Verstärkung für die Pflegebranche
Vorwissen? Braucht es nicht. Innerhalb weniger Wochen lernen Personen in Zollikofen die Grundlagen der Pflege. Der Lehrgang ist teuer – aber beliebt.
Der Schweiz fehlt es an Pflegefachkräften. Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die zwar eine Lehre in der Pflege absolvieren möchten, aus unterschiedlichen Gründen aber nicht können. Was tun? Im Kanton Bern landen diese Personen nicht selten in Zollikofen.
«Ich verstehe den Unterschied zwischen akut und chronisch nicht.» An der Bernstrasse 162 läuft der neunte Tag des Lehrgangs für Pflegehelfende. Angeboten wird dieser vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton Bern. Dozentin Carole Jäckelmann erklärt den 17 Teilnehmenden geduldig den Unterschied zwischen akut («Das ist vorübergehend.») und chronisch («Das bedeutet dauerhaft.»).
Die Gruppe ist heterogen. Trotzdem finden sich Gemeinsamkeiten. So sind die meisten Teilnehmenden am Lehrgang mittleren Alters und – mit einer einzigen Ausnahme – Frauen. Der Akzent bei der Aussprache und die Namen auf den selbstgemachten gelben Papierschildern lassen erahnen, dass die meisten Teilnehmer*innen migrantischer Herkunft sind.
Neuanfang und Wiedereinstieg
«Unser Lehrgang ist für viele Menschen ein Türöffner in den Schweizer Arbeitsmarkt», sagt Liliane Weissmüller beim Gespräch in einem Nebenraum des Unterrichtzimmers. Sie ist die Programmverantwortliche des Lehrgangs Pflegehelfende beim SRK Kanton Bern.
Gemäss Weissmüller absolvieren hauptsächlich drei soziale Gruppen den Lehrgang:
- Hausfrauen und -männer, die sich jahrelang um ihre Kinder gekümmert haben und nun nicht mehr in ihren früheren Beruf zurückkehren können oder wollen;
- Junge Menschen, die ihre Lehre aus unterschiedlichsten Gründen abbrechen mussten;
- Migrant*innen, für die eine Lehre aus finanziellen oder sprachlichen Gründen nicht in Frage kommt.
Die sprachlichen Anforderungen für den Lehrgang sind tiefer als für eine Lehre. Niveau B1 mit «guten bis sehr guten Kenntnissen» reicht aus. Wer noch schlechter Deutsch spricht, kann direkt beim SRK Sprachkurse buchen und so gezielt das Vokabular für die spätere Tätigkeit im Pflegeberuf erlernen.
Für Ahnungslose geeignet
Im Zollikofer Unterrichtszimmer schauen die Teilnehmenden inzwischen eine Dokumentation zum Thema Demenz. Darin zieht eine ältere Frau ihren linken Schuh an, nimmt den rechten in die Hand, zögert – und legt diesen wieder hin. «Was soll ich mit dem?», fragt sie ihren Mann, der resigniert daneben steht.
Situationen wie diese, bei der demente Menschen innert Sekundenbruchteilen eigentlich Selbstverständliches vergessen, wird bei einem Teil der Lehrgangsteilnehmer*innen bald Berufsalltag sein.
Der Grossteil der vom SRK ausgebildeten Pflegehelfenden arbeitet später in Alters- und Pflegeheimen. Der Fokus des Lehrgangs liegt auf der Langzeitpflege. Die Teilnehmer*innen lernen, wie sie Menschen bei der Körperpflege unterstützen oder wie sie ihnen beim An- und Ausziehen sowie beim Essen und Trinken helfen können.
Vorwissen oder gar bereits eine Anstellung braucht es für den Lehrgang nicht. Die Kosten hingegen tragen die Teilnehmenden selbst. Für die 17 Tage Theorie à total 120 Unterrichtsstunden verlangt das SRK 2‘920 Franken.
Viel Geld für Personen, die teilweise keine Lehre absolvieren können, weil sie mit einem kargen Lehrlingslohn ihre Familie nicht durchbringen würden.
«Wenn sich das jemand nicht leisten kann, finden wir eigentlich immer eine Lösung», sagt Weissmüller. Entweder helfe der Sozialdienst oder eine Stiftung übernehme die Kosten.
Seit 2012 befindet sich der Hauptsitz des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) Kanton Bern in Zollikofen. Zuvor war die Organisation mitten in der Stadt Bern zu Hause, an der Ecke Effingerstrasse/Belpstrasse. Weil es zu eng wurde, zog das SRK Kanton Bern – wie diverse andere Unternehmen auch – nach Zollikofen. Heute arbeiten rund 250 Personen am Standort an der Bernstrasse. Finanziert wird das SRK durch Spenden, Sponsoring und öffentliche Leistungsaufträge von staatlicher Seite.
Support für Frau Meier
Eine der Teilnehmenden am Lehrgang ist Regula Meier. Sie war früher als Disponentin tätig. «Dann wurde ich Mutter und Hausfrau», sagt sie. Im Pflegebereich gelang ihr vor sieben Jahren der Wiedereinstieg in die bezahlte Arbeitswelt. Für einen privaten Anbieter erledigte sie Hausbesuche bei Senior*innen. Seit August hat sie eine Stelle als Pflegeassistenz auf der Demenzabteilung des Wohn- und Pflegeheims Frienisberg. «Bedingung für den Job war jedoch der Abschluss des SRK-Lehrgangs», sagt Meier. Diesen holt sie nun in Zollikofen nach.
Meier kann dabei auf die Unterstützung ihres Arbeitgebers zählen: Das Altersheim zahlt der 61-Jährigen die Kosten für den Lehrgang. Dafür musste Meier sich für ein Jahr verpflichten. Für sie kein Problem: «Bis zu meiner Pension will ich sowieso nicht mehr die Stelle wechseln», sagt sie.
Reich werden Pflegehelfende nicht
Das Beispiel von Regula Meier zeigt, wie begehrt insbesondere Pflegeassistenzen mit erster Berufserfahrung sind. SRK-eigene Erhebungen zeigen, dass schweizweit 76 Prozent der Pflegehelfer*innen, die eine Arbeitsstelle suchen, ein Jahr nach Abschluss des Lehrgangs eine Stelle gefunden haben.
«Der bereits bestehende Mangel an Fachpersonal und der wachsende Pflegebedarf aufgrund der Zunahme an älteren Personen in unserer Gesellschaft hat für eine Aufwertung des Pflegeassistenzberufs gesorgt», sagt die SRK-Lehrgangsleiterin Liliane Weissmüller.
Die gestiegene Nachfrage hatte zuletzt erste Auswirkungen auf das Lohnniveau. So stieg dieses gemäss Weissmüller in den letzten Jahren leicht an. Heute verdient eine Pflegeassistenz im Einstiegsjahr rund 4‘100 Franken brutto. Zum Vergleich: Eine Fachangestellte Gesundheit verdient im ersten Jahr nach ihrer dreijährigen EFZ-Lehre rund 4‘500 Franken.
Abkürzung zum FaGe-Diplom
Bei den grossen bernischen Pflegeinstitutionen ist man sich einig, dass der SRK-Lehrgang «einen niederschwelligen Zugang für eine Anstellung im Gesundheitswesen bietet.» So auch bei Domicil, der grössten Altersheimgruppe im Kanton Bern: «Mitarbeiter*innen mit SRK-Zertifikat sind für die Pflege unserer Kund*innen essenziell», schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Wie viele SRK-Pflegehelfer*innen angestellt sind, gibt Domicil jedoch nicht bekannt.
«Die FaGe-E-Ausbilung ist gerade für Mütter attraktiv.»
Liliane Weissmüller, Verantwortliche SRK-Lehrgang Pflegehelfende
Unternehmen wie die Inselgruppe bieten erfahrenen Pflegeassistenzen die Möglichkeit zur beruflichen Weiterentwicklung. So kann, wer mindestens zwei Jahre als Pflegehelfer*in tätig war, die Ausbildung als Fachperson Gesundheit für Erwachsene (FaGe-E) in zwei statt drei Jahren zu absolvieren. Und das erst noch berufsbegleitend statt Vollzeit. «Diese Option ist gerade für Mütter attraktiv, da für diese eine Vollzeitausbildung meist unmöglich ist», sagt SRK-Lehrgangsverantwortliche Weissmüller.
Insgesamt starten pro Jahr im Kanton Bern rund 200 Personen mit dieser verkürzten Lehre. Ein Grossteil davon sind SRK-Pflegehelfende. Sie gehen den Ausbildungsweg weiter, der einst an der Bernstrasse 162 in Zollikofen begonnen hat.