«Vor euch steht ein Affe»

Kulturkritik #3 – Der Berner Dichter Jürg Halter spielt in einem Film, der seine Performances dokumentiert, die Hauptrolle: sich selber. Ist das auszuhalten?

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(Bild: Jörg Kühni, truc.ch)

Nach dem 45-minütigen Film «Haltlos» kann man sagen: Meistens schon.

In einer Sequenz sagt Jürg Halter (42) sinngemäss, dass Atmen und Sprechen für ihn praktisch gleichwertig seien. Es ist das kürzest denkbare Selbstporträt des Künstlers, der seit 20 Jahren vom Denken, Dichten und vor allem vom Sprechen lebt. Und ja, wer so viel spricht, wie er atmet, der ist weder vor Genialität noch vor Peinlichkeiten gefeit. «Nur in der Peinlichkeit erleben wir die Gegenwart», ruft Halter im Film, «nur in der Peinlichkeit sind wir nicht vorbereitet, auf das, was ist.»

Wie wahr.

«Haltlos» (Regie: Peter Guyer, Jürg Halter) besteht aus Live-Aufnahmen dreier Performances von Halter, die er 2017 vor Publikum in der Kunsthalle Bern abhielt. In der vordersten Reihe sitzt Endo Anaconda, der kürzlich verstorbene Poet und Sänger von Stiller Has. Irgendwie passt es zum Ambiente und zum mitunter schwarzen Humor, den Halter zelebriert, dass da einer sitzt, der nicht mehr hier ist. Endo amüsiert sich blendend an den sprachlichen Einfällen seines Schriftsteller-Freundes Halter.

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Wortrausch: Jürg Halter im Performance-Modus. (Bild: recycled tv)

Im experimentellen Film sind die Bilder neu montiert, zu einer rauschhaften Collage, die zwischen unterschiedlichen Ausschnitten, aber auch zwischen Schwarz-Weiss und Farbe hin- und herwechselt. Manchmal geht der Kamerablick so nahe, dass man den Speichel sieht, der sich zwischen Halters Lippen zu einem Faden aufzieht.

Dann wieder sieht man Halter, in einer Art Mönchskluft, wie er einer Besucherin das Portemonnaie aus der Tasche zieht und frei assoziiert. Wie er einem Besucher zu dessen Erheiterung den Finger in die Stirn bohrt und «den Fussel im Mund zu Wörtern formt». Wie er sich mit Pfarrersblick zu einer Besucherin setzt und sagt: «Ich mag Gluten, und du?» Er habe eine Vegan-Intoleranz, sagt er mit treuherzigem Blick durch seine Intellektuellen-Brille. Er müsse seinem Körper beibringen, Schadstoffe aufzunehmen, wenn er zukunftsfähig sein wolle.

Der Film wurde gedreht, als Donald Trump frisch US-Präsident war und die Welt sich mit islamistischem Extremismus beschäftigte. Das wirkt aus der Zeit gefallen, man würde Halter gerne hören, wie er zu Corona oder zum Krieg in der Ukraine performt. Interessierten sei an dieser Stelle Halters reich alimentierter Twitter-Kanal empfohlen.

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«Ich mag Gluten, und du?». Das ist Halter. Oder nicht? (Bild: recycled tv)

Natürlich fragt man sich während des Films, den Madeleine Corbat von der Berner Firma Recycled TV produziert hat, alle paar Minuten: Ist das jetzt unbequeme Kunst oder selbstverliebte Selbstüberhöhung, unerhörtes Mansplaining oder geistreiche Gegenwartskritik? Die Frage muss offengelassen werden.

«Wir sagen immer, wir wollen leben. Und dann planen wir alles ganz genau», sagt Halter in einem seiner rhythmischen Exkurse. Oder: «Selbstbestimmung ist, wenn ich mich selber abschaffe, bevor der Computer es tut.» Es sind Momente, in denen Halter in freier Rede die Gegenwart demontiert.

Dazwischen gefällt er sich aber auch in einer seiner bekannten Posen als Kritiker des subventionierten Kulturbetriebs, der Künstler*innen als schwarzgekleidete Menschen sieht, die Schwermut wie eine Trophäe vor sich hertragen. Ob und wie viel Selbstironie in seinem Werk steckt, das versteckt Halter auch dann gut, wenn er sagt: «Vor euch steht ein Affe. Ein dressierter Affe.»         

Aber klar: Der Film ist eine Zumutung, sinnlich und intellektuell. Halter wäre kein guter Dichter, wenn er das nicht gewollt hätte.

Vorstellungen: 5., 8., 9. und 10. April, Kino Rex, Bern.

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