Stadtkloster Frieden.
Warum sind Sie im Stadtrat?
Weil ich gern unsere Stadt mitgestalte und Menschen in der Politik vertreten möchte, die nur wenig Gehör finden. Auch nach fast 12 Jahren ist es immer wieder spannend und lehrreich. Ich sehe es als ein Privileg, zum Wohl unserer Stadt beitragen zu dürfen. Allerdings ist es manchmal auch unangenehm, so in der Öffentlichkeit zu stehen, da manche Leute Politiker wenig respektvoll behandeln.
Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?
Für meine sachlichen Argumentationen und meine Bemühungen, Kompromisse und gemeinsame Lösungen zu suchen.
Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?
Ich habe vor Jahren zum Thema Schulinformatik die Frage gestellt, ob es in den Kindergärten wirklich bereits Tablets braucht, weil die Kinder so viel anderes zu lernen haben und bildschirmfreie Zeit guttut – und bin grandios gescheitert.
Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?
Ich konnte zum Beispiel mit einer Motion dazu beitragen, dass die Orchesterförderung neu aufgestellt wurde und jetzt über vier Jahre läuft. Das gibt den Orchestern mehr Planungssicherheit.
Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?
Viele Teile der Stadt gefallen mir sehr gut, aber immer wieder fasziniert mich die untere Altstadt mit dem imposanten Münster, den schönen Gassen und der einmaligen Atmosphäre. Ich verstehe, warum so viele Touristen Bern sehen wollen!
- Reitschule: Die erste Stunde der Ratssitzung nahm die Diskussion zu den Krawallen auf der Berner Schützenmatte vom 4. Mai in Beschlag. Unbekannte hatten die Polizei mit Steinen, Flaschen, Lasern und Feuerwerkskörpern angegriffen. Elf Einsatzkräfte wurden verletzt. Der Stadtrat hiess den Antrag der SVP auf Diskussion zum Ereignis gut, worauf alle Seiten ihre altbekannten Positionen darlegten und sich gleichzeitig über die endlosen Debatten rund um das Reizthema Reitschule enervierten. Angereichert wurden die Voten mit nostalgischen Anekdoten aus Dachstock oder Rössli (FDP-Stadträtin Florence Pärli etwa fühlte sich früher beim Tanzen zu Paul Kalkbrenner frei). Allseits geschätzt wurde die klare Haltung der Reitschule zu den Ausschreitungen: Sie distanzierte sich ausdrücklich von den gewaltsamen Vorfällen. Der Gemeinderat will denn auch an seinem Weg des Dialogs mit der Reitschule festhalten.
- Schule Weissenbühl: Der Rat hiess einen Baukredit über 78,6 Millionen Franken für den Neubau der Volksschule Weissenbühl einstimmig gut. Der südliche Teil des Goumoëns-Areals soll unbebaut bleiben. Der Stadtrat nahm auch eine Änderung des Zonenplans einstimmig an. Beide Vorlagen kommen voraussichtlich im September vors Volk.
- Antisemitismus: Viel zu diskutieren gab auch eine interfraktionelle Interpellation zu Antisemitismus an Berner Schulen. Parlamentarier*innen von SP bis SVP thematisierten darin antisemitische Vorfälle gegen jüdische Kinder an Berner Schulen seit dem 7. Oktober 2023 und wollten wissen, welche Massnahmen der Gemeinderat dagegen trifft. Es herrschte Einigkeit im Rat, dass Antisemitismus zu bekämpfen sei. Fuat Köçer (SP) etwa wies aber auch darauf hin, dass Rassismus im Allgemeinen angegangen werden müsse, auch antimuslimischer. Und Lukas Wegmüller (SP) warnte vor der Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs. Kritik an der israelischen Regierung müsse weiterhin möglich sein. Sozialdirektorin Franziska Teuscher (GB) appellierte an das gegenseitige Zuhören und Akzeptieren anderer Meinungen.
- Fussball: Der Stadtrat will Kollektivstrafen von Fans an Fussballspielen verbieten. Mit 37 Ja- zu 14 Nein-Stimmen und acht Enthaltungen nahm das Stadtparlament eine Motion von AL-Stadtrat David Böhner an. Der Vorstoss bezieht sich auf einen Vorfall im Januar, als im Wankdorfstadion bei einem Spiel von YB gegen GC der Fan-Sektor D geschlossen wurde, als Konsequenz von Krawallen einzelner YB-Fans in Zürich bei einem Fanmarsch. Solche Kollektivstrafen seien kontraproduktiv, sagte Paula Zysset (Juso). Tom Berger (FDP) war sich dahingehend zwar unsicher, feuerte aber (wie auch Motionär David Böhner) in seiner Rede die YB-«Gielä» an, die just in diesem Moment im Wankdorfstadion um den Meistertitel kämpften – was wohl auch die gelichteten Sitzreihen im Ratssaal erklärte.
PS: YB hat’s geschafft. Mit einem 3:1-Sieg gegen den FC St. Gallen sicherten sich die Berner am Donnerstagabend inoffiziell den Schweizermeister-Titel. Die Meisterfeier muss noch bis mindestens Pfingstmontag warten. Dann spielt YB gegen Servette. Holen die Berner in Genf einen Punkt mehr als der gleichzeitig spielende FC Lugano, ist die Meisterschaft offiziell.