Mit Walzer durch die Jahre
Von der Notwendigkeit zur Leidenschaft: Jede Woche tanzt das 82-jährige Paar Josef und Rosmarie Müller im Bärtschihus in Gümligen. Ganz alleine im grossen Saal.
Im obersten Stock des Bärtschihus in Gümligen hat es im grossen Saal Platz für bis zu 150 Personen. Ob für ein Fest, ein Konzert oder eine Versammlung. An diesem Mittwochnachmittag nutzen ihn aber nur zwei Menschen: Josef «Sepp» und Rosmarie Müller.
Die beiden sind seit 56 Jahren verheiratet, seit 40 Jahren tanzen sie und seit 20 Jahren stellt ihnen das Bärtschihus den grossen Saal als Tanzfläche zur Verfügung. «Immer dann, wenn er sonst nicht gebraucht wird», sagt Rosmarie.
Sepp Müller stellt den alten CD-Player auf den Tisch. Der Player wirkt zu klein, um den Raum laut genug mit Musik zu erfüllen, aber er ist laut genug für die beiden 82-Jährigen. Sie haben eine A4-Seite mit Choreos zu fünf Standard- und fünf Lateintänzen dabei. Das soll ihnen helfen, dass die Abfolge der getanzten Figuren immer gleich bleibt.
«Wollen wir den Tango tanzen?», fragt Rosmarie. Wenig später knistert der CD-Player, und das Paar tanzt gekonnt der Wand des Saals entlang.
Zunächst etwas unsicher, aufgrund der ungewohnten Zuschauerin, dann scheinen die beiden bald, die Augen geschlossen, durch den Raum zu fliegen. Die Schritte sind langsam und fliessend, abgestimmt aufeinander. Das Alter scheint sich im Tanz zumindest für Laien kaum bemerkbar zu machen.
Vor 40 Jahren
Alles begann in den 1980ern. Beide arbeiteten viel. Sepp bei der Ascom, Rosmarie als Lehrerin für Legasthenie und Dyskalkulie, sowie Deutsch für Fremdsprachige. Die eigenen Kinder beanspruchten Aufmerksamkeit. Für die gemeinsame Beziehung fehlte die Zeit. Als die Kinder ein paar Stunden allein sein konnten, waren sich die Müllers einig: «Wir möchten etwas Gemeinsames unternehmen!»
Rosmarie Müller erinnert sich daran, wie sie beide zunächst unsicher waren, im Alter von 40 Jahren einen Tanzkurs zu besuchen. «Also habe ich angerufen und nachgefragt und die Dame sagte mir damals, sie hätten immer wieder Paare, die in unserem Alter anfangen zu tanzen», erzählt sie. Bald schon besuchten Herr und Frau Müller jede Woche die Tanzschule Garbujo am Bahnhof Bern. Fuhren mit dem Fahrrad oder bei Regen und Schnee mit dem ÖV von Gümligen in die Stadt. Sie lernten Cha Cha Cha, Tango, Walzer und Jive. Übten zahlreiche Figuren, besuchten Tanzbälle und fanden im Tanz ein neues gemeinsames Hobby, das bis heute zu ihrem Alltag gehört.
Die legendäre Tanzschule Garbujo, gegründet im Jahr 1884 fusionierte vor einigen Jahren mit «Dance Passion» und zog an die Aare runter ans Dalmaziquai. Für die Müllers, damals bereits Mitte 70, wurde der Heimweg den Aarehang hinauf zu anstrengend, weshalb sie nach rund 30 Jahren ihre regelmässigen Tanzausflüge nach Bern beendeten.
Das Tanzen jedoch behielten sie bei. «Ich habe damals im Bärtschihus gearbeitet», erzählt Rosmarie Müller. Dort bemerkte sie, dass einige Räume frühmorgens leer standen. «Wir dachten uns: ‹Das wär doch was?›» Seither kommt das Paar jede Woche für ein bis zwei Stunden vorbei und tanzt für sich. Der grosse Vorteil: Es hat Platz.
Und den nutzen die beiden, während sie nun zu schwungvoller Walzermusik durch den Raum gleiten. «Während der Pandemie haben wir zu Hause im Wohnzimmer getanzt», erinnert sich Rosmarie. Sie hätten die Möbel zur Seite gerückt, ganz so gut habe das aber nicht funktioniert.
Fit im Kopf
Heute tanzen die Müllers, die beide seit knapp 20 Jahren pensioniert sind, nicht mehr, um gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen. Im Fokus stehe der sportliche Aspekt. Andere joggen oder walken, die Müllers tanzen. «Wenn ich schwitze, hab ich mein Ziel erreicht», lacht Sepp Müller und fügt hinzu: «Ausserdem bleibt man so im Kopf fit.»
Beim Tanzen führt der Mann, er lässt die Frau spüren, welche Figur als Nächstes folgt. Konzentration sei also wichtig, schliesslich müsse sich die Frau bei Drehungen sicher fühlen, erläutert Sepp Müller. Trotzdem: Heute passiere es ihnen manchmal, dass sie eine Figur vergessen. «Dann versuchen wir, sie zu rekonstruieren. Manchmal gelingt das, manchmal auch nicht», erzählt Rosmarie Müller.
Die Haltung und Technik sei zwar wichtig, ab und zu nehmen sie es aber trotzdem nicht so genau. Schliesslich gehe es auch um das Gefühl beim Tanzen. «Man muss sich gut konzentrieren. Aber wenn alles funktioniert, ist es fast wie Fliegen. Es ist ein schönes Gefühl, sich exakt mit der Musik zu bewegen», sagt Rosmarie Müller.
Der Walzer ist zu Ende, die beschwingte Musik hängt noch in der Luft. Während Sepp Müller abermals am CD-Player hantiert und das nächste Stück einstellt, schaukelt seine Frau ihren Rock hin und her. An diesem Mittwochnachmittag haben sie sich chic angezogen. Schwarzer Anzug und Hemd, weisse Bluse, schwarzer Seidenrock. «Üblich ist das natürlich nicht», sagen sie schmunzelnd.
Was aber dazu gehört, seien die Schuhe. Sepp Müller erklärt: «Das sind Tanzschuhe, mit feinem Leder an der Sohle.» «Chromleder», ergänzt Rosmarie. Das sei wichtig, damit man sich gut drehen kann auf dem Untergrund, mit Gummi funktioniere das nicht.
Was als Hobby begonnen hat, um Zeit miteinander zu verbringen, begeistert das Senior*innenpaar bis heute. Obwohl sie heute fast ausschliesslich privat tanzen, schliessen sie den Besuch eines Tanzballs nicht aus. Es sei ein Erlebnis sondergleichen: die schönen Kleider, der schöne Saal, die gemeinsame Leidenschaft.
Angesichts ihres Alters sind sich die Müllers zudem bewusst, dass eine einzige dumme Bewegung und die daraus möglicherweise resultierende Verletzung ihrem Hobby ein jähes Ende setzen könnte. Solange sie können, erklingt jedoch weiterhin aus dem grossen Saal im Bärtschihus der schwungvolle Dreivierteltakt eines Walzers aus dem kleinen CD-Player.