(K)eine Strategie für die Betroffenen
Ausgerechnet die Berner Opferhilfestellen können mit der neuen kantonalen Opferhilfestrategie wenig anfangen. Welches sind die wunden Punkte? Marlies Haller von der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern erklärt.
Eigentlich unterstützte Marlies Haller, Geschäftsführerin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern den Ansatz, die Opferhilfelandschaft im Kanton Bern besser zu strukturieren. Das war zumindest die Idee hinter der Motion, mit der Grossrätin Vania Kohli (damals BDP) im November 2019 eine neue Strategie für die Opferhilfe verlangte.
Im November 2022 hat die Kantonsregierung nun die Opferhilfestrategie 2023 bis 2033 verabschiedet. Damit soll unter anderem die Struktur der Berner Opferhilfelandschaft verbessert, die Zusammenarbeit der einzelnen Organisationen optimiert und die Selbstwirksamkeit der Opfer gestärkt werden. Ausgerechnet die Opferhilfestellen, die diese neue Strategie praktisch umsetzen werden, sind nun aber überrascht und fühlen sich unverstanden.
Derzeit gibt es in Bern, Biel und im Berner Oberland Opferhilfe-Beratungsstellen für häusliche und sexualisierte Gewalt sowie an allen drei Orten ein anonymes Frauenhaus. Hinzu kommen weitere Anlaufstellen für andere Opferhilfedienstleistungen. Für die «Hauptstadt» erläutert Marlies Haller die wichtigsten Kritikpunkte der Opferhilfefachstellen an der Strategie des Kantons:
Fehlende Partizipation
Laut Marlies Haller hatten die Fachstellen in den vergangenen drei Jahren nur wenig Möglichkeiten, sich in die Ausarbeitung der Strategie einzubringen. Obschon der Kanton von einem partizipativen Prozess spricht, hätten sie vor allem Daten geliefert. Das fachliche Wissen wurde gemäss Marlies Haller nicht abgefragt und sei nun auch nicht ersichtlich in der finalen Strategie. Dass die Opferhilfestrategie in der Vision und Mission die Betroffenen sowie niederschwellige Angebote und qualitative Dienstleistungen ins Zentrum rückt, hätten die Opferhilfestellen begrüsst. Diesen Fokus erkennt Marlies Haller jedoch in den Massnahmen nicht.
Einseitige Zielgruppen-Orientierung
Grundsätzlich sei die Opferhilfe so aufgebaut, dass sie verschiedene Dienstleistungen im stationären und ambulanten Bereich unterschiedlichen Zielgruppen anbietet, sagt Marlies Haller. Von Opfern häuslicher Gewalt bis zu denjenigen eines Verkehrsunfalls. «Leider fokussiert die Opferhilfestrategie vor allem auf häusliche Gewalt und Migration. Und das entspricht nicht dem Opferhilfegesetz», kritisiert Marlies Haller.
Das Problem der Kostenneutralität
Die neue Opferhilfestrategie verlangt Kostenneutralität. Zusätzliche Ausgaben im Bereich der Opferhilfe sollen vermieden werden. Das heisst: Alle neu entstehenden Ausgaben erfordern eine Kostensenkung an einem anderen Ort. Laut Marlies Haller ein grundsätzliches Problem: Die Opferhilfestellen im Kanton Bern verzeichnen seit Jahren eine steigende Zahl der Anfragen. Das Personal sei überlastet. Die Wartezeiten in Beratungsstellen würden länger, Frauenhäuser seien überfüllt und müssten teilweise Betroffene in Hotelzimmern unterbringen. So erklärt es Marlies Haller und fügt an: «Wir denken, dass man grundsätzlich mehr Geld in die Hand nehmen muss für die Opferhilfe im Kanton Bern. Unabhängig von dieser Opferhilfestrategie. Das wäre eigentlich schon seit längerer Zeit notwendig.»
Limitierendes Kostendach
Die Finanzierung der drei Opferhilfestellen im Kanton Bern im Bereich häuslicher und sexualisierter Gewalt sieht aktuell so aus: Alle verfügen über einen Leistungsvertrag mit dem Kanton. Dieser garantiert allen Stellen einen Sockelbetrag plus abrechenbare Tarife pro Leistungskategorie. Limitiert wird die Finanzierung durch ein Kostendach. «Es ist so, dass wir seit Jahren aufgrund des Anstiegs der Beratungen über diesem Kostendach sind. Das bedeutet, wenn wir irgendwo mal einen kleinen Gewinn machen, fliesst dieser zurück. Das Defizit übernehmen wir selber, und was über dem Kostendach geleistet wird, wird nicht entschädigt», erklärt Marlies Haller. Aktuell würden gemäss Istanbul Konvention und Opferhilfegesetz ein Mädchenhaus und eine Hotline fehlen. «Also fragen wir uns, wie soll das kostenneutral funktionieren?», sagt Haller. Man werde der steigenden Entwicklung mit der gleichbleibenden Finanzierung nicht gerecht.
Die Istanbulkonvention beschreibt das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Sie ist am 1. April 2018 in der Schweiz in Kraft getreten und im Juni 2022 hat der Bundesrat den nationalen Aktionsplan 2022 - 2026 zur Umsetzung der Istanbulkonvention verabschiedet.
Fehlendes Mädchenhaus
Obwohl die Frauenhäuser im Kanton Bern überlastet sind und die Erfahrungen eines Pilotprojekts in Biel und eine kantonale Bedarfsabklärungen ergaben, dass ein permanentes Mädchenhaus notwendig wäre, sollen gemäss der Opferhilfestrategie nur vier Plätze in bestehenden Frauenhäusern und Jugendinstitutionen geschaffen werden. Im Oktober berichtete die Hauptstadt über das fehlende Mädchenhaus. «Grundsätzlich ist es so, dass unsere Häuser voll sind. Entweder muss man zusätzliche Plätze schaffen für diese Mädchen, was kostenneutral nicht geht, oder dann geht es auf Kosten der Frauen», sagt Marlies Haller. Dann hätten die Mädchen zwar Platz, die Struktur und Betreuung, die Mädchen und junge Frauen brauchen würden, fehlt jedoch.
Fokus auf Migration
«Die Idee, dass häusliche Gewalt nur Migrantinnen betrifft, stimmt nicht. Die Frage ist, wo sie sichtbar ist und wo nicht.» Marlies Haller erklärt dies so, dass Schweizer*innen sich oft Unterstützung in ihrem eigenen sozialen Umkreis suchen. Frauen mit Migrationshintergrund haben dies oftmals nicht und suchen deshalb vermehrt in Frauenhäusern Schutz. Dieser Schein trüge jedoch, denn von den Personen, die eine Beratung besuchen, sind, gemäss der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern, drei Viertel Schweizerinnen.
Lückenhafter Datenschutz
Grundsätzlich ist der Datenschutz der Opferhilfe in der Schweiz sehr wichtig und gut ausgebaut. Es geht dabei darum, alle Opfer zu schützen, so wie auch die Mitarbeiterinnen, die in der Opferhilfe arbeiten. Gemäss Marlies Haller möchte die Opferhilfestrategie eine gemeinsame Datenplattform schaffen, damit diverse Institutionen des Sozialwesens Zugriff auf die gleichen Daten haben. «Je mehr Menschen Zugriff auf die Daten haben, desto grösser ist die Möglichkeit, dass vertrauliche Daten in falsche Hände geraten», erklärt Marlies Haller. Wie die konkrete Umsetzung der Datenschutz-Änderung aussehen wird, sei jedoch noch unklar. In der Opferhilfestrategie ist die Rede von einem «Single Point of Contact», also eine zentrale Anlaufstelle für ein bestimmtes Thema oder Problem.
Offene Zukunft
Marlies Haller hat eine klare Vorstellung, was passieren würde, wenn die kantonale Opferhilfestrategie in der vorliegenden Form umgesetzt würde: längere Wartezeiten für Betroffene, mehr Frauen in Hotels statt in betreuten Frauenhäusern, die Hotline AppElle! stünde auf der Kippe, und das Mädchenhaus würde es nicht geben. Wie die Strategie am Ende aber umgesetzt wird, steht noch offen. Die Opferhilfestellen hoffen, dass sie für die konkrete Umsetzung doch noch einbezogen werden. Ausserdem versuchen sie laut Haller weiterhin, politisch und medial auf die Opferhilfestrategie, die in der Frühlingssession dem Grossen Rat zur Kenntnis gebracht wird, Einfluss zu nehmen. Und sie arbeiten stärker zusammen, um die bestmögliche Struktur für die Betroffenen auszuarbeiten, denn auch Marlies Haller sagt: «Ich denke, man kann Strukturen verbessern und besser auslegen im Sinne der Betroffenen.» Aber es sei auch wichtig, dass die Menge der Leistungen dem steigenden Bedarf entspreche und die Qualität der Dienstleistungen erhalten bleibe. «Wenn die Strategie jetzt eins zu eins umgesetzt würde, gibt es einen Leistungs- und Qualitätsabbau für die Betroffenen. Und das ist im Sinne von niemandem», glaubt Haller.