«Unsere Beziehung hat sich nicht verändert»

Das Haus der Religionen versteht sich als Ort des interreligiösen Dialogs. Wie begegnen dort die jüdische und die muslimische Gemeinde der aktuellen Weltlage?

Gaby Knoch und Muveid Memeti fotografiert am Montag, 8. April 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Kennen sich schon lange und führen einen dauerhaften Dialog: Gaby Knoch-Mund und Muveid Memeti. (Bild: Simon Boschi)

Ein Donnerstagabend im März, die Trams am Europaplatz füllen und leeren sich im Minutentakt mit Pendler*innen. Nur ein paar Meter weiter umringt eine Menschentraube in Festtagskleidung eine Feuerschale, dazwischen das Hochzeitspaar, mitten in einer Zeremonie. Nebenan, am rechten Eingang des Hauses der Religionen, tröpfeln Gläubige langsam in die Moschee. Sie feiern keine Hochzeit, sondern treffen sich zum Fastenbrechen. Es ist Ramadan.

Zum heutigen Iftar, wie die Mahlzeit nach Sonnenuntergang während des muslimischen Fastenmonats heisst, hat der Muslimische Verein Bern auch Vertreter*innen anderer Religionen eingeladen: jüdische und alevitische. Beide Religionen kennen um diese Zeit ebenfalls Fastenrituale.

Um die 50 Menschen finden sich in der Moschee ein, oben die Frauen, unten die Männer. Die allermeisten sind Muslim*innen. Gaby Knoch-Mund von der Jüdischen Gemeinde Bern bedankt sich in einer Ansprache für die Einladung. Sie betont, wie wichtig dieser Austausch sei, «gerade in solch schwierigen Zeiten». Die jüdische und die muslimische Gemeinde hätten sich hier im Haus der Religionen «über Jahre kennengelernt und sich einander genähert», sagt danach Muveid Memeti, Präsident des Muslimischen Vereins Bern. 

Applaus, dann führt der Imam durch das Gebet. Wer nicht muslimisch ist, bleibt im hinteren Teil der Moschee sitzen. Zum anschliessenden Abendessen sind alle eingeladen.

Wie einbringen?

Das Haus der Religionen, 2014 eröffnet, vereint acht Weltreligionen unter einem Dach. Die Institution versteht sich als Ort der Begegnung und als Kompetenzzentrum für interreligiösen Dialog. Als «europaweit einzigartig» bezeichneten die Initiant*innen das Projekt.

Wie geht eine solche Institution damit um, wenn sich grässliche Kriege auch den Grenzen von Religionsgemeinschaften entlang abspielen?

Das Haus der Religionen war nach dem 7. Oktober 2023 gezwungen, sich dieser Frage zu stellen. Der Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung rief überall auf der Welt heftige Reaktionen hervor. «Die Emotionen gingen zuerst auch bei uns hoch», sagt Johannes Matyassy, Präsident des Vereins Haus der Religionen.

«Hauptsachen»-Talk mit Stefanie Mahrer

Unser Umgang mit der Situation in Nahost ist sehr aufgeheizt. Beide Seiten (pro Israel, pro Palästina) sind unerbittlich. Bei vielen Menschen entsteht ein Gefühl der Überforderung. Was ist antisemitisch, was nicht? Wer hat die Definitionsmacht? Was sind Fakten, was ist Ideologie?

Aus Angst, etwas falsch zu machen, macht und sagt man gar nichts mehr. 

Mit der Berner Geschichtsprofessorin Stefanie Mahrer reden wir über konstruktive Auswege aus dieser Überforderung. Mahrer ist Assistenzprofessorin für Neuere und Neueste Allgemeine Geschichte, sie forscht und lehrt an den Universitäten Bern und Basel zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, in Deutschland und im britischen Mandatsgebiet Palästina / Israel des 19. und 20. Jahrhunderts.

Der «Hauptsachen»-Talk mit Stefanie Mahrer findet statt am Montag, 29.4., 19.30 Uhr, auf der Kleine Bühne im Progr. Moderiert wird der Talk von «Hauptstadt»-Co-Redaktionsleiter Jürg Steiner. Der Eintritt ist frei, anmelden kann man sich hier ([email protected]), die Platzzahl ist beschränkt.

Am 17. Oktober, zehn Tage nach dem Angriff, veranstaltete die Institution eine interreligiöse Gedenkfeier. Ein Imam, ein Rabbiner, eine katholische Theologin und eine reformierte Pfarrerin betrauerten gemeinsam die Geschehnisse im Nahen Osten. Rund 300 Personen nahmen teil, Stadtpräsident Alec von Graffenried hielt eine Ansprache.

«Die Frage, ob und wie sich das Haus der Religionen nach diesen Ereignissen einbringen soll, war nicht einfach zu beantworten», sagt Johannes Matyassy. Im Vorstand des Vereins sei man sich in gewissen Punkten zuerst nicht einig gewesen. Aus den Diskussionen seien aber schliesslich neue Guidelines hervorgegangen, wie die Institution bei einschneidenden Ereignissen wie diesem zukünftig reagieren wolle. «Dieser Prozess war wichtig und lehrreich», sagt Matyassy.

Muveid Memeti fotografiert am Montag, 8. April 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
«Gefühl der Notwendigkeit»: Muveid Memeti. (Bild: Simon Boschi)

Kaum kontroverse Diskussionen gab es beim Muslimischen Verein Bern. Am Tag nach den Angriffen veröffentlichte dieser ein Statement auf seiner Website, in dem er die Attacken der Hamas scharf verurteilte und den «jüdischen Mitbürgern» sein Mitgefühl ausdrückte. «Wir haben uns das nicht lange überlegt, sondern aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus gehandelt», sagt Präsident Muveid Memeti. Er habe sehr viele positive Rückmeldungen auf das Statement erhalten.

Gaby Knoch-Mund von der Jüdischen Gemeinde Bern erzählt, Muveid Memeti und sein Bruder hätten zu den ersten Personen gehört, die sich nach den schockierenden Ereignissen bei ihr persönlich gemeldet haben. «Das war tröstend», sagt sie.

Knoch-Mund und Memeti, die beide ihre Religionsgemeinschaft im Vorstand des Hauses der Religionen vertreten, kennen sich schon lange. An interreligiösen Veranstaltungen und Podien sind sie mehrfach gemeinsam aufgetreten. Die «Hauptstadt» trifft den 28-Jährigen und die 65-Jährige zum Gespräch im Haus der Religionen.

Unveränderter Dialog

Seit dem 7. Oktober haben sich der Krieg im Nahen Osten und die Stimmung auf der Welt alles andere als beruhigt. Auch in der Schweiz häufen sich Fälle von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Wirkt sich das aus auf den Dialog zwischen Jüd*innen und Muslim*innen im Haus der Religionen?

«Wir kennen uns schon lange», sagt Gaby Knoch-Mund. Die Beziehung zwischen der jüdischen und der muslimischen Gemeinde sei über Jahre gewachsen. «Sie ist sehr gut, unkompliziert und erprobt», sagt sie. Und: «Die Beziehung hat sich aufgrund der Geschehnisse nicht verändert.»

An der Nacht der Religionen im vergangenen November etwa führten die beiden Religionsgemeinschaften eine gemeinsame Veranstaltung durch. «Viele Menschen kamen auf mich zu und sagten: ‹Super, dass ihr so etwas jetzt macht.› Sie empfanden es als starkes Zeichen», sagt Muveid Memeti. Dabei sei die Veranstaltung schon seit Sommer 2023 geplant gewesen.

Der interreligiöse Dialog zwischen den beiden Religionsgemeinschaften finde unverändert statt, sagen beide. Weder Knoch-Mund noch Memeti nehmen ein wesentlich verändertes Interesse aus ihren Gemeinden wahr. «Es ist nicht so, dass sich weniger Leute daran beteiligen – aber auch nicht mehr», sagt Memeti.

Gaby Knoch fotografiert am Montag, 8. April 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
«Interreligiöser Dialog ist eine Ergänzung»: Gaby Knoch-Mund. (Bild: Simon Boschi)

Interreligiöser Dialog sei eher ein Nischen-Interesse. «Im Vordergrund steht die eigene Religion und das Bedürfnis, diese in einer mehrheitlich christlichen oder säkularen Umgebung auszuüben. Interreligiöser Dialog ist eine Ergänzung», sagt Gaby Knoch-Mund. Längst nicht alle Gläubigen, die im Haus der Religionen verkehren, interessierten sich dafür. Auch Muveid Memeti sagt: «Viele wollen schlicht in die Moschee zum Gebet. Für zusätzliches Engagement haben sie vielleicht im Alltag gar keine Zeit. Und das ist auch völlig in Ordnung.»

Keine Lösung für alles

Wie kann der interreligiöse Dialog zu den aktuellen Herausforderungen beitragen?

«Persönliche Beziehungen haben eine starke Wirkung», sagt Muveid Memeti. Die Jüdische Gemeinde Bern und der Muslimische Verein Bern könnten auf eine stabile Basis zurückgreifen. «Wenn man einander kennt, ist es viel einfacher, Empathie zu entwickeln.» Einzelne Mitglieder von Religionsgemeinschaften, die den interreligiösen Dialog pflegten, würden automatisch zu Botschaftern, sagt Memeti. Es sei ihm selbst schon passiert, dass er etwa in Gesprächen Vorurteilen gegenüber Jüd*innen begegnet sei. «Dann kann ich sagen: ‹Das stimmt nicht. Ich rede aus Erfahrung›», sagt er.

Man dürfe den interreligiösen Dialog aber auch nicht überschätzen. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus hätten nur teilweise mit Religion zu tun. «Es ist eine Mischung aus religiösen, politischen, gesellschaftlichen und rassistischen Vorurteilen», sagt Gaby Knoch-Mund. Auch Fremdenfeindlichkeit spiele hinein.

Gaby Knoch und Muveid Memeti fotografiert am Montag, 8. April 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Das Ziel: die Stimmung beruhigen. (Bild: Simon Boschi)

Muveid Memeti plädiert dafür, den interreligiösen Dialog den aktuellen Herausforderungen auch anzupassen. «Es hilft jetzt gerade wenig, sich in die Vergleiche von religiösen Texten zu vertiefen», sagt er. Doch auch die Auseinandersetzung mit theologischen Fragen bleibe wichtig, so Gaby Knoch-Mund.

Memeti schlägt vor, dass jüdische und muslimische Geistliche etwa vermehrt Schulbesuche anbieten sollten, um den jüngsten Vorfällen von Antisemitismus an Berner Schulen zu begegnen. «Es ist wichtig, symbolisch Druck aus der aufgeheizten Stimmung zu nehmen und das Thema sachlich zu besprechen.» 

Memeti möchte diese Idee gemeinsam mit dem Berner Rabbiner Jehoschua Ahrens umsetzen. Sie ergänzt das Projekt «Likrat» des Schweizerischen Israelischen Gemeindebunds, das laut Knoch-Mund seit Jahren Begegnungen von Schulklassen mit jüdischen Jugendlichen ermöglicht. Die Vorbereitungen zum neuen Projekt laufen. «Wir wollen das aber niemandem aufzwingen und nicht belehrend wirken, etwa gegenüber Schulleitungen», sagt Memeti. Eben: Der Zweck müsse sein, die Stimmung zu beruhigen.

Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus zu begegnen, sei schlussendlich eine Aufgabe der ganzen Zivilgesellschaft, findet Memeti. «Jede Person hat eine moralische Pflicht, solchen Vorfällen etwas zu entgegnen.»

Die jüdische und die muslimische Gemeinde hätten dabei gleichläufige Interessen: «Beide sind Minderheiten, die in einer diskriminierungsfreien Gesellschaft leben wollen. Wir haben da einen gemeinsamen Nenner.»

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