Das rot-grüne Klimagipfelgespräch

Trotz rot-grüner Mehrheit harzt es in der Stadtberner Klimapolitik. Das habe auch mit Umweltdirektor Reto Nause (Mitte) zu tun, finden drei linke Stadträt*innen.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Bremsen sich die drei Parteien mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten aus? (Bild: Christine Strub)

Berns Rot-Grün-Mitte-Parteien (RGM) sind sich einig, dass die Stadt so rasch wie möglich ihre Emissionen senken muss. Klimaschutz und der rasche Ausbau von erneuerbaren Energien sind Kernelemente der RGM-Politik. Zum Beispiel haben die drei Parteien, gemeinsam mit anderen Akteur*innen, die Stadtklima-Initiative lanciert. Diese verlangt, dass die Stadt Flächen entsiegelt und begrünt.

Trotz Einigkeit in der Grundausrichtung setzen die Parteien in der praktischen Umsetzung der Klimapolitik auch unterschiedliche Akzente:

Das Grüne Bündnis (GB) will mit einer Initiative einen städtischen Klimafonds schaffen, die Grüne Freie Liste (GFL) setzt auf Kreislaufwirtschaft und die SP will unter anderem die grossen Liegenschaftsbesitzer*innen wie Banken, Pensionskassen und Versicherungen in die Pflicht nehmen.

Bremsen sich die Parteien mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten gegenseitig aus und blockieren damit Massnahmen, die Emissionen senken? Oder braucht es genau diese Vielfalt an Ideen, damit die Klimapolitik der Stadt Bern zu Resultaten kommt? Was kann die Stadt überhaupt ausrichten, wenn griffige Vorgaben auf kantonaler und nationaler Ebene fehlen?

Um diese Fragen zu klären, hat die «Hauptstadt» je eine*n Vertreter*in jeder Partei zu einem gemeinsamen Gespräch an einen runden Tisch geladen. Es diskutieren:

  • Jelena Filipovic, GB, Politologin und Geschäftsführerin GB 
  • Tanja Miljanović, GFL, Autorin
  • Chandru Somasundaram, SP, Historiker und Vizepräsident SP Stadt Bern

Die drei Gesprächspartner:innen sind Mitglieder des  Berner Stadtrats. Wie im Podcast «Im Hinterzimmer» der «Hauptstadt» zu hören ist, entspricht ein solches Mandat einem Teilzeitpensum von zirka 30 Prozent oder mehr – wovon aber nur ein kleiner Teil finanziell entschädigt wird. Auch im Gespräch mit Filipovic, Miljanović und Somasundaram wird klar: Die drei Milizpolitiker*innen und ihre Parteien arbeiten eng zusammen und wenden viel Zeit dafür auf, dass die Stadt Bern auch in einem erhitzten Klima lebenswert bleibt. Zum Beispiel hat Tanja Miljanović dieses Jahr eine zeit- und geldintensive Weiterbildung in Nachhaltigkeit am Kompetenzzentrum für Nachhaltige Entwicklung der Uni Bern abgeschlossen.

Bis 2035 soll der CO2-Ausstoss in der Stadt Bern eine Tonne pro Person betragen. Heute sind es 4,4 Tonnen. Sind die Massnahmen der rot-grünen Regierung zu wenig ambitioniert, damit Bern die selbst gesetzten Ziele erreicht?

Tanja Miljanović: Wir müssen unterscheiden zwischen den Massnahmen zur Anpassung an das veränderte Klima und den Massnahmen zur Absenkung der Emissionen. Bei den Anpassungsmassnahmen läuft viel, SP-Gemeinderätin Marieke Kruit macht einen guten Job. Der CO2-Bereich liegt bei der Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie (SUE), also bei Reto Nause, nicht bei RGM. Das ist Teil des Problems.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Tanja Miljanović von der GFL setzt auf die Kreislaufwirtschaft. (Bild: Christine Strub)

Chandru Somasundaram: Die Verwaltung denkt bei ihren Projekten Entsiegelungen und Schwammstadt-Elemente immer mit. Das ist wichtig, damit wir die Auswirkungen der Klimakrise abfedern können. Aber es muss vor allem darum gehen, CO2 einzusparen. Da sind wir noch nicht so weit, wie wir wollen. Das Hauptproblem ist mangelnder Klimaschutz auf nationaler und kantonaler Ebene. Das übergeordnete Recht schränkt den Spielraum der Stadt sogar ein. 2024 dürfen Sie in Bern immer noch eine neue Ölheizung einbauen und die Stadt kann nichts dagegen machen. Auch eine Solarpflicht kann die Stadt nicht einführen. Dabei liegen genau dort die grossen Hebel für wirksame Klimapolitik. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den verbleibenden Spielraum maximal auszureizen. So sollte die Stadt etwa Anreize und Sensibilisierung schaffen, damit Private klimafreundliche Investitionen tätigen.

Jelena Filipovic: Spannend, dass die SP von Anreizen spricht. Wir vom GB sind überzeugt, dass es in der Klimapolitik rascher vorangehen und die Stadt auch entsprechende Investitionen tätigen muss, dort wo sie eben einen Spielraum hat. Das heisst, es braucht einen sofortigen Heizungsersatz bei den stadteigenen Gebäuden und einen entsprechenden Ausbau von Solaranlagen. Und gerade wegen der Einschränkungen durch übergeordnetes Recht müssen wir mehr in die Beratung privater Hauseigentümer*innen investieren. Das ist übrigens eine der Massnahme innerhalb der Energie- und Klimastrategie. Für all das braucht es eine finanzpolitische Prioritätensetzung, und dafür haben wir die Klimagerechtigkeitsinitiative lanciert.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Jelena Filipovic vom GB will einen städtischen Klimafonds schaffen. (Bild: Christine Strub)

Tanja Miljanović: Über 80 Prozent der Menschen in der Stadt Bern wohnen zur Miete. Je nach Ausgestaltung der Anreize würden damit die Vermögenden unterstützt, die bereits genügend Geld haben, um Investitionen zu tätigen.

Chandru Somasundaram: Unter Anreizen verstehe ich eher eine Beratungsoffensive, denn der Klimaschutz ist eine gemeinsame Aufgabe. Dazu brauchen wir die Privaten. Es gibt immer noch zu viele Unternehmen und grosse Liegenschaftsbesitzer, die sich schlicht nicht für das Thema interessieren. Es braucht einen Schritt auf sie zu. Vor allem die grossen Immobilienbesitzer*innen sollten in die Pflicht genommen werden.

Tanja Miljanović: Wo wir wieder bei Reto Nause sind, in dessen Direktion das Energiedossier fällt. 2016 wurde eine Motion von unserem GFL-Stadtrat Lukas Gutzwiller für erheblich erklärt, die «Runde Tische für die Stadtberner Immobilienbesitzenden zur Förderung von energetischen Gebäudesanierungen» fordert. Nicht einmal das hat gefruchtet.

Jelena Filipovic: Es ist nicht von Vorteil, dass die SUE bei Reto Nause liegt. Aber wir RGM-Parteien dürfen sehr wohl selbstkritisch sein: Wir haben die Mehrheit in der Regierung und bei der Umsetzung der Massnahmen innerhalb der Energie- und Klimastrategie sind alle Direktionen gefragt.

Besser als in der Stadt Bern könnten die Voraussetzungen für eine ambitionierte Klimapolitik nicht sein: Eine linke Regierung, ein linkes Parlament und ein Klimareglement mit verbindlichen Absenkpfaden. Warum passiert trotzdem so wenig?

Chandru Somasundaram: In der Stadt Bern stimmten 2019 fast drei Viertel dem griffigeren kantonalen Energiegesetz zu. 2021 war die Zustimmung zum nationalen C02-Gesetz noch deutlicher. Aber beides scheiterte auf der übergeordneten Ebene. Das können wir als Stadt weder ausbügeln noch übersteuern. Würde die Stadt auf allen eigenen Immobilien PV-Anlagen montieren und die Ölheizungen ersetzen, könnte das die Privaten motivieren, das Gleiche zu tun. Ich wünsche mir hier mehr Nachdruck. Mein Eindruck ist: Bei den Anpassungsmassnahmen hat der Druck des Stadtrats zu einem Umdenken geführt. Bei Energiefragen haben wir noch Luft nach oben.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Chandru Somasundaram von der SP will Grossanleger*innen in die Pflicht nehmen. (Bild: Christine Strub)

Jelena Filipovic: Da gebe ich Chandru Recht. Es gibt noch Luft nach oben, denn es mangelt an Mut im Gemeinderat. Bei der Klimapolitik handelt es sich um langfristige Investitionen. Die Massnahmen müssen über Jahre geplant und über Jahrzehnte umgesetzt werden und die Resultate sind für die Bevölkerung nicht sofort sichtbar. Für viele Politiker*innen ist es attraktiver, Projekte umzusetzen, die sofort sichtbar sind. Doch Klimaschutz ist ein Generationenprojekt.

Sie alle haben einen direkten Draht zu den Mitgliedern des Gemeinderates. Warum halten Sie zumindest Ihre Parteivertreter*innen nicht dazu an, mutiger zu sein?

Tanja Miljanović: Wir arbeiten dran, aber es geht nur langsam voran. Ich habe mit Alec von Graffenried und Marieke Kruit etwa ein Jahr lang bei jeder Gelegenheit  darüber gesprochen, wie wichtig es ist, die Transformationswissenschaften in die städtische Klimakommission zu holen. Danach hat der Gemeinderat meine entsprechende Motion zur Annahme empfohlen.

Jelena Filipovic: Wir sind ständig im Austausch mit den Gemeinderät*innen, reden miteinander, diskutieren über geeignete Massnahmen und erinnern mahnend an die Ziele, die sich die Stadt gesetzt hat. Aber wir stehen als Parlamentarier*innen natürlich auch in der Pflicht, genau hinzuschauen und Druck zu machen. Da haben wir unterschiedliche Rollen.

Tanja Miljanović: Alle vier Jahre müssen die Gemeinderät*innen wiedergewählt werden. Sie müssen eine Politik machen, die nicht nur die Wähler*innen ihrer Partei anspricht. Wollen sie niemanden wütend machen, halten sie sich zurück. Das ist ein strukturelles Problem.

Werden Ihre Parteien nach den Wahlen im November versuchen, zum ersten Mal, seit es RGM gibt, die SUE mit einem RGM-Gemeinderatsmitglied zu besetzen?

Tanja Miljanović: Ich habe schon mehrfach gesagt: Wir RGM-Parteien müssen uns auch selbst an der Nase nehmen. Wir haben die Mehrheit in der Regierung. Wir könnten sagen, dass wir diese Direktion wollen. Aber das tun wir nicht, weil es auch die Sicherheit enthält. Niemand von uns will die Polizei haben.

Jelena Filipovic: Das würde ich so nicht unterschreiben, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass die Direktionsverteilung matchentscheidend ist. Es geht darum, dass der Gesamtgemeinderat seine Verantwortung wahrnimmt, jetzt in eine lebenswerte Zukunft für alle Berner*innen zu investieren

Tanja Miljanović: Doch, natürlich! Es würde Kritik aus den eigenen Reihen regnen. Das will niemand riskieren.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Tanja Miljanović hat kürzlich eine Weiterbildung in Nachhaltigkeit abgeschlossen. (Bild: Christine Strub)

Möglich wäre auch, das Amt für Umweltschutz einer anderen Direktion zuzuteilen.

Chandru Somasundaram: Die Frage ist doch, wie wir die Bevölkerung vor der Klimakrise am besten schützen und den klimagerechten Umbau der Stadt vorantreiben können. Es braucht eine Vision und einen Willen, diese umzusetzen. Ich spüre diese Energie von allen Beteiligten noch zu wenig. Dieses Ziel sollte dem gesamten Gemeinderat wichtig sein, denn der Klimaschutz ist die grösste Herausforderung unserer Generation.

Kommen wir nun zu den Lösungswegen, die Ihre Parteien vorschlagen. Das Grüne Bündnis hat kürzlich die Klimagerechtigkeitsinitiative lanciert. Damit soll ein städtischer Klimafonds geschaffen werden, mit dessen Geld die Klimamassnahmen finanziert werden sollen. Einzahlen in den Fonds sollen «Unter­nehmen, Gross­ver­brauch­er*innen, Reiche». Warum braucht es diese Initiative? Warum nehmen Sie nicht den schnelleren Weg über das Parlament?

Jelena Filipovic: Ich wünschte mir, wir müssten keine Initiative lancieren, weil es immer sehr viele personelle Ressourcen benötigt. Gleichzeitig ist eine Initiative aber auch immer eine Chance, um das Thema breit in der Bevölkerung zu diskutieren und die Bedürfnisse abzuholen. Wir vom GB haben uns über eineinhalb Jahre lang mit der Initiative auseinandergesetzt und uns gefragt, warum wir in der Stadt nicht rascher in der Klimapolitik vorwärtskommen. Und haben erkannt, dass gute Lösungsansätze vorhanden sind. Die Energie- und Klimastrategie sieht bereits Massnahmen vor, die zum Beispiel die energetischen Sanierungen vorantreiben, Beratungsangebote ausbauen und autofreie Quartiere umsetzen sollen. Was fehlt, ist die Finanzierung der entsprechenden Massnahmen.

Die SP und die GFL tragen die Initiative nicht mit. Warum nicht?

Chandru Somasundaram: Wir haben die Initiative in der Partei intensiv diskutiert, uns aber dagegen entschieden, weil wir uns auf die Mindestlohninitiative fokussieren und über den parlamentarischen Weg konkrete Massnahmen vorschlagen wollen. Persönlich finde ich es positiv, wenn mit der Initiative eine öffentliche Diskussion angestossen wird. Eine breite Diskussion hilft, die Bevölkerung und die Politik für die Dringlichkeit von Klimapolitik zu sensibilisieren.

Tanja Miljanović: Auch ich finde die Initiative wertvoll. In der GFL haben wir uns gefragt, ob wir diesen Weg sinnvoll finden. Wir haben dann erkannt: Nein, wir sehen einen besseren Weg. Diese parteiinternen Diskussionen sind aber erst durch eure Initiative in Gang gekommen. Und ich finde es gut, wenn sich die Bevölkerung äussern kann.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Jelena Filipovic: «Klimapolitik ist immer auch Sozialpolitik, denn die Folgen der Klimakrise treffen die Ärmsten am stärksten.» (Bild: Christine Strub)

Welchen Weg will die GFL gehen?

Tanja Miljanović: Wir wollen die Wirtschaft mitnehmen. Uns schweben verbindliche Vereinbarungen zwischen Stadt und Branchenverbänden vor, die regeln, wie sie gemeinsam eine funktionierende Kreislaufwirtschaft und Netto-Null erreichen wollen. Die Unternehmen sollen ihre betriebsinternen Massnahmen  selbst bestimmen, werden aber regelmässig evaluiert. Erreichen sie die vereinbarten Ziele nicht, müssen die getroffenen Massnahmen angepasst werden. Mit der Sauberkeitscharta existiert ein Beispiel einer Selbstverpflichtung, an das sich anknüpfen liesse. Und anders als das GB sind wir der Meinung, dass in der Stadt genügend Geld vorhanden ist. Man muss es nur an den richtigen Orten investieren.

Welche Priorität räumt die SP dem Klima ein? Auf der Website und im Jahresbericht der SP Stadt Bern sind Arbeitsgruppen zu Themen wie Bildung, Wirtschaft oder Sozialpolitik aufgeführt, aber keine zum Klima.

Chandru Somasundaram: Es gibt eine interne Arbeitsgruppe Klima und Umwelt, und auch in der Fraktion arbeiten wir intensiv an dem Thema. Eine soziale Klimapolitik gehört zum Kern der sozialdemokratischen Politik im 21. Jahrhundert, ganz klar.

Jelena Filipovic: Das klingt gut. (lacht) Wir als «rote Grüne» sehen das ähnlich, gehen aber weiter: Wenn man auf die ganze Welt schaut, ist Klimapolitik immer auch Sozialpolitik, denn die Folgen der Klimakrise treffen die Ärmsten am stärksten. Die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt muss ihre Verantwortung wahrnehmen, und wir Städte müssen vorangehen.

Chandru Somasundaram: Für uns ist klar: Klimaschutz ist die grösste Herausforderung unserer Zeit. Aber er muss sozialverträglich erfolgen. Wir wollen die Grossanleger*innen in die Pflicht nehmen: Banken, Versicherungen, Pensionskassen. Die grossen Schultern, die stark genug sind, sollen tragen. Sie sind auch die Hauptverursacher*innen der Klimakrise. Bei den sehr hohen Einkommen steigt der CO2-Ausstoss, bei der unteren Hälfte sinkt er. Diese Realität müssen wir wahrnehmen. Die Mehrheit der Menschen kann nicht mehr Abgaben stemmen, wenn gleichzeitig die Mieten und Krankenkassenprämien steigen.

Tanja Miljanović: Das meine ich ja auch, wenn ich von verpflichtenden Vereinbarungen mit der Wirtschaft spreche.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Das Solar-Potenzial sollte in der Stadt Bern viel stärker ausgeschöpft werden, findet Chandru Somasundaram. (Bild: Christine Strub)

Jelena Filipovic: Dass wir lediglich mit Vereinbarungen nicht wirklich weit kommen, zeigt ja etwa die Sauberkeitcharta gut. Die Grosskonzerne in der Stadt Bern müssen gezielt in die Pflicht genommen werden und somit bei der Finanzierung der Klimaschutzmassnahmen beitragen. Meinst du Grossanleger*innen auf städtischer Ebene?

Chandru Somasundaram: Ja, ich rede von der Stadt Bern. Es gibt eine Handvoll Grossanleger, welche den Grossteil der Liegenschaften besitzen. Uns fehlen Hebel für Pflichten, aber wir sollten es dennoch mit Dialog versuchen. Wir haben vorher schon über solche Runden Tische gesprochen. Das ist ein Weg. Auch das Potenzial von Solaranlagen müsste genutzt werden. Dieses ist in der Stadt Bern erst zu vier Prozent ausgeschöpft. Zu viele grosse und sonnenintensive Dächer sind noch unbestückt.

Tanja Miljanović: Da würde Reto Nause einschreiten. Im jüngsten EWB-Jahresbericht steht die Wirtschaftlichkeit vor der Nachhaltigkeit. Wie wollen sie da die Versorgung der Bevölkerung langfristig sichern? Versorgungssicherheit und Klimaschutz gehen gemeinsam einher. In diesem Punkt gehen wir weiter als die SP: Wir finden, bei neuen Siedlungen muss Umweltwärme vor Verbrennungsanlagen priorisiert werden. Sowohl Holz als auch Abfall verbrennen, ist nicht nachhaltig. Kein Wunder, erreichen wir die Ziele nicht.

Chandru Somasundaram: Selbstverständlich hat das Verbrennen von Fossilen keine Zukunft mehr. Aber das Verbrennen von Abfall mit gleichzeitiger Wärmegewinnung ist im Sinne der Kreislaufwirtschaft und der Energiewende.

Die GFL hat kürzlich eine Resolution zur Kreislaufwirtschaft beschlossen. Auch das Klimareglement schreibt vor, dass die Stadt darauf arbeiten soll. Wie würde die Stadt Bern in einer Kreislaufwirtschaft aussehen?

Tanja Miljanović: Bereits vor etwa sechs oder sieben Jahren hat das Amt für Umweltschutz einen Masterplan Kreislaufwirtschaft erarbeitet. Doch der ist leider in einer Schublade gelandet aus Kostengründen. Wir könnten also schon weiter sein. Trotzdem gibt es heute schon Beispiele. Das Schulhaus Weissenbühl etwa soll kreislauffähig und nach den Standards für Nachhaltiges Bauen Schweiz gebaut werden: Es besteht vor allem aus Holz, das Regenwasser wird für die Toilette verwendet, der Bau ist flexibel und kann an veränderte Bedürfnisse angepasst werden.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Ihre Ansätze ergänzen und bereichern sich gegenseitig, finden die drei Politiker*innen. (Bild: Christine Strub)

Und wie sieht Kreislaufwirtschaft aus für Menschen, die kein Haus bauen?

Tanja Miljanović: Man könnte kleine Ökosysteme aufbauen in den Quartieren. Jedes Quartier hat einen Markt, der regionale Produkte verkauft. Ich bringe gerne das Beispiel meines Käsehändlers: Er hat viel Geld investiert in Verpackungen aus Gras und Bienenwachs. Ein Supermarkt würde auf billiges Plastik setzen, da die persönliche Bindung an die Kund*innen fehlt. Weiter müsste das Recycling ausgebaut werden. Gut gefällt mir auch ein Laden in Holland, der Jeans verleiht statt verkauft. Aber Kreislaufwirtschaft beginnt bereits bei der Stadt- und Mobilitätsplanung.

Jelena Filipovic: Auch ich bin ein Fan von Kreislaufwirtschaft und bin der Meinung, dass eine funktionierende Kreislaufwirtschaft das Ziel sein muss. Nur leider ist «Kreislaufwirtschaft» lediglich ein Konzept und keine konkrete Massnahme. Um das Konzept der Kreislaufwirtschaft umzusetzen, braucht es die Finanzierung und damit die Umsetzung von entsprechenden Massnahmen – genau das fordern wir mit unserer Initiative. Die Stadt sollte die Rahmenbedingungen setzen, damit an vielen kleinen Stellen im Alltag der Kreislauf funktioniert. Weniger zu konsumieren finde ich aber super.

Tanja Miljanović: Kreislaufwirtschaft heisst aber nicht Verzicht per se, sondern eine andere, nachhaltigere Art von Konsum.

Jelena Filipovic: Doch, für mich gehört weniger Konsum auch dazu. Ohne unser übermässiges Konsumverhalten kritisch zu hinterfragen, werden wir nicht weit kommen.

Chandru Somasundaram: Bei Kreislaufwirtschaft denke ich auch an die Ernährung. Die Stadt sollte die Transformation der Landwirtschaft zu Klimaneutralität unterstützen und in ihren Betrieben regionales und saisonales Essen anbieten.

Jelena Filipovic: Genau dazu hat das GB einen Vorstoss gemacht. Die Stadt ist eben nicht nur Anbieterin und stellt den Service Public sicher, sondern selbst Akteurin mit Vorbildfunktion.

Tanja Miljanović: Ich will kein Mikromanagement. Wir müssen uns fragen, wie fest wir eingreifen wollen in die Entscheidungen der Mitmenschen. An einem Fest der Stadt braucht doch nicht jeder Fleischstand eine vegane Wurst anzubieten. Auch wenn ich vegane Angebote gut finde.

Jelena Filipovic: Zuhause können sich alle so ernähren, wie sie möchten. Aber als Stadt nimmt man eine Vorbildfunktion ein und setzt ein Zeichen. Beispielsweise hat die Stadt erkannt, dass Plastik schlecht für die Umwelt ist, und beschlossen, an öffentlichen Veranstaltungen auf Wegwerfplastik zu verzichten. Analog müssten wir sagen: Wir wollen grossmehrheitlich biologische, regionale, saisonale und vegetarische oder vegane Speisen verwenden und anbieten.

Tanja Miljanović: Wir müssen einfach aufpassen, dass wir mit solchen Massnahmen, die nur einen kleinen Impact haben, nicht die Bevölkerung verlieren. Damit wäre der ganze Klimakampf verloren.

Chandru Somasundaram: Das sehe ich auch so.

Tanja Miljanović: Ich sehe da eine Chance, dass die Stadt und der Branchenverband Gastro vereinbaren, dass sie gemeinsam Netto Null erreichen wollen.

Jelena Filipovic: Auch das GB sieht ein grosses Potenzial, mit der Gastrobranche zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grund haben wir auch den Vorstoss «Clima à la Carte» eingereicht, der gezielt auf die Unterstützung von Berner Gastronom*innen setzt und wichtige Anreize schafft.

Jelena Filipovic (Stadtraetin GB), Tanja Miljanovic (Stadtraetin GFL) und Chandru Somasundaram (Stadtrat SP) diskutieren ueber die Stadtberner Klimapolitik. Fotografiert im Restaurant Werkstatt fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Auch nach dem offiziellen Gespräch diskutieren die Politiker*innen weiter, spinnen Ideen für neue Vorstösse und Projekte. (Bild: Christine Strub)

Per 2025 tritt die neue Energie- und Klimastrategie (EKS) in Kraft. Erstmals lässt sich nachlesen, welche Massnahme wie viel kostet und wie stark dazu beiträgt, die Ziele des Klimareglements zu erreichen. Welche Wirkung wird diese Transparenz haben?

Jelena Filipovic: Damit können wir endlich eine ehrliche Diskussion führen, wo wir die Prioritäten setzen wollen. Lieber Parkplätze aufheben, Bäume pflanzen oder beides? Ich bin überzeugt, dass die  Aushandlungsprozesse über konkrete Massnahmen erleichtert werden, wenn die Massnahmen ein Preisschild tragen.

Tanja Miljanović: Selbst wenn wir wissen, wohin wir wollen, müssen wir die Bevölkerung mitnehmen. Das Wissen, wie das funktioniert, fehlt dem Gemeinderat. Es reicht nicht aus, wenn eine Verwaltungsmitarbeiterin einen Flyer gestaltet, es braucht Fachpersonen. Einige Schweizer Unis forschen zusammen mit Städten, mit welchen Kommunikationsmitteln die Bevölkerung motiviert wird, auf Solarenergie umzustellen. Diese Forschungsresultate könnte die Stadt berücksichtigen.

Jelena Filipovic: Genau das gefällt mir an der Politik von RGM: Tanja und Chandru denken an andere Aspekte als ich, aber wir haben das gleiche Ziel. Unsere Ansätze ergänzen und bereichern sich gegenseitig. Ich würde aber gerne noch etwas zur neuen Energie- und Klimastrategie sagen. Als ich 2021 in den Stadtrat kam, sprachen wir darüber, warum es Netto Null überhaupt braucht. Jetzt sprechen wir über konkrete Massnahmen, Absenkpfade und die Dekarbonisierung. Ja, die Mühlen der Politik mahlen langsam, das ist zum Teil zermürbend. Trotzdem geht was, und das macht mir Hoffnung.

***

Nach dem offiziellen Gespräch wird das Aufnahmegerät ausgeschaltet. Die Politiker*innen diskutieren weiter, spinnen Ideen für neue Vorstösse und Projekte. Nach einer ersten Verabschiedungsrunde im Lokal führen sie ihre Unterhaltung draussen vor der Tür weiter.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Diskussion

Unsere Etikette
Arpad Boa
12. Juni 2024 um 20:35

"Klimaschutz ist die grösste Herausforderung unserer Zeit" ?

Das bleibt am 13. Juni wohl eine Worthülse im Berner Stadtrat. Bei der Frage, wie durchschnittlich 24 Fahrgäste pro ÖV-Kurs aus dem Fischermätteliquartier befördert werden sollen, versagt bisher das ökologische Bewusstsein der StadträtInnen. "Weniger wäre mehr"? Unsexy. Es muss richtig teuer sein, "Komfort" konsumiert werden.

Statt einen E-Bus im Quartier fahren zu lassen, geht der Stadtrat, angeführt von der SP, der Baulobby auf den Leim und beschliesst den Neubau einer überflüssigen Tramlinie. Worst case fürs Klima.

Die sinnlose Überproduktion von ÖV braucht 7'500 Tonnen Stahlbeton für 1,1 km Doppelspurausbau, 2,5 Jahre Grossbaustelle mit Lärm, Staub, Abfall, Lastwagenverkehr. Am Ende eine Wendeschlaufe statt ein Haus mit Wohnraum für 20 Familien. Dazu eine amputierte Fischermättelikreuzung und wegen engstem Raum auf der Brunnmattstrasse abwärts eine gebaute Gefahrenquelle für Velofahrende. Nachhaltig handeln geht anders.

Ruedi Muggli
11. Juni 2024 um 09:39

Es ist schön, dass sich die Stadträtinnen überlegen, was die kleine Insel "Stadt Bern" tun könnte. Mit neuen Subventionstöpfen und zusätzlichen Regulierungen (zu den unzähligen bereits existierenden) kommen wir m.E. aber nicht wirklich weiter. Besser wäre wohl, wenn ewb gute Angebote machen könnte z.B. bei der Solarenergie. Heute scheinen aber die Kapazitäten dafür zu fehlen. Vor allem wenn zu den ZEV's jetzt gemäss neuem Stromgesetz noch die LEG (lokale Elektrizitätsgemeinschaften) hinzukommen. Investitionen in Solarenergie sind - Regulierungen hin oder her - erst dann wirtschaftlich, wenn ein Grossteil des Stroms selbst verbraucht wird.