Brutal banal

Mit «It depends» zeigt das Theaterkollektiv Weltalm ein kluges und lustiges Jugendstück über Abhängigkeit. Aufgeführt inmitten einer schwebenden Rauminstallation im Kulturraum Prozess im Holligen-Quartier.

Illustration Kulturkritik
(Bild: Jörg Kühni)

Wenn du Barbapapa magst, wirst du dieses Theaterstück, eine Koproduktion mit dem Schlachthaus Theater und im Kulturraum Prozess aufgeführt, mögen. Vorstellungskraft und Verwandlungskunst nehmen darin so wahnwitzig viel Raum ein, dass eine Styroporplatte die tragende Rolle übernimmt. Aber der Reihe nach. 

Raumexperiment trifft Sozialforschung

Das Thema Abhängigkeit wird in der neuesten Produktion des Berner Kollektivs Weltalm vor allem bildnerisch verarbeitet. Eigens für den Kulturraum Prozess hat die Künstlerin Sibylla Walpen, bei Weltalm seit Jahren für das Bühnenbild engagiert, ein filigranes, schwebendes Geflecht von Neonröhren, leuchtgelben Spannsets und – last but not least – Schaumstoffplatten konstruiert. 

Ausgehend von dieser Rauminstallation haben die Regie (Carol Blanc), Dramaturgie (Urs Bräm) und künstlerische Leitung (Doro Müggler) ein Stück entwickelt. Der Inhalt basiert auf sechzig anonymen Einzelinterviews mit Schüler*innen der Wirtschaftsmittelschule Bern und Gymnasiast*innen zum Thema Abhängigkeit. 

Abhängigkeit manifestiere sich vor allem in der Adoleszenz sehr ausgeprägt, erklärt die Regisseurin Carol Blanc. Die jungen interviewten Menschen hätten über ihre persönlichen Erfahrungen und Gedanken sehr offen erzählt. Daraus hat die Regie gemeinsam mit einem Schauspielcast aus dem Umfeld der Stadtberner Jugendtheaterszene einen kurzweiligen Plot in Schweizer Dialekt erarbeitet.

Drang nach Unabhängigkeit

Die Handlung ist schlicht: Während Ale um seine Lehrstelle bangt, will Céline die Schule abbrechen und Leonie wünscht sich dazuzugehören. Gleichzeitig stehen sie noch mit einem Bein in der Welt ihrer Eltern, die sich um Spardruck, Verantwortung, Selbstverwirklichung oder Überlebenskampf dreht.

it depends 1
Verwandeln sich auch mal in das Bühnenmobiliar: Hier die Schauspielenden Mia Engel, Corinne Kneubühler, Cristian Pennata, Doro Müggler (v.l.n.r.). (Bild: Sibylla Walpen / zvg)

Es wird klar, dass all ihre Leben zusammenhängen, auch wenn die Suche nach Unabhängigkeit für alle die Triebfeder ihrer Handlungen ist. In diesem Setting schafft das Stück ein Spannungsfeld zwischen Sehnsucht, Liebe und Abgrenzung.

Polymorph wie die Barbapapas

Das Stück erinnert an eine Versuchsanordnung. Fast ein wenig schematisch verfügt jede Figur über eine bestimmte Charaktereigenschaft. Das ist der erste Grund, weshalb der Rezensentin die Barbapapas in den Sinn kommen.

Wir stellen vor:

  • Ale, der Selbstständige. Ein junger Secondo-Lehrling mit viel zu viel Verantwortung für alles (Cristian Pennata).
  • Tanja, die Fleissige. Eine alleinerziehende Angestellte bei knapper Kasse (Doro Müggler).
  • Leonie, die Hilfsbereite. Die ihrem alleinerziehenden Mami enorm wichtig ist, aber ab und zu auch ihre Ruhe braucht (Mia Engel).
  • Philipp, der Realist («Es isch normal, dass es aschisst, ds Läbe»). Von Sparmassnahmen getriebener Geschäftsführer und Familienvater (Luzius Engel).
  • Lilo, die Selbstverwirklicherin. Umweltengagierte Ameisenforscherin und Fernbeziehungsmama (Doro Müggler).
  • Céline,  die Unangepasste. Eine Unternehmertochter, die nicht akzeptiert, dass das Leben «so aschisst», wie Papa sagt (Corinne Kneubühler). 

Der zweite und augenfällige Grund, weshalb es an ein Barbapapa-Universum erinnert: Die Darsteller*innen sind fluide Wesen. Sie greifen zu den Styroporplatten und verwandeln sich mittels sanfter Gymnastik von den Figuren in das Bühnenmobiliar. Von der Küchenbar, über die Computerkonsole bis zum Sofa – Mensch und Mobiliar sind wandelbar und genau das ist an diesem Stück so wunderbar. Styropor alias «Jackodur Feintoleranz», die Marke ist tatsächlich so abzulesen, nimmt eine schwebend leichte und gleichzeitig stücktragende Rolle ein. 

Brutal und banal

Mit Witz und Schwung nimmt die Inszenierung Banalitäten des Alltags aufs Korn, die uns triggern und steuern. Richtig weh tut die nervtötend fröhliche Soundkulisse (Christine Hasler) mit abgespielten sowie gesungenen Skype- und Handy-Ringtones.

it depends 2
Manche Dialoge lassen tief blicken: «Mum, du bisch hie bi dir deheim, mach doch mau, was du wosch», sagt Leonie zu ihrer alleinerziehenden Mutter. (Bild: Sibylla Walpen / zvg)

Dieser Mittelschichtsalltag ist brutal. Nicht weil der Abgrund lauert, sondern die Depression. Genauer: Die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust. Manche Dialoge lassen tief blicken: «Mum, du bisch hie bi dir deheim, mach doch mau, was du wosch», sagt Leonie zu ihrer alleinerziehenden Mutter, die kurzfristig nichts mit sich anzufangen weiss, wenn ihre Tochter sie nicht braucht. 

Wo findet das Leben statt?

Die rund 70 Zuschauer*innen sitzen dicht um diese raumeinnehmende Installation. Der Blick fällt durch die hohe Glasfront ins nächtliche Holligen-Quartier. Und der Blick wird von dort zurückgeworfen, denn das Quartier schaut mit. Ein paar Quartiergiele haben sich als Zaungäste eingefunden und schauen, was denn hier so geht. Wo findet das echte Leben statt? 

It depends. Es kommt ganz auf den Blickwinkel an. Statt den Fernseher anzuschalten, kannst du zur Zeit kurz rüber ins Holligen-Quartier und dir live für 70 Minuten eine Sozialkomödie reinziehen. «It depends» ist prima Unterhaltung für die ganze Familie und trotz der Altersempfehlung (ab 13 Jahren) auch für jüngere Kids ab 10 Jahren verständlich. 

Das Stück ist von Dienstag, 31.10. täglich bis Freitag 03.11. im PROZESS Kultur & Bar zu sehen. Tickets über https://schlachthaus.ch/

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren